Es gab einmal eine Zeit, da war schulische Integration für alle Beteiligten, für Schüler, Eltern und Schulen, eine völlig freiwillige Sache. Eltern, die Integration wünschten, fanden – eher selten, aber immerhin gelegentlich - offene Türen. Und Schulen, die nicht wollten, mussten auch nicht. Integration war ein Gnadenakt. Seitdem von Inklusion die Rede ist und die UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland innerstaatlich geltendes Recht ist, hat sich die Stimmungslage gewandelt. So manche Schulen und Schulverwaltungen sehen sich einem rechtlich gestützten Inklusionsbegehren gegenüber; sie müssen nun, was sie möglicherweise eigentlich (noch) nicht wirklich wollen. Und die Betroffenen gehen nicht mehr betteln und Klinken putzen wie vor Zeiten, sondern fordern ihr Recht auf inklusive Bildung ein.
Das neue Recht auf Inklusion ruft nun auch jene Publizisten und Wissenschaftler auf den Plan, die bislang der Integrationsreform eher gleichgültig und desinteressiert zugesehen haben. Integration, die ganz und gar auf Freiwilligkeit gestellt war, konnte man mit einiger Gelassenheit geschehen lassen und kommentarlos zur Kenntnis nehmen. Im beginnenden Zeitalter der menschenrechtlich fundierten Inklusion hat sich die Lage allerdings geändert. Konservative sehen jetzt das Ende der Sonderschulen gekommen und ein Zeitalter der „totalen Inklusion“ - so ihre ausdrückliche Wortwahl - heraufziehen. Obwohl drei Jahre nach der Ratifikation der UN-Konvention in Deutschland (2009) weiterhin über 80 Prozent der behinderten Kinder immer noch Sonderschulen besuchen, funken die Konservativen im Lande schon mal SOS und sehen sich zu einer panikartigen Katastrophenwarnung veranlasst: „Rettet die Sonderschulen!“ – so titelte die „Frankfurter Allgemeine“ am 8. Dezember 2011 einen Beitrag von Rainer Winkel. Zur Veranschaulichung dieser absurden Dramatisierung mag folgender Vergleich dienlich sein: Der FC Bayern steht nach einer Niederlage nicht mehr auf dem ersten Platz in der Bundesliga, die Vereinspräsiden warnen aber mit hysterischer Aufgeregtheit vorsorglich vor einem Abstieg. Angesichts der überwältigenden Dominanz der Sonderschulen wie auch angesichts der immensen Probleme und Widerstände beim Aufbau eines inklusiven Schulsystems trägt jener Kassandra-Ruf „Rettet die Sonderschulen!“ Züge einer Untergangspsychose. Ob der aufgeregten Stimmung darf man zweifelnd fragen, ob dem konservativen Milieu wirklich nur an einer maßvollen Erhaltung unverzichtbarer Sondereinrichtungen gelegen ist, oder ob es um eine grundsätzliche und vollständige Erhaltung eines unveränderten Sonderschulsystems geht. Als konservativ – das sei hier zur begrifflichen Verständigung eingefügt – wird hier jene bildungspolitische Position bezeichnet, die im Wortsinne für eine „Konservierung“ des Sonderschulsystems eintritt.
Die gewandelte Diskussionslage wird am besten repräsentiert durch eine Publikation von Bernd Ahrbeck: „Umgang mit Behinderten“ (2011). Ahrbeck ist nicht gegen „ein bisschen mehr“ Inklusion, sondern gegen eine „totale Inklusion“ und gegen die Auflösung der Sonderschulen. Wie viel Sonderschule es allerdings noch weiterhin sein soll, welche Sonderschularten in welchem Umfang erhalten werden sollen, lässt Ahrbeck völlig offen. Das Buch firmiert erklärtermaßen als „Streitschrift“, der Leser muss sich also von vorneherein auf unbequeme Fragen und kritische Anmerkungen einstellen. Sein Buch fand in der konservativen Szenerie lebhafte Aufnahme, weil es sich konfrontativ mit der Inklusionspädagogik auseinandersetzt. Nicht von ungefähr hat der Hamburger Rechtsanwalt Walter Scheuerl , der Volkstribun der sog. Bürgerinitiative „Wir wollen lernen“, Ahrbeck jüngst zum wissenschaftlichen Kronzeugen gegen gemeinsames und für gegliedertes Lernen auserkoren – eine Berufung, der Ahrbeck übrigens gerne Folge leistet. Gegenstand und Anlass der folgenden Zeilen sind mehrere Beiträge von Rainer Winkel sowie von Bernd Ahrbeck in der „WELT“ und in der „Frankfurter Allgemeinen“. Ahrbeck und Winkel sind Professoren-Kollegen an der Humboldt-Universität Berlin. Die Gleichzeitigkeit inklusionskritischer Beiträge scheint nicht zufällig, sie ruft den Eindruck einer Antiinklusionskampagne hervor.
Im Zentrum der Ahrbeck’schen Kritik steht die sogenannte „Dekategorisierung“. Mit „Dekategorisierung“ ist das Bemühen der Inklusionsbefürworter gemeint, Menschen mit Behinderungen nicht mehr als „Behinderte“ zu bezeichnen und sie insbesondere nicht nach verschiedenen Behinderungsarten (Körperbehinderte, Blinde, Sprachbehinderte usw.) zu sortieren. „Radikale Inklusionsbefürworter“ fordern, „alle personenbezogenen sonderpädagogischen Förderkategorien abzuschaffen“ (Ahrbeck , FAZ 2011, 8). Die Programmatik der Dekategorisierung müsse – so rezipiert Ahrbeck den einschlägigen Diskurs – sowohl den Begriff Behinderung als auch eine weitere Differenzierung nach Behinderungsarten bzw. sogenannten sonderpädagogischen Förderschwerpunkten vermeiden.
Spätestens an dieser Stelle, bei der Abschaffung von Kategorien der Behinderung, legt Ahrbeck ein vehementes Veto ein. Dekategorisierung sei letztlich eine Realitätsverweigerung, eine „wortmagische Verleugnung von Leiden“. Wenn Behinderungen nicht mehr etwas Besonderes, vom Normalen Abweichendes sind, sondern lediglich eine Variante einer unendlichen Vielfalt menschlichen Andersseins, dann werde ihre Eigenart, ihre besondere Individualität auch nicht mehr wahrgenommen. Dekategorisierung habe die Unsichtbarkeit von Besonderheiten und Besonderungen zur Folge. Und wo die Besonderheit von Behinderten nicht mehr wahrgenommen werde, erführen diese auch keine hervorgehobene Beachtung und Aufmerksamkeit mehr. Das „Benennungsverbot“ habe schließlich fatale pädagogische Folgen für die Kinder mit Behinderungen: „Wenn Behinderung durch Begriffsentsorgung unsichtbar gemacht wird, bleiben behinderte Kinder mit ihren speziellen Bedürfnissen auf der Strecke. Die Qualität der pädagogischen Arbeit sinkt“ (Ahrbeck, 8). Mit anderen Worten: Dekategorisierung führt zu einer sträflichen (sonder)pädagogischen Vernachlässigung behinderter Kinder! Ein schwerwiegender Vorwurf an die Adresse der „radikalen“ Inklusionisten!
Im Folgenden steht nicht das gesamte Argumentationsgefüge von Ahrbeck in Rede, sondern in verkürzter Form allein seine Kritik der Dekategorisierung. Dieser Kritik wird nachhaltig mit zwei Antithesen widersprochen.
These 1: Behinderungskategorien führen nicht zu einer Individualisierung des diagnostischen und pädagogischen Handelns, sondern genau im Gegenteil zu einer deindividualisierenden Typisierung und Pauschalisierung.
Jegliche Kategorisierung ist immer auch mit einer Depersonalisierung oder Deindividualisierung verbunden. Kategorien abstrahieren von individuellen Besonderheiten und heben nur die gemeinsamen, verallgemeinerbaren Merkmale hervor. Abstraktion und Generalisierung – das ist der Sinn und die Leistung aller Kategorien, also genau das Gegenteil einer sehr individuellen Wahrnehmung und eines sehr persönlichen Umgangs. Kategorien sind nicht detailverliebt und von Natur aus völlig unsensibel für etwaige Eigentümlichkeiten. Bei kategorisierten Menschen verschwindet die ureigene Individualität hinter zugeschriebenen Merkmalen der Kategorie. „Man“ ist Angehöriger dieser Gruppe, ist Mitglied einer bekannten Kaste, fällt in eine bestimmte Schublade, wird einer bestimmten „Sorte Mensch“ zugerechnet. Kategorien interessieren sich nicht für den einzelnen Fall, den je einzigartigen Menschen. Kategorien heben im Gegenteil die Einzigartigkeit von Menschen auf; ein einziges ausgewähltes Merkmal rückt in den Mittelpunkt des Interesses und strahlt tendenziell auf die ganze Person aus („Hof-Effekt“). Kategorien sind der Anfang und das Mittel der Ausgrenzung, und zugleich auch der Anfang und der Kern aller Vorurteile, die bekanntlich ein dominantes Merkmal übergeneralisieren und sich keinen differenzierten Blick auf den je einzelnen Menschen gönnen.
Für pädagogisches Handeln sind Kategorien nur ein sehr grobes Hilfs- und Orientierungsmittel. Wenn ich einen Schüler „lernbehindert“ nenne, besitze ich nur einige vage Vermutungen über diesen Schüler: Wahrscheinlich sind seine Schulleistungen unterdurchschnittlich, vermutlich ist sein intellektuelles Potential eingeschränkt und möglicherweise entstammt er einem belasteten sozialkulturellen Milieu. Den Schüler selbst mit all seinen Facetten und persönlichen Eigentümlichkeiten kenne ich aber aufgrund der Zugehörigkeit zur Gruppe der „Lernbehinderten“ nicht. Eine individuelle Förderung, die diesen Namen verdient, kann ich auf kategorialen Informationen wohl kaum aufbauen. Pädagogik, die lediglich auf Kategorien fußt, ist eher eine unspezifische Breitband-Behandlung. Alle Schüler mit „Lernbehinderungen“ bekommen das gleiche Programm. Aber: „Das Gleiche ist nicht für alle gleich gut“, meint auch Ahrbeck. Kategoriale Pädagogik ist Schrotschuss-Pädagogik, die ungefähr die Richtung anpeilt und dabei auf ein paar Zufallstreffer hofft. Eine individualisierende Pädagogik muss dagegen die kategoriale Schublade transzendieren, sich auf den Weg zu dem je einzelnen Schüler machen und mit ihm einen persönlichen Dialog führen.
Die Texte von Winkel und Ahrbeck belegen eindrucksvoll die Deindividualisierung kategorialer Zuschreibungen. Winkel zitiert den Hallenser Erziehungswissenschaftler Andreas Hinz fälschlicherweise als Arnold Hinz. Dieser „Versprecher“ ist – psychoanalytisch gedeutet – vielsagend. Die Namensänderung demonstriert, dass der Inklusionspädagoge Andreas Hinz für Winkel nicht als ein unverwechselbares Individuum mit eigenem Namen existent ist, sondern lediglich als Mitglied der Gruppe der „Inklusionisten“. Man darf angesichts dieser Namensverwechselung wohl in Zweifel ziehen, ob Winkel den kritisierten Hallenser Pädagogen überhaupt kennt und als Autor zur Kenntnis genommen hat. Dem Anschein nach genügt Winkel die Kenntnis der Gruppenzugehörigkeit „Inklusionist“; mehr als die klassifizierende Kategorie muss man nicht wissen.
Die Konservativen tappen noch ein weiteres Mal in die Kategorisierungsfalle. Als allererste Maßnahme konstruieren sie eine neue Gruppe von Menschen: die „Inklusionisten“. Die Inklusionisten gibt es natürlich nicht wirklich, sie werden von den Konservativen zum Zwecke der kollektiven Kritik hergestellt. Wer auch immer im Inklusionsdiskurs sich jemals inklusionsfreundlich geäußert hat, wird von den konservativen Kritikern in die Gruppe der „Inklusionisten“ eingeordnet. Etwaige Unterschiede zwischen verschiedenen wissenschaftlichen Vertretern der Inklusionspädagogik fallen nicht ins Gewicht; die „Inklusionisten“ bilden eine recht homogene Gruppe, bei der es auf einige Unterschiede scheinbar nicht mehr ankommt. Kategorisierung – so ja die These – führt eben zu einer Deindividualisierung, zu einer Vernachlässigung von Unterschieden.
Bei einer differenzierten Wahrnehmung der „Inklusionisten“ müsste den konservativen Kritikern eigentlich aufgefallen sein, dass etwa die Erziehungswissenschaftler Klemm, Preuss-Lausitz und Wocken nicht für eine generelle Dekategorisierung ausnahmslos aller Behinderungsarten eintreten, sondern ausschließlich einen Verzicht auf eine klassifizierende Statusdiagnose bei den Förderschwerpunkten Lernen, Sprache und Verhalten vorschlagen. Dazu später mehr. Aber wie gesagt: Kategorien wollen von differentiellen Unterschieden nichts wissen, sondern sind von Natur aus Simplifizierer und packen unterschiedslos alle in einen Sack. Der Verfasser versteht sich selbst übrigens nicht als „Inklusionist“, sondern in aller Schlichtheit und mit notwendiger Grundsätzlichkeit als ein überzeugter Vertreter der inklusiven Pädagogik.
These 2: Kategorien sind keine harmlosen Klassifikationen, sondern vielfach mit gravierenden Stigmatisierungen verbunden.
Kategorisierungen sind zumeist auch mit Bewertungen, nicht selten mit negativen Bewertungen verbunden. Die Kategorisierung allein ist unbedenklich, die kategorialen Folgen sind dagegen vielfach höchst problematisch. Die Kategorie „Mädchen“ ist weitestgehend wertneutral. Die Kategorie „Jude“ ist bis auf den heutigen Tag vorurteilsbelastet, im Nationalsozialismus war sie tödlich. Die Kategorie „homosexuell“ ist prekär und die Kategorie „Straftäter“ legt einen Ausschluss von sozialer Teilhabe nahe. Die Kategorie „Behinderung“ ist je nach Behinderungsart mehr oder minder diskreditierend. Behinderungen gelten allgemein als unerwünscht; die Unerwünschtheit von Behinderungen ist dabei universal, sie trifft für alle Zeiten und für alle Länder dieser Erde zu (Cloerkes 2001).
Abb.: Beispiel aus der Plakataktion der Antidiskriminierungsstelle des Bundes
Entscheidend bei der kollektivierenden Kategorisierung ist nun der zweite Schritt: Die „Inklusionisten“ gelten nicht als eine harmlose Gruppe von Vertretern einer gemeinsamen erziehungswissenschaftlichen Position, nein, sondern sie werden in toto negativ bewertet und gelten als eine eher problematische „Vereinigung“ von Ideologen. Bei der abwertenden Beschreibung der „Inklusionisten“ tut sich besonders Rainer Winkel hervor. Aus dem reichhaltigen Arsenal seiner Zuschreibungen sei Folgendes zitiert: „Eiferer“, „Radikale“ und „Dogmatiker“, die einen „Hang zur Totalität“ und zur „intoleranten Einseitigkeit“ haben und natürlich von einer unstillbaren „Sehnsucht nach der Einheitsschule“ durchdrungen sind. „Inklusionisten“ wollen die „totale Inklusion“. Das ist alles O-Ton von Rainer Winkel. Bei diesen Charakterisierungen fehlt nahezu nichts, was nicht als Bürgerschreck dienlich ist. Der Zusatz „radikale“ Inklusionisten ist ärgerlich; er suggeriert, es handele sich bei den „Inklusionisten“ um eine fanatisierte Gruppe kompromissloser Dogmatiker. Auch die stetige Attribuierung „totale Inklusion“ ist unfein, weil damit eine Nähe zu totalitären Regimen und intoleranten Diktaturen hergestellt wird. Winkel will einem Gesprächspartner sogar abgelauscht haben, es gebe bereits „die ersten Opfer der fanatischen Pädagogik“. Es ist ein schauderhaftes und furchterregendes Zerrbild: „Radikale Inklusionisten“ wollen „die totale Inklusion“! Die Terminologie legt nahezu eine Observation durch den Verfassungsschutz nahe. Winkels Abhandlungen in der „WELT“ und in der „FAZ“ haben keinen rationalen, klärenden Charakter, sondern befördern in polemisierender Weise die Bildung feindlicher Lager.
Im Kontrast zur negativen Attribuierung der „Inklusionisten“ stattet sich das konservative Lager selbst vorsorglich mit dem Nimbus der Toleranz und Friedfertigkeit aus. Vor allem die „Inklusionisten“ sind für ein „vermintes Gelände“ verantwortlich. Im diskursiven Wettstreit geraten indes manche Elaborate der Konservativen zu Aufrufen zu einer Mobilmachung. Wie hatte doch Bernd Ahrbeck sehr wohltuend formuliert: „Eine Mäßigung in der Sprachwahl würde der fachlichen Auseinandersetzung gut tun.“ Rainer Winkel muss diesen Satz seines hochgelobten Kollegen an der Humboldt-Universität Berlin offensichtlich überlesen haben.
Kategorien - so wurde dargestellt - dienen der Abgrenzung. Der Schritt von der Abgrenzung zur Ausgrenzung ist dann nicht mehr weit, und die Stigmatisierung der Ausgegrenzten lässt nicht lange auf sich warten. Dass Kategorien der Aussonderung und Ausgrenzung unvermeidlich mit Diskriminierung verbunden sind und schwerwiegende Folgen für die Selbstwahrnehmung und das Selbstwertgefühl haben, ist eine Erkenntnis, die auch im konservativen Lager durchaus bekannt ist, aber scheinbar nicht so recht ernst genommen, ja banalisiert wird. Ahrbeck schreibt: „Was ist eigentlich so schlimm daran, wenn in eine Fachsprache gefasst wird, dass eine konkrete Person blind ist oder eine starke Sehbehinderung aufweist? Was ist so unerträglich an einem besonders langsamen und wenig erfolgreich lernenden Kind, dass es sich verbietet, seine Schwierigkeiten kategorial zu benennen?“ (Ahrbeck 2011, 73).
Es ist schon recht verwunderlich, wenn ein Professioneller, der sich wissenschaftlich mit Lernbehinderungen und Verhaltensstörungen befasst, sich nicht vorstellen kann, welche desaströsen Folgen diskriminierende Stigmata für die Betroffenen haben können. Eigentlich ließen sich die gestellten Fragen ganz einfach beantworten. Der Autor möge sich schlicht auf den Weg machen, zu den Jugendlichen mit Lernbehinderungen und ihren Eltern einfach hingehen und sich von ihnen über ihre Lebens- und Gefühlslage aufklären lassen. Er würde dann beispielsweise erfahren, warum Lernbehinderte nicht ein Frei- oder Fahrtenschwimmerzeugnis mit einem Stempel ihrer Sonderschule haben wollen. Ferner würde er erfahren, dass Lernbehinderte weder der Freundin noch dem Freund erzählen, dass sie jemals eine Sonderschule besucht haben. Die Betroffenen würden auch erzählen, dass sie gesellige Formen und Vereinigungen von peer groups eher meiden, wegen der allgegenwärtig drohenden Entdeckungsgefahr. Und er würde von den unsäglichen, langwierigen und regelhaft wiederkehrenden Problemen ehemaliger Sonderschüler erfahren, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen.
Für ehemalige Schüler mit Lernbehinderungen und Verhaltensstörungen kann die Lebensdevise nur sein: Sich nicht outen, die eigene Identität verstecken, die Sonderschul-Biographie vergessen und verdrängen. Die Stigmatisierung, die sie durch die Kategorisierung als Behinderte erfahren haben, ist mit Beendigung der Schulzeit nicht einfach vorbei, sondern behält ein Leben lang ihre identitätsgefährdende Kraft. Stigmata bedrohen also in massiver Weise das Kindeswohl. Das „Kindeswohl“ ist ein argumentativer Topos, auf den sich die Konservativen allzu gern, gelegentlich mit einem Alleinvertretungsanspruch, berufen. Man kann sich nur sehr schwer vorstellen, dass die Etikettierung von Schülern mit Lernbehinderungen und Verhaltensstörungen wirklich dem „Wohl des Kindes“ (BRK, Artikel 7) dient.
Kann man angesichts einer lebenslangen Wirkung diskriminierender Etikettierungen noch in aller Unschuld und Ahnungslosigkeit fragen: „Was ist schon dabei?“ Die mangelnde Sensibilität, die in dieser unbekümmerten Frage steckt, ist erschreckend. Eine gefühllose sonderpädagogische Wissenschaft ist scheinbar nicht imstande, sich empathisch in die Lebens- und Gefühlslage ihrer Klienten hineinzuversetzen. Die gedankenlose Frage „Was ist schon dabei?“ lässt auf eine Position in der wissenschaftlichen Sonderpädagogik schließen, die die Vergabe von Behinderungskategorien rundherum für unbedenklich und unschädlich hält. Sie besteht unvermindert auf dem Recht, Schüler mit Behinderungen ungefragt und ausnahmslos kategorial zu klassifizieren, auch wenn dies mit diskriminierenden Wirkungen verbunden sein sollte. Ob Behinderungsetikette diskriminierend sind, wäre aber im Lichte der Behindertenrechtskonvention einer sehr strengen Überprüfung zu unterziehen. Diskriminierung meint laut Artikel 2 der UN-Konvention „jede Unterscheidung, Ausschließung oder Beschränkung aufgrund von Behinderung, die zum Ziel oder zur Folge hat, dass das […] Genießen oder Ausüben aller Menschenrechte und Grundfreiheiten […] beeinträchtigt oder vereitelt wird“ (Kursivdruck von H.W.).
Was ist schon dabei? Bernd Ahrbeck, der ein ganzes Buch lang sich gegen Dekategorisierung gewehrt hat, bittet zu guter Letzt dann doch selbst um eine nonkategoriale Behandlung. Er bittet darum, die Vokabeln des Aussortierens, des Aussonderns und des Selektierens nicht mehr zu verwenden: „Es sind Begriffe der Ausstoßung, versehen mit einem diskreditierendem Unterton, hässliche Vokabeln, die unschöne Assoziationen hervorrufen, von Gemeinheit und Unrecht zeugen“.
„Gemeinheit“ (Ahrbeck) bei der sonderpädagogischen Kategorisierung darf man wohl definitiv ausschließen, „Unrecht“ dagegen nicht mit sicherer Gewissheit. Es darf nicht verboten und verbeten werden, nach der Rechtmäßigkeit von Kategorisierungen, Etikettierungen und Selektionen zu fragen. Der nagende Zweifel, ob Aussonderung rechtens und hilfreich ist, darf, ja muss bleiben im Interesse der Menschenrechte und Menschenwürde der Kinder.
Die Behinderungskategorien dürfen und müssen selbstverständlich bleiben, sie werden als unbedenklich oder sogar nützlich (für wen?) eingestuft. Die Kategorien der Ausgrenzung und Aussonderung dagegen sollen wegen ihrer „Hässlichkeit“ vermieden werden. Was negativ ist, soll einfach nicht mehr so benannt werden. Gegen alle Empirie beschließen die Konservativen kurzerhand, dass Etikettierungen und Sonderschulen nicht stigmatisierend sind - ein Dekret, das nicht von soziologischer Phantasie zeugt. Der Dekategorisierung wird Realitätsverweigerung vorgehalten, im eigenen Hause lässt man realitätsfernes Wunschdenken gelten. Die Konservativen messen offensichtlich mit zweierlei Maß. Die Empfehlungen der konservativen Sonderpädagogik laufen damit schlicht auf naive Kritiklosigkeit und bemäntelnden Euphemismus hinaus.
Was aber ist in Wahrheit hässlich, die Kritik der Aussonderung oder die Tatsache der Aussonderung?
Wäre wirklich alles in Ordnung, wenn nur das „hässliche“ Gerede über die Sonderschule aufhören würde? Dem Ersuchen um Entstigmatisierung aller Maßnahmen und Formen von Nicht-Inklusion kann man auch bei gutem Willen schwerlich nachkommen. Die Negativ-Bewertung von Aussonderung kann dabei nicht den „Inklusionisten“ als Verursachern angelastet werden, sie ist universal, weltweit verbreitet und stand seit Anbeginn an der Wiege der Sonderschule. Die über einhundertjährige Geschichte der Sonderpädagogik belegt zur Genüge, dass schulische Separierung immer mit negativen Konnotationen verbunden war, ob sie nun „Hilfsschulen“, „Sonderschulen“, „Förderschulen“, Schulen für XYZ-Behinderte oder neuerlich „Bildungszentren“ (Hamburg) heißen oder sich in regelmäßigen Rhythmen neue, unverbrauchte Bezeichnungen zulegen werden. Die „unschönen Assoziationen“ mag man wegwünschen, sie sind aber mit separierenden Kategorien und Einrichtungen unauflöslich verheiratet.
Die Geringschätzung von Lern-, Sprach- und Verhaltensauffälligkeiten ist in der Gesellschaft weit verbreitet. Gerade die Sonderpädagogik als „Anwalt behinderter Kinder“ ist aufgefordert, jeglicher Diskriminierung von Kindern entgegenzutreten und sie nicht leichtfertig durch formelle Begriffe und offizielle Kategorien zu unterstützen und zu legitimieren. Sonderpädagogik ist zum Anwalt der Menschenwürde von behinderten Kindern bestellt und nicht zum Vollzugsgehilfen gesellschaftlicher Zumutungen. Es ist an der Zeit, die Notwendigkeit der Klassifikation von Kindern mit Lern-, Sprach- und Verhaltensproblemen zu „Behinderten“ kritisch zu hinterfragen.
Die Frage der Dekategorisierung sollte dabei nicht pauschal mit Ja oder Nein, sondern differenziert beantwortet werden. Es kann gegenwärtig nicht um eine generelle Dekategorisierung aller Behinderungsformen gehen, aber das Mögliche, nämlich die Dekategorisierung bei Lern-, Sprach- und Verhaltensproblemen sollte schon getan werden. Bei den „speziellen“ Behinderungen (Förderschwerpunkte geistige Entwicklung, körperliche und motorische Entwicklung, Sehen, Hören und Kommunikation) ist sie derzeit – vor allem wegen der Unterstützungsleistungen nach dem Sozialgesetzbuch - nicht möglich, bei den „allgemeinen“ Behinderungen (Förderschwerpunkte Lernen, Sprache, emotionale und soziale Entwicklung) ist sie dagegen möglich und geboten.
Weil der Fluch der Kategorien aber am Ende auch die Befürworter der Separation ereilen und sie diskreditieren könnte, erflehen sie schließlich auch Dekategorisierung für sich selbst: Die Befürworter von Sonderschulen wollen nicht Aussonderer und Etikettierer genannt werden. Doch was wäre schon dabei, die Vertreter von Ausgrenzung, Aussonderung und Separierung auch beim Namen zu nennen und sie als „Exklusionisten“ oder „Separatisten“ zu kategorisieren? Nein, der wissenschaftliche Diskurs um den Aufbau eines inklusiven Schulsystems und die Konzipierung einer inklusiven Pädagogik sollte sich eher den offenen Fragen sowie alltagspraktischen Herausforderungen konstruktiv zuwenden und durchaus auch die notwendigen Kontroversen rational austragen, aber von der Bildung feindlicher Lager „Inklusionisten“ versus „Exklusionisten“ gänzlich absehen. Wiederum ein gutes Beispiel, dass es manchmal besser sein kann, auf Kategorien zu verzichten.
Ahrbeck, Bernd (2011): Vom Umgang mit Behinderten. Stuttgart (Kohlhammer)
Ahrbeck, Bernd (2011): Das Gleiche ist nicht für alle gleich gut. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 286, vom 8. Dezember 2011
Cloerkes, Günther (2001): Soziologie der Behinderten. Eine Einführung. 2. Auflage. Heidelberg: Schindele
Geyer, Christian (2011): Keine Schule für alle. In: www.faz.net/aktuell/feuileton vom 03.08.2011
Winkel, Rainer (2011): Das neue Wunschbild: alles inklusiv. Rettet die Sonderschulen! In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 286, vom 8. Dezember 2011
Winkel, Rainer (2011): Sind wir denn alle behindert? In: Die Welt, 14. November 2011, Seite 2