Carmen Dorrance, Clemens Dannenbeck Die Inklusionsdiskussion in Bayern
– Stand und kritische Würdigung[1]

In Bayern befasste sich  – ein Novum in der bayerischen Parlamentsgeschichte – eine interfraktionelle Arbeitsgruppe, bestehend aus Repräsentant/-innen aller fünf im Bayerischen Landtag vertretenen Parteien[2], mit der Ausarbeitung eines Gesetzentwurfs zur Änderung des Bayerischen Gesetzes über das Erziehungs- und Unterrichtswesen – Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention im bayerischen Schulwesen (Inklusion) (BayEUG-E[3]). Dieser einstimmig verabschiedete Entwurf liegt seit 28.03.2011 als Drucksache 16/8100 vor. Es ist erklärtes Ziel, den Gesetzentwurf noch so rechtzeitig zu verabschieden, dass die geplanten Änderungen ab 1. August 2011 in Kraft treten und im kommenden Schuljahr 2011/12 zur Anwendung kommen können. Inwieweit die im Zuge der Anhörung von Sachverständigen und Interessenvertretern am 19. Mai 2011[4] erfolgten Anregungen und kritischen Stellungnahmen im Ausschuss für Bildung, Jugend und Sport diskutiert wurden und ihren Niederschlag in einer Überarbeitung des bislang vorliegenden Entwurfs finden werden, ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht öffentlich bekannt.

Bereits am 11.05.2011, also noch vor der parlamentarischen Verabschiedung des Gesetzesvorhabens, ergingen Erläuterungen und Hinweise zur Umsetzung von Inklusionsmaßnahmen an den Grund- und Haupt-/Mittelschulen im Schuljahr 2011/12[5]an die Regierungen und Staatlichen Schulämter in Bayern. Dabei wurde u.a. darüber informiert, dass „für die Integration an der Sprengelschule (...) Neuregelungen nicht erforderlich“ seien. „Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf können – wie bisher bereits – die allgemeine Schule besuchen“ (ebd. S. 2). Das Konzept der Kooperationsklassen habe sich bewährt und soll auch weiterhin angeboten werden.

Seit mehreren Jahren wird das Konzept von Außenklassen der Förderschulen an Volksschulen erfolgreich praktiziert. Art. 30a, Abs. 7, Ziffer 2 BayEUG-E bezeichnet diese Kooperationsform als Partnerklassen, in der eine Klasse der Förderschule mit einer Klasse der allgemeinen Schule zusammenarbeitet. (...) Das Konzept der Partnerklasse soll auch weiterhin praktiziert werden“ (ebd. S. 3).

Neu ist demgegenüber, dass sich Schulen auf Antrag mit einem "Schulprofil Inklusion“[6] profilieren können. Der geplante Art. 30b Abs. 3 BAyEUG-E lautet wie folgt:

„Schulen können mit Zustimmung der zuständigen Schulaufsichtsbehörden und der beteiligten Schulaufwandsträger das Schulprofil ,Inklusion' entwickeln. Eine Schule mit Schulprofil ,Inklusion' setzt auf der Grundlage eines gemeinsamen Bildungs- und Erziehungskonzepts in Unterricht und Schulleben individuelle Förderung im Rahmen des Art. 41 Abs. 1 und 5 für alle Schülerinnen und Schüler um; Art. 30a Abs. 4 bis 6 gelten entsprechend. ,Unterrichtsformen und Schulleben sowie Lernen und Erziehung sind auf die Vielfalt der Schülerinnen und Schüler mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf auszurichten. Den Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf wird in besonderem Maße Rechnung getragen‘.“

Zwar sollte in Zukunft niemandem mehr der Besuch einer Allgemeinen Schule verwehrt werden („Die inklusive Schule ist ein Ziel der Schulentwicklung aller Schulen“ – Art. 30b (1)). Die hierfür notwendigen und in der BRK angesprochenen angemessenen Vorkehrungen jedoch sind gesetzlich nicht garantiert. Ein Hinweis auf den menschenrechtlichen Begründungszusammenhang fehlt im Gesetzentwurf ebenso[7]. Stattdessen setzt man auf die Entwicklung weniger (Leuchtturm)Schulen mit dem „Schulprofil Inklusion“ (bisher sind für das kommende Schuljahr etwa 40 solcher Schulen anvisiert). In einer Pressemitteilung StMUK Nr. 132[8] hat Bayerns Kultusminister Dr. Spaenle die ersten Schulen mit dem Profil Inklusion“ bekannt gegeben. Darin heißt es:

Die Schulen mit dem besonderen Profil entbinden aber nicht die anderen Schulen in Bayern der Aufgabe, junge Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam zu unterrichten. Die Inklusion als Aufgabe haben grundsätzlich alle Schulen in Bayern.
In der Umsetzung der gemeinsamen Initiative der Parteien des Bayerischen Landtags hatte das Kultusministerium die Regierungen gebeten, in Zusammenarbeit mit den Staatlichen Schulämtern und Sonderpädagogischen Förderzentren zu prüfen, welche Schulen für die Vergabe des Schulprofils ,Inklusion‘ geeignet erscheinen. Ferner sollten sie überprüfen, an welchen dieser Schulen zudem Klassen mit festem Lehrertandem eingerichtet werden können.“

Eine regionale Verteilung nach Regierungsbezirken ist vorgesehen.
Die Arbeitsgruppe und das Kultusministerium sprechen einhellig von einem ersten Schritt in Richtung Inklusion. Allerdings ist im vorliegenden Gesetzentwurf keinerlei Zeitperspektive oder konkrete Aussage über das anvisierte Ziel der Entwicklung zu finden. Reiner Knäusl, Geschäftsführendes Vorstandsmitglied des Bayerischen Städtetages, kritisierte auf der Anhörung vom 19. Mai 2011 den Haushaltsvorbehalt:

„Weder ist zu erkennen, in welchen Schritten die Umsetzung in den nächsten Jahren erfolgen soll, noch kommt zum Ausdruck, welche personellen, finanziellen und sächlichen Ressourcen jeweils erforderlich sind“ (zit. nach Helmö 2011[9]).

Eine kritische Haltung gegenüber dem eingeschlagenen Weg, wie sie von Elternverbänden und zahlreichen anderen Interessengruppen artikuliert wird, kann sich momentan angesichts der interfraktionellen Einigkeit nur schwer Gehör verschaffen. Die Arbeitsgruppe beabsichtigt nach eigenen Aussagen auch in Zukunft zusammenzubleiben und diese Form der Zusammenarbeit weiter zu praktizieren. Skeptische und kritische Stimmen, die den eingeschlagenen Weg verstärkter Kooperation unter erklärter Beibehaltung der Parallelsysteme des Allgemeinen und des Förderschulwesens unter Ablehnung von längerem gemeinsamem Lernen hinterfragen oder zumindest nicht als Beitrag zu einer inklusiven Entwicklung sehen, finden damit kaum noch einen politischen Adressaten.

Im Gesetzentwurf zur Änderung des Bayerischen Erziehungs- und Unterrichtsgesetzes (BayEUG-E) als bayerische Antwort auf die BRK heißt es: „Inklusiver Unterricht ist die Aufgabe aller Schulen“ (Art. 2 Abs. 2, Satz 1 des BayEUG-E). Einschränkend steht jedoch in den Pädagogischen Leitlinien der Umsetzung von Inklusion in Bayern (IV.6 – S 8040.5.1 – 4a.20209)[10]:

„Die Voraussetzungen der jeweiligen Schulart müssen erfüllt sein (differenziertes Schulwesen). Davon kann nur abgesehen werden, wenn die Entwicklung des Kindes gefährdet ist, die Rechte von Mitgliedern der Schulgemeinschaft erheblich beeinträchtigt werden oder der Schulaufwandsträger wegen erheblicher Mehraufwendungen nicht zustimmt“ (ebd. S. 2).

Ferner werden „gemeinsamer Unterricht“ und „individuelle Förderung“ als Gegensätze behandelt:

„Gemäß des pädagogischen Grundsatzes, soviel gemeinsamer Unterricht wie möglich, soviel individuelle Förderung wie nötig, entsteht in diesen Begegnungen (von Partnerklassen, ehem. Außenklassen, Anm.d.V.) eine Atmosphäre der gegenseitigen Anerkennung und Wertschätzung“.

Abgesehen davon, dass letzteres kein Privileg von Partnerklassen bleiben darf, sondern unter inklusiven Verhältnissen ein kennzeichnendes Strukturmerkmal aller Schulen werden müsste, wird gemeinsamer Unterricht hier eher im Sinne des traditionellen Frontalunterrichts verstanden, während individueller Förderung die Funktion nachhelfender Stützmaßnamen zugewiesen wird. In inklusiven Verhältnissen schließen Gemeinsamer Unterricht und individuelle Förderung jedoch einander nicht aus – vielmehr erzeugt (an)erkannte Heterogenität erst die Gelegenheitsstrukturen, die geeignet sind, voneinander zu profitieren und damit individuelle Förderung ohne Exklusion zu ermöglichen. Der hierfür notwendige Paradigmenwechsel in der bayerischen Bildungspolitik zeichnet sich gegenwärtig nicht ab.

Schließlich fällt auf, dass in den pädagogischen Leitlinien konkrete Handreichungen zur inklusiven Schulentwicklung bisher lediglich in Bezug auf das geplante Schulprofil Inklusion vorgelegt werden. So gibt es praktische Hinweise zur Schulentwicklung in Richtung Inklusion allein in Bezug auf die geplanten Profilschulen. Daraus resultiert gegenwärtig ein hohes Maß an Verunsicherung an den Schulen. Ob Eltern, die ihr Kind an der Schule anmelden wollen, in die es gehen würde, wenn es keine Behinderung hätte, im kommenden Schuljahr tatsächlich in jedem Fall einen barrierefreien Zugang im inklusiven Sinne erleben – d.h. willkommen geheißen werden und Unterrichtsbedingungen vorfinden, die durch ein konzeptionelles Verständnis individueller Förderung gekennzeichnet sind – bleibt abzuwarten.

Insgesamt wird deutlich, dass – über die bestehenden Unklarheiten bzgl. der Durchführung, Finanzierung und Ressourcenausstattung hinaus – das Gesetzesvorhaben nach wie vor einer Integrationslogik verhaftet bleibt. Eine inklusive schulische Praxis wird zwar prinzipiell begrüßt – was die Ressourcen anbelangt, die in die Realisierung einer solchen Entwicklung fließen, werden aber zunächst bestenfalls besondere Schulen mit dem besonderen Schulprofil Inklusion“ bedacht. Gemeinsamer Unterricht, die Zusammenarbeit mehrerer Pädagog/-innen in einer Klasse, konzeptionell reflektierte individuelle Förderung – mit diesen Anforderungen sind Schulen ohne Schulprofil Inklusion“ weitgehend allein gelassen. Es wird befürchtet, dass diese Strategie zur Etablierung von Leuchtturmschulen beiträgt, die einer flächendeckenden Umgestaltung des bayerischen Schulsystems zu einem inklusiven Schulsystem wenig förderlich ist und zu einer neuen Form von Sonderschule“ führt. Abgesehen davon gibt es bereits Schulen, die integrative Erfahrungen haben und dennoch beim ersten Auswahlverfahren als Schule mit Inklusionsprofil keine Berücksichtigung fanden.

Angesichts der Tatsache, dass bislang kein konkreter Zeitplan und keine konkreten Absichtserklärungen seitens des Kultusministeriums über die Zielperspektiven einer inklusiven Umgestaltung des gesamten Schulsystems vorliegen, gleicht dieser deklarierte erste Schritt“ ein Tappen im Dunkeln. Eine Organisationsreform der Förderschulen (etwa Öffnung der Einrichtungen im inklusiven Sinne) ist ebenso wenig angedacht wie eine Schulstrukturreform, die längeres gemeinsames Lernen als Regelfall ermöglicht.

In einer Pressemitteilung StMUK Nr. 147 vom 07. Juli 2011[11] stellt Kultusminister Dr. Spaenle Eckpunkte für die Weiterentwicklung der Lehrerbildung vor. Darin findet sich kein unmittelbarer Hinweis zu einem konsistenten Fort- oder Weiterbildungskonzept in Sachen inklusiver Pädagogik. Wir wollen die Eignungsberatung für Studieninteressenten ausbauen, die Ausbildungsphasen stärker vernetzen und die Praktika intensiver begleiten“ heißt es, auch der Lehrereinsatz soll flexibler gestaltet werden. Grundschullehrkräfte sollen als Lotsen im Übertritt“ an Realschulen und Gymnasien verstärkt zum Einsatz kommen. Weiter heißt es in der Pressemitteilung, dass die Modularisierung der universitären Ausbildung es ermögliche, dass sich Studierende parallel auf den Erwerb der Befähigung zum Lehramt an mehreren Schularten vorbereiten.


[1]   DIe folgenden Bemerkungen erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Sie repräsentieren den Stand der bis zum 10.07.2011 öffentlich zugänglichen Informationen. Um sich einen differenzierten Überblick über die Thematik zu verschaffen, sei auf den Gesetzentwurf (Drucksache 16/8100 vom 28.03.2011, auf die regelmäßigen Pressemitteilungen der Pressestelle des StMUK (http://www.km.bayern.de/pressemitteilungen.html, am 10.07.11) sowie auf die Stellungnahmen der Sachverständigen und Interessenvertreter an der Anhörung des Ausschusses für Bildung, Jugend und Sport zum interfraktionellen Gesetzentwurf am 19. Mai 2011 verwiesen: Protokoll: http://www.bayern.landtag.de/cps/rde/xbcr/SID-0A033D45-BDBFB841/landtag/dateien/Protokoll_Anhoerung_BI_Inklusion.pdf, am 10.07.11,
Vgl. auch Katja Helmö: Gesetzentwurf zur Inklusion an Schulen: Mehr als 40 Vertreter von Verbänden und Institutionen bei Anhörung: http://www.bayern.landtag.de/cps/rde/xchg/SID-0A033D45-BDBFB841/landtag/x/-/www1/7538_7682.htm, am 10.07.11

[2]   Neben den Regierungsparteien CSU und FDP handelt es sich dabei um SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und Freie Wähler (FW)

[3]   Der Gesetzentwurf zum neuen bayerischen Schulgesetz ist online abrufbar unter folgendem Link:
http://www.bayern.landtag.de/www/ElanTextAblage_WP16/Drucksachen/Basisdrucksachen/0000005000/0000005347.pdf, am 10.07.11

[4]   Bayerischer Landtag: Gesetzentwurf zur Inklusion an Schulen: Mehr als 40 Vertreter von Verbänden und Institutionen bei Anhörung, Donnerstag, 19. Mai 2011
     http://www.bayern.landtag.de/cps/rde/xchg/SID-0A033D45-BDBFB841/landtag/x/-/www1/7538_7682.htm, am 10.07.11

[5]   Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus: Umsetzung von Inklusionsmaßnahmen an den Grund- und Haupt-/ Mittelschulen im Schuljahr 2011/12 (vom 11.05.2011) http://www.bllv.de/uploads/media/20110511_Schueler_mit_sonderpaedagogischem_Foerderbedarf_01.pdf, am 10.07.11
Vgl.: Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus: Konzept „Inklusion durch eine Vielfalt schulischer Angebote“ (KMS IV.6 - S 8040.5.1 - 4a.20209 vom 14.04.2011)
http://www.km.bayern.de/schueler/schularten/foerderschule.html, am 10.07.11

[6]   Vgl.: Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus: Konzept „Inklusion durch eine Vielfalt schulischer Angebote“ (KMS IV.6 - S 8040.5.1 - 4a.20209 vom 14.04.2011), S. 2
http://www.km.bayern.de/schueler/schularten/foerderschule.html, am 10.07.11
Vgl.: "Inklusion wird konkret: Interfraktionelle Arbeitsgruppe begrüßt Profilschulen als ersten Schritt",
http://www.bayern.landtag.de/cps/rde/xchg/SID-0A033D45-E4A50EFF/landtag/x/-/druckversion/16_7828.htm, am 10.07.11

[7]   Vgl. hierzu Köppcke-Duttler: BIldung als Menschenrecht. In: Gemeinsam leben. Zeitschrift für Inklusion, Heft 4/2011

[8]   Pressemitteilung Nr. 132 vom 28.06.2011: Bayerns Kultusminister Ludwig Spaenle gibt Schulen mit dem Profil "Inklusion" bekannt
http://www.km.bayern.de/pressemitteilung/7793/nr-132-vom-28-06-2011.html, am 10.07.11

[9]   Bayerischer Landtag: Gesetzentwurf zur Inklusion an Schulen: Mehr als 40 Vertreter von Verbänden und Institutionen bei Anhörung, Donnerstag, 19. Mai 2011
http://www.bayern.landtag.de/cps/rde/xchg/SID-0A033D45-BDBFB841/landtag/x/-/www1/7538_7682.htm, am 10.07.11

[11] Vgl.: Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus: Konzept „Inklusion durch eine Vielfalt schulischer Angebote“ (KMS IV.6 - S 8040.5.1 - 4a.20209 vom 14.04.2011)
http://www.km.bayern.de/schueler/schularten/foerderschule.html, am 10.07.11

[12] Pressemitteilunge Nr. 147 vom 07.07.2011: Kultusminister Dr. Ludwig Spaenle stellt Eckpunkte der Weiterentwicklung der Lehrerbildung vor - "Wir wollen die Eignungsberatung ausbauen und die Ausbildungsphasen stärker vernetzen"
http://www.km.bayern.de/pressemitteilung/7812/nr-147-vom-07-07-2011.html, am 10.07.11