Simone Seitz: Eigentlich nichts Besonderes – Lehrkräfte für die inklusive Schule ausbilden

Abstract: Mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention ist die Verpflichtung zur Entwicklung inklusiver Schulen menschenrechtlich verankert. Dies impliziert Veränderungen in der universitären Ausbildung von Lehrkräften. Der Artikel erläutert zunächst kurz die Ausgangslage, benennt konkrete Implikationen für die Ausbildung von Lehrkräften für die inklusive Schule und stellt das an der Universität Bremen umgesetzte Kombi-Lehramt Inklusive Pädagogik vor. 

Stichworte: Professionalisierung, Ausbildung, Unterricht, Lehramt, Studiengang, Schule, Bremen, Kooperation

Ausgabe: 3/2011

Inhaltsverzeichnis
  1. Ausgangslage und Anforderungen
  2. Angehende Lehrkräfte auf die inklusive Schule vorbereiten
  3. Schluss
  4. Literatur

1. Ausgangslage und Anforderungen

Mit der Ratifizierung der UN-Konvention über die Rechte behinderter Menschen hat sich Deutschland zur Umstellung auf ein inklusives Erziehungs- und Bildungssystem und damit zur weiteren Entwicklung inklusiver Schulen verpflichtet (vgl. United Nations 2006, 18). Soll dies gelingen, so muss auch die universitäre Lehrer_innenbildung entsprechend reformiert werden. Die Orientierung an den Praxisanforderungen im (zukünftigen) Berufsfeld ist jedenfalls ein zentraler Qualitätsaspekt für die Curriculumentwicklung an Universitäten und die Berufsbilder und Handlungsfelder aller Lehramtsprofessionen werden sich im Umstellungsprozess auf inklusive Schulen absehbar verändern.
Zum Verständnis der anstehenden Veränderungen im Aufgabenfeld von Lehrkräften ist die gegenwärtig mit der begrifflichen Weiterentwicklung von der "Integration" zur "Inklusion" verbundene Aufmerksamkeit für die bewegliche Verschränkung und komplexe Zusammenwirkung verschiedener Dimensionen von Heterogenität wichtig (vgl. u. a. Hinz 2004; Prengel 1993; 2007). Dieser Auffassung folgend werden Dimensionen wahrgenommener Verschiedenheiten wie kulturelle Zugehörigkeit, Religion, Alter, Gender und Befähigung bzw. Behinderung auf der Basis einer anerkennenden Haltung als perspektivengebundene Konstrukte und nicht als feststehende Eigenschaft einzelner Kinder oder Gruppen von Kindern betrachtet. Aus diesen Konstrukten und ihrer diskursiven Bewertung nun können sich unterschiedliche Risiken ergeben für verhinderte Partizipation und / oder unzureichende Möglichkeiten, die eigenen Potenziale auszuschöpfen (vgl. UNESCO 2009). Hiervon ausgehend lässt sich Behinderung als Risiko für Partizipation und Herausforderung verstehen, das mit anderen Risiken zusammenwirken oder aus der Zusammenwirkung anderer Risikodimensionen erwachsen kann.
Der fachliche Blick in inklusiven Schulen gilt entsprechend nicht der Frage nach Behinderung bzw. sonderpädagogischem Förderbedarf im Sinne einer bestimmten, vermeintlich feststehenden Eigenschaft von Kindern (essentialistische Sichtweise) und deren fachgerechter „Behandlung“, sondern der Analyse von Situationen, in denen Partizipation und / oder Lern- und Entwicklungsprozesse der einzelnen Kinder durch bestimmte Barrieren bzw. deren Zusammenwirken behindert werden. Im professionellen Handeln geht es hieran anknüpfend um die Aufmerksamkeit für Barrieren, die sich Kindern stellen sowie deren Reflektion und Minimierung – und nicht um die Anpassung des einzelnen Kindes an die vorgefundenen Verhältnisse in einer Schule.
Inklusion impliziert somit einen bewussten und reflektierten Umgang mit der Heterogenität des Lernens und von Entwicklungs- bzw. Sozialisationsbedingungen insgesamt. Inklusive Praxis sollte daher mit milieu-, kultur- und geschlechtersensibler Pädagogik verknüpft gedacht werden. Diesen Perspektivenwechsel gilt es zentral in die Qualifizierung von Lehrer_innen einfließen zu lassen. Explizit erforderlich ist laut Artikel 24 der Behindertenrechtskonvention aber auch spezifischer die „Schulung von Fachkräften sowie Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen auf allen Ebenen des Bildungswesens. Diese Schulung schließt die Schärfung des Bewusstseins für Behinderungen und die Verwendung geeigneter ergänzender und alternativer Formen, Mittel und Formate der Kommunikation sowie pädagogische Verfahren und Materialien zur Unterstützung von Menschen mit Behinderungen ein“ (vgl. Netzwerk Artikel 3 2009, 19). Damit sind in der Ausbildung Entwicklungen nachzuholen, die angesichts der in den letzten vierzig Jahren gesammelten Erfahrungen in der integrativen bzw. inklusiven Schulpraxis längst angezeigt waren. Angesichts des Umstands, dass Grund- und weiterführende Schulen fortan nicht länger einzelne Schüler_innen mit der Begründung „sonderpädagogischen Förderbedarfs“ auf Sonderschulen verweisen können, ist der Veränderungsdruck auch in Verantwortlichkeit gegenüber den Absolvent_innen lehramtsbezogener Studiengänge hoch.
Entsprechend der gedanklichen Herangehensweise, Barrieren für Partizipation und Herausforderung bezogen auf alle Kinder zu minimieren und nicht einzelne Kinder an bestehende Strukturen „anzupassen“, betrifft Inklusion in der beruflichen Praxis eine Schule als Ganzes und sollte integraler Teil der Schulentwicklung sein – kein „Zusatzprogramm“. Inklusion greift damit nicht nur auf der Unterrichtsebene, sondern ist als Auftrag für Schulentwicklungsprozesse zu sehen. Für die Ausbildung bedeutet dies, dass es nicht allein in Bezug auf didaktische Fragen gezielten Qualifizierungsbedarf gibt, sondern auch Innovations- und Evaluationsaufträge im Kontext von inklusiver Schulentwicklung Beachtung finden sollten. Auch Vernetzungs- und Kooperationsaufgaben werden damit weiter zunehmen. Teamarbeit ist ein Schlüssel zu gelingender inklusiver Schulentwicklung. Daher setzen integrations- und inklusionspädagogische Konzepte seit langem auf Kooperation und „team-teaching“ von Lehrkräften für Sonderpädagogik und „Regelschullehrkräften“ (vgl. u. a. Lütje-Klose/Willenbrink 1999). Mit der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention ist deutlich impliziert, diese vorliegenden Konzepte in die Qualifizierung von Lehrkräften aufzunehmen.
Bei der Realisierung inklusiven Unterrichts geht es nicht darum, eine ansonsten unveränderte Praxis mit „sonderpädagogischen“ Maßnahmen zu begleiten.
Inklusion bedeutet einen Perspektivenwechsel von einer Schule, die Kinder, welche für den praktizierten Unterricht für ungeeignet gehalten werden, aussondert hin zu einer Schule, die Verantwortung für alle Kinder übernimmt und den Unterricht hieran ausrichtet. Gelingender inklusiver Unterricht nimmt dabei die Heterogenität von Lerngruppen gezielt in den Blick und fragt nach Möglichkeiten differenzierten und gemeinsamen Lernens. Dabei kann auf die vorliegenden inklusionsdidaktischen Konzepte zurückgegriffen werden (vgl. u. a. Feuser 1989; Wocken 1998; Seitz 2008). Weitere wichtige Anknüpfungspunkte lassen sich aber auch in verschiedenen allgemeindidaktischen und fachdidaktischen Ansätzen finden und mit diesen zusammenführen (vgl. u. a. Peschel 2006a; 2006b; Ruf et al. 2008). Ein erster entscheidender Schritt zur Entwicklung inklusiver Unterrichtsqualität besteht darin, individualisierenden Unterricht für die gesamte Lerngruppe zu entwickeln und nicht zunächst Unterricht für die „Regelkinder“, um im Anschluss nach Differenzierungen für die „besonderen“ Kinder zu fragen. Denn auf diesem Weg lassen sich die vielfältigen Lernausgangslagen und Lernweisen der Kinder nicht produktiv aufnehmen. Ertragreicher sind Strategien „natürlicher“ Differenzierung, die aus den verschiedenen Schüler_innenperspektiven entwickelt werden und dann begleitet werden. Hiervon ausgehend kann es gelingen, Möglichkeiten zum produktiven Austausch auch unter ungleichen Lerner_innen zu schaffen. Inklusiver Unterricht impliziert Raum für selbstgesteuertes Lernen auf ungleichen Wegen in sozialer Eingebundenheit (vgl. Seitz 2008). Ein entscheidender Aspekt professionellen Handelns ist es daher, bei dem gemeinsamen Hervorbringen der „Sache“ im Unterricht ko-konstruktive Prozesse unter Schüler_innen zu stärken.
Die durchaus gängige Praxis, dass eine Lehrkraft für Sonderpädagogik den Unterricht mittels äußerer Differenzierungsmaßnahmen entlastet, indem diagnostizierte Kinder aus dem Unterricht herausgenommen werden, unterläuft diese Chance und hat mit Inklusion wenig zu tun. Die Erfahrung hat gezeigt, dass solche Lösungen Negativeffekte hervorrufen, indem sie Stigmatisierungsprozesse unter Schüler_innen verstärken (vgl. Bargen et al. 2009). Schüler_innen spüren sehr genau, ob sich eine Lehrkraft für sie verantwortlich fühlt oder nicht und reagieren darauf (vgl. Pohl 2011). Allein strukturelle Veränderungen in Richtung Inklusion wie das Zusammenlegen von Gruppen erreichen keine Wirksamkeit, wenn das pädagogisch-didaktische Handeln weiterhin entlang von Schüler_innengruppen organisiert wird und nicht aufgabenorientiert. Wie also kann es gelingen, Lehrkräfte angemessen auf diese Aufgaben vorzubereiten?

2. Angehende Lehrkräfte auf die inklusive Schule vorbereiten

Die Umstellung auf ein inklusives Schulsystem kann nur gelingen, wenn es von entsprechend qualifizierten Lehrkräften „mit Leben gefüllt“ wird. Inklusive Strukturen lassen sich zwar bürokratisch verordnen, doch zeigt sich die Qualität von Inklusion in der konkreten Schulkultur. Lehrkräfte sollten also entsprechende Unterstützung erhalten, in der Ausbildung und in der Weiterqualifizierung. Ein wichtiger Grundsatz bei der Konzeption von Aus- und Fortbildungskonzepten ist darin zu sehen, dass Inklusion alle beteiligten Lehrkräfte (und weitere Professionelle) betrifft. Es griffe folglich strukturell ins Leere, etwa allein sonderpädagogische Lehramtsstudiengänge zu reformieren. Nimmt man die Verpflichtungen der Behindertenrechtskonvention ernst, so müssen alle Absolvent_innen von Lehramtsstudiengängen angemessen qualifiziert sein, um in einer inklusiven Schule unterrichten zu können. An der Universität Bremen etwa ist ab dem Wintersemester 2011/2012 für alle Lehramtsstudierenden eine Basisqualifizierung im Studienschwerpunkt Heterogenität verpflichtend, im Umfang von 15 Leistungspunkten (das entspricht 450 Zeitstunden). Dieser Schwerpunkt setzt sich interdisziplinär zusammen aus Anteilen der Interkulturellen Bildung, der Inklusiven Pädagogik und Deutsch als Zweitsprache und thematisiert insbesondere Aspekte von Intersektionalität. Solche curricularen Bausteine sind erste Schritte dahingehend, Absolvent_innen, die in der Regel aus der eigenen Lern- und Schulbiografie kaum oder gar keine „inklusive“ Erfahrungen mitbringen, ansatzweise vorzubereiten. Ob dies hinreichend ist, muss sich noch erweisen. Solche Basisqualifizierungen schließen selbstverständlich Spezialisierungen für bestimmte Aufgabenfelder nicht aus, um nicht Überforderung fest einzuprogrammieren. Gezielte und spezifische Unterstützung, wie dies die Behindertenrechtskonvention explizit vorsieht (vgl. Netzwerk Artikel 3 2009, 18), ist für das Gelingen notwendig. Vor allem Beratungsinstanzen wie Fall- und Fachberatung erlangen somit in inklusiven Schulen höhere Bedeutsamkeit und benötigen entsprechende Professionalität.
Weiterführend ist insgesamt zu fragen, ob nicht impliziert durch die UN-Behindertenrechtskonvention die Lehramtstypen grundlegend neu strukturiert werden sollten. Dies wird bildungspolitisch derzeit allerdings nur sehr zögerlich diskutiert und ist in absehbarer Zeit nicht zu erwarten (vgl. Kultusministerkonferenz 2011). Angesichts dieser Ausgangslage stellen Kombi-Lehrämter für Grundschul- (bzw. Sekundarschul-)pädagogik und Sonderpädagogik, die eine Doppelqualifizierung ermöglichen, eine vielversprechende Entwicklungsperspektive dar, bei der wertvolle Erfahrungen für weitere ausbildungsstrukturelle Entscheidungen gesammelt werden können.
Eine solche Konzeption für ein Kombi-Lehramt Inklusive Pädagogik wurde in Bremen entwickelt und wird dort seit 2008 umgesetzt (als Vorbild diente ein entsprechender Studiengang in Bielefeld). Das Lehramt Sonderpädagogik kann an der Universität Bremen seither ausschließlich als Doppelqualifizierung in Kombination mit dem grundschul- (bzw. sekundarschul)bezogenen Lehramt studiert werden.[1] Derzeit wird dies umgesetzt im Studiengang „M Ed Inklusive Pädagogik: Lehramt Sonderpädagogik“ in Kombination mit dem Lehramt an Grund- und Sekundarschulen. Zum Wintersemester 2011/2012 werden an der Universität Bremen alle Lehramtsstudiengänge neu strukturiert. Die Doppelqualifizierung wird in der Neustruktur beibehalten und umfasst dann das Lehramt Sonderpädagogik in Kombination mit dem grundschulbezogenen Lehramt. Im Unterschied zum derzeit angebotenen Masterstudiengang erstreckt sich der neue Studiengang dann über die gesamte 10-semestrige Studienzeit des Bachelor- und Masterstudiums. Für die Sekundarstufe wird aktuell ein Weiterbildungsstudiengang entwickelt, der insbesondere für die Tätigkeit als Lehrkraft für Sonderpädagogik in den neu entstandenen Oberschulen (Sekundarschulen mit Abituroption) qualifizieren soll.
Insgesamt werden mit der Studienstruktur zentrale Implikationen der UN-Behindertenrechtskonvention aufgenommen, zugleich wird auf die weit entwickelte inklusive bzw. integrative Praxis in Bremer Schulen Bezug genommen. In den geltenden Bremer Schulgesetzen von 2009 ist die Umstellung auf inklusive Schulen festgeschrieben (vgl. Senatorin für Bildung und Wissenschaft 2009). Der entsprechende Umstrukturierungsprozess zu einem inklusiven Schulsystem in Bremen soll laut Schulentwicklungsplan (vgl. Senatorin für Bildung und Wissenschaft 2008) bis 2017 abgeschlossen sein. Zu diesem Zeitpunkt sollen – bis auf zwei Ausnahmen – alle Förderzentren aufgelöst und strukturell als Zentren für Unterstützende Pädagogik (ZuP) in allgemeinbildende Schulen integriert bzw. als Regionale Beratungs- und Unterstützungszentren (REBUZ) in Beratungsinstitutionen überführt worden sein.
Das Kombi-Lehramt Inklusive Pädagogik in Bremen ermöglicht über das gesamte Studium hinweg eine Doppelqualifizierung für das Lehramt Sonderpädagogik und Grundschule (bzw. Sekundarschule). Die Studierenden brauchen erst nach dem Abschluss des Studiums entscheiden, in welchem Format sie ihr zweites Staatsexamen (Referendariat) absolvieren wollen und folglich auch, in welchem Lehramtsprofil sie späterhin beruflich tätig sein wollen. Unabhängig von der späteren Entscheidung werden sie aber in der Universität gezielt auf die Arbeit in inklusiven Schulen vorbereitet.
Dabei ermöglicht die integrierte Studienstruktur, bis in den Masterstudiengang hinein an inhaltlich sinnvollen Punkten Lehrveranstaltungen zu öffnen, sowohl für Studierende der Doppelqualifizierung als auch für Studierende mit dem Berufsziel Grundschullehramt. Dies hat sich beispielsweise in einem Seminar zur inklusiven Schulentwicklung als sehr geeignet erwiesen, um sich diskursiv und gewinnbringend mit den anstehenden Herausforderungen auseinanderzusetzen und in gemeinsame produktive Arbeitsprozesse zu kommen, denn inklusive Schulentwicklung kann nur gelingen, wenn sich alle Berufsgruppen hieran aktiv beteiligt fühlen (vgl. Booth/Ainscow 2002; Boban/Hinz 2003).
Die Studierenden der Doppelqualifizierung werden entsprechend den Vorgaben für das Grundschul­lehr­amt in zwei Unterrichtsfächern ausgebildet. Darüber hinaus werden ihnen spezifische Kenntnisse inklusiver Fachdidaktik in den Lernbereichen Mathe­matik und Deutsch vermittelt, um die notwendige Verbindung von fachlichen (content knowledge) und inklusionspädagogischen bzw. -didaktischen Kompetenzen zu unterstützen.
Neben der fachlichen Qualifizierung sind zwei der zentralen Herausforderungen der inklusiven Schule von besonderer Bedeutung und haben entsprechen­den Niederschlag in der Konzeption des Studiengangs gefunden. Eine davon ist der Kompetenzbereich „Teamarbeit, Kooperation und Beratung“. Studierende absolvieren daher ihr Forschungs- und Unterrichtspraktikum in Tandems. Sie werden so zur Erprobung der gemeinsamen Planung, Durchführung und Reflexion von Unterricht herausgefordert und dazu angeregt, flexible Rollenverteilungen im Unterrichts­­handeln zu entwickeln. Auch Forschungsaufgaben werden gemeinsam entwickelt und arbeitsteilig umgesetzt. Zusätzlich werden die Studierenden in einem weiteren Modul gezielt auf Aufgaben der Kooperation, des Team-Teachings und der Beratung in inklusiven Schulen vorbereitet, jeweils verknüpft mit Übungen.
Ein spezifisches Potenzial inklusiven Unterrichts liegt in der Verknüpfung diagnostischen und didaktischen Handelns. Daher ist ein zweites zentrales Ausbildungsfeld der Erwerb diagnostischer Kompetenzen. Dieser ist strukturell eingebunden in das Forschungs- und Unterrichtspraktikum, so dass die Studierenden die Möglichkeit erhalten, diagnostische Informationen aus Unterrichtsbeobachtungen und aus eigenem unterrichtlichen Handeln mit gezielt herbeigeführten diagnostischen (Beobachtungs-)Situationen zusammenzuführen und hieraus pädagogisch-didaktische Konsequenzen abzuleiten, die sie dann umsetzen können (vgl. Seitz/Scheidt, im Druck).
Zum derzeit noch laufenden „M Ed Inklusive Pädagogik“ wird eine Evaluationsstudie durchgeführt. Diese umfasst schriftliche Befragungen der Studierenden jeweils zu Beginn des Studiums sowie Interviews mit insgesamt 16 Studierenden aus zwei ausgewählten Kohorten kurz vor dem Abschluss des Studiums. 
Die schriftliche Befragung der Studierenden zeigte bislang deutlich, dass diese die Doppelqualifizierung sehr schätzen. Die Aussage „Ich finde es gut, mich erst nach dem Abschluss des „M Ed IP“ entscheiden zu müssen, ob ich Lehrer/in für die Grundschule oder Lehrer/in für Sonderpädagogik werde“, trifft zum Studienstart für 72,5% „voll und ganz“ zu, weitere 17,6% geben an „trifft eher zu“ (n = 53). Etwas mehr als die Hälfte der Studierenden (54,7%) gibt an, nach dem Abschluss das 2. Staatsexamen im Profil Lehramt Sonderpädagogik anzustreben. Die integrierte Studienstruktur trifft ebenfalls auf breite Zustimmung und wird in breiter Übereinkunft als „passend zu den Schulentwicklungen“ eingeschätzt („trifft eher zu“: 54,7 %;  „trifft voll und ganz zu“: 41,5 %). Ebenso große Zustimmung erhält die Frage nach der Passung der Ausbildung „zu den beruflichen Aufgaben“ („trifft eher zu“: 52,8 %;  „trifft voll und ganz zu“: 43,4 %).

3. Schluss

Die Frage nach neuen Berufsbildern angesichts der Implikationen eines inklusiven Schulsystems wird in der aktuellen Diskussion weiterhin zurückhaltend diskutiert. In Anbetracht der anstehenden und teilweise bereits umgesetzten schulstrukturellen Reformen in Richtung Inklusion stehen aber alle beteiligten Wissenschaftsdisziplinen vor der Herausforderung, in der universitären Lehrer_innenbildung neue Wege zu beschreiten und Absolvent_innen aller Lehramtsstudiengänge angemessen auf die Aufgaben in inklusiven Schulen vorzubereiten. Eine Studentin des Kombi-Lehramts sagt hierzu im Interview: „Also, es war lange Zeit so, dass ich (...) wirklich an 'ner Sonderschule unterrichten wollte. Aber jetzt durch mein Studium hat sich das schon echt verändert. Also da würd’ ich schon gerne in 'ner Kooperationsklasse oder in einer ja … inklusiven Schule gerne arbeiten.“ (Interview F, 5).
Angesichts der menschenrechtlich verankerten Verpflichtung zum Aufbau eines inklusiven Erziehungs- und Bildungssystems sollten zukünftig Modelle der Lehramtsausbildung, die für die inklusive Schule qualifizieren, eigentlich nichts Besonderes mehr sein.

 

4. Literatur

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Interview F, 5: Interview im Rahmen der Evaluation des Studiengangs „Master of Education Inklusive Pädagogik: Lehramt Sonderpädagogik in Kombination mit dem Lehramt an Grund- und Sekundarschulen“. Qualitativer Teil : Interviews mit insgesamt 16 Studierenden aus 2 Kohorten kurz vor dem Abschluss des Studiums.

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[1] Nähere Informationen unter: http://www.fb12.uni-bremen.de/de/inklusive-paedagogik/ vertikal/studium/master-inklusive-paedagogik.html.