Brigitte Schumann: Bericht zur Umsetzung der UN-BRK in NRW

Die Bilanz des Versagens unter Schwarz-Gelb

Kostbare Zeit ist politisch in NRW vertan worden, weil die schwarz-gelbe Vorgängerregierung, die bis Mai 2010 im Amt war, die UN-BRK schlicht ignorierte. Sie erging sich selbst nach der rechtswirksamen Anerkennung der Konvention nur in vagen Ankündigungen, ein irgendwie geartetes Elternwahlrecht irgendwann einführen zu wollen. Der liberale Koalitionspartner gefiel sich besonders in der Rolle des Bremsers.

Bis zur Landtagswahl versuchte das Schulministerium die Betroffenen mit einem Gesprächskreis am Runden Tisch ruhig zu stellen. Die Kompetenzzentren, die man schon lange vor dem Inkrafttreten der UN-BRK als Modellversuch eingerichtet hatte, avancierten zum Vorzeigeprojekt  für die angeblich neuen sonderpädagogischen Wege im Sinne der Konvention. Dabei war die Umwandlung von Förderschulen in Kompetenzzentren ausgelöst worden durch den Schülerrückgang, besonders  im Bereich der Förderschulen mit dem Schwerpunkt Lernen. Sie sollten durch neue erweiterte Zuständigkeiten der Prävention und Diagnostik in den allgemeinen Schulen stabilisiert werden.

Tastende Schritte von Rot-Grün

Schon vor der Wahl hatten die jetzigen Koalitionsfraktionen versprochen, die UN-Konvention vollständig umsetzen zu wollen. Dann aber kam nach der Wahl lange gar nichts in Sachen Inklusion. Erst war Regierungsbildung, dann Sommerpause und danach schien es nur das Thema „Gemeinschaftsschule“ zu geben. Besonders enttäuschend war für Elterninitiativen, dass die neue Schulform des längeren gemeinsamen Lernens nicht verpflichtet ist, Kinder mit Behinderungen aufzunehmen.

Auf der mit großer Spannung erwarteten ersten Bildungskonferenz, zu der das Ministerium im September 2010 die am Schulleben beteiligten Verbände und Organisationen eingeladen hatte, wurde das Thema Inklusion mit Verweis auf einen eigenständigen Gesprächskreis vollständig ausgeklammert. Dieser tagte dann erstmals im Dezember 2010, nachdem der Landtag sich mit den Koalitionsfraktionen und der CDU bei Enthaltung der FDP auf ein gemeinsames Vorgehen in einem Landtagsantrag verständigt hatte.

Es ist gelungen, in diesem Antrag einige wichtige Eckpunkte festzulegen, und bemerkenswerter Weise hat die CDU ihren Segen dazu gegeben. Aber dafür musste Rot-Grün einen Preis zahlen: Eltern sollen auch zukünftig die Förderschule in allen Förderschwerpunkten weiterhin wählen können.

Eckpunkte für einen Inklusionsplan auf Landesebene

Mit dem Antrag „UN-Konvention zur Inklusion in der Schule umsetzen“ hat die Landesregierung den Auftrag bekommen, einen Inklusionsplan für ein inklusives Schulsystem zu verwirklichen. Dabei sollen u.a. folgende Gesichtspunkte berücksichtigt werden:
- Anerkennung des individuellen Rechts auf inklusive Bildung für Kinder
mit Behinderungen
- Anerkennung der allgemeinen Schule als Regelförderort in Verbindung mit 
dem Wahlrecht der Eltern zwischen Regel- und Sonderbeschulung
- Einbeziehung aller Schulformen in den Prozess der inklusiven
Schulentwicklung
- Ausbau und Qualitätsverbesserungen im GU und in den integrativen  
Lerngruppen
- Fortbildungsoffensive für das pädagogische Personal. 

Der Inklusionsplan soll bis zur Sommerpause vorliegen und „den Kommunen nach Ermittlung der Kosten einen verlässlichen Ressourcen- und Zeitrahmen  geben für kommunale Inklusionspläne im Rahmen ihrer Schulentwicklungs-planung“. Eine Projektgruppe ist im Ministerium mit der Umsetzung beauftragt. Zwei Gutachten sind inzwischen in Auftrag gegeben worden; eines soll sich mit Ressourcensteuerung beschäftigen und ein anderes die Arbeit der Kompetenzzentren auswerten. Einen zeitlichen Fahrplan für schulrechtliche Änderungen als Anpassung an die UN-Konvention gibt es nicht.   

Unsichere Übergangszeit

Obwohl die UN-BRK ein individuelles Rechts auf inklusive Bildung begründet, leben alle an Schule Beteiligten in NRW in einer Übergangszeit mit Unsicherheiten. Dies gilt ganz besonders für Eltern von Kindern mit Behinderungen. Etliche Fälle von Zwangszuweisungen in NRW sind bekannt geworden, weil Eltern den gerichtlichen Klageweg gegen die Einweisung ihres Kindes in die Förderschule beschritten haben.

Im Dezember 2010 hat die Schulministerin mit der Änderung der Verwaltungsvorschriften zur sonderpädagogischen Förderung keine neue Rechtslage geschaffen, sondern eine Auslegung der geltenden rechtlichen Bestimmungen vorgenommen. Danach sind Schulaufsicht und Kommunen bis zu einer Schulrechtsänderung gehalten, dem Elternwunsch nach inklusiver Bildung im Rahmen bestehender Regelungen so weit wie möglich Rechnung zu tragen. Wo dies nicht möglich ist, müssen die Gründe umfassend dargelegt werden. Das „Soweit- wie- möglich“ ist natürlich auch an vorhandene Ressourcen gebunden. Ob die 188 Stellen, die im Nachtragshaushalt bewilligt wurden, für die Nachfrage nach gemeinsamen Lernmöglichkeiten  reichen, das weiß keiner so genau.

Elterninitiativen werten den Erlass als Beruhigungspille, die aber die fehlende  Rechtssicherheit nicht ersetzen kann. Das NRW-Bündnis „Eine Schule für alle“ kritisiert die Übergangsregelung. Unter Berufung auf die Monitoring-Stelle und auf andere renommierte Völkerrechtler sieht das Bündnis darin einen Verstoß gegen eine völkerrechtskonforme Auslegung der Menschenrechtskonvention.
Offensichtlich haben sich die Juristen im nordrhein-westfälischen Schulministerium mit der Auffassung durchgesetzt, dass die Ratifizierung der UN-Konvention durch den Bund und die Länder noch keinen einklagbaren individuellen  Rechtsanspruch auf gemeinsames Lernen begründet. Diese Rechtsposition wird leider von der Kultusministerkonferenz vorgegeben und von konservativen Kultusministern besonders vehement vertreten.

Ermöglichen: Die Perspektive für NRW unter Rot-Grün

Die rot-grüne Landesregierung hat die Politik der Ermöglichung zu ihrer bildungspolitischen Handlungsmaxime erklärt. Strukturvorgaben „von oben“ soll es nicht geben. Auf der kommunalen Ebene sollen alle am Schulleben Beteiligten „von unten“ die Möglichkeit haben, das vorhandene Schulangebot im Bereich der weiterführenden Schulen über die Gründung von Gemeinschaftsschulen neu zu ordnen.

Es ist aber jetzt schon absehbar, dass diese Politik den Weg bereitet für die  Zweigliedrigkeit, denn bestehende Gymnasien gehen nicht freiwillig unter das Dach einer Gemeinschaftsschule und auch kommunale Politik legt sich nicht mit der Gymnasiallobby am Ort an. Schulentwicklung wird zudem dem freien Spiel der politischen Kräfte in den Kreisen und kreisfreien Städten überlassen. Sie vollzieht sich im Land also extrem uneinheitlich. Im Übrigen stellt sich für manche Beobachter die Frage, warum zur Lösung der demografisch zugespitzten Schulstrukturkrise die Gemeinschaftsschule neben das Angebot der integrierten Gesamtschule gestellt wird und noch dazu günstigere Arbeitsbedingungen bekommt.   

Das Schulministerium hat die Chance, die UN-BRK mit ihrem Inklusionsgebot als Transformationswegweiser für das gesamte Schulsystem zu nutzen, nicht aufgegriffen. Der Inklusionsbegriff wurde und wird zu eng ausgelegt und nur auf die Gruppe der Menschen mit Behinderungen bezogen. Kritische Forderungen aus den Reihen des landesweiten Aktionsbündnisses „Eine Schule für alle“ und starken Elterninitiativen wurden nicht gehört. Sie hatten sich einen Einstieg in eine „inklusive Wende“ gewünscht und müssen jetzt erleben, dass die „inklusive Schulentwicklung“ völlig ohne Bezug zu anderen „Baustellen“ behandelt wird. Aus der Bildungskonferenz heraus haben sich fünf Arbeitsgruppen gebildet zu den Themen: individuelle Förderung, Gestaltung der Übergänge, Weiterentwicklung des Ganztags, eigenverantwortliche Schule in regionalen Netzwerken und Schulstruktur in Zeiten demografischen Wandels. Die Arbeitsgruppe zu Inklusion tagt absurderweise parallel dazu.
Die besondere Konstruktion, das Recht des Kindes mit Behinderung auf inklusive Bildung anzuerkennen, um es dann wieder an den Elternwillen zu binden, liegt auch auf der Linie der Ermöglichung. Alles ist möglich! Die absehbare Folge wird ein auf unbestimmte Zeit angelegtes Parallelsystem sonderpädagogischer Förderung sein. Es wird so viel Geld schlucken, dass für die notwendige und zügige Qualitätsverbesserung des gemeinsamen Lernens  im Regelschulsystem wenig bis nichts zur Verfügung stehen wird.

Die Monitoring-Stelle hat aktuell „Eckpunkte zur Verwirklichung eines inklusiven Schulsystems“ vorgelegt, die eigentlich auch ein Umdenken in NRW verlangen. Mindestens die Verquickung von Kindesrecht und Elternrecht ist  unzulässig, weil damit Inklusion als Recht des Kindes mit Behinderung nicht vollständig zur Geltung kommt, sondern von dem Willen der Eltern abhängt.  
Meine Anfrage an das MSW hat jedoch diese Hoffnung zunichte gemacht. Das Ministerium fasst die Eckpunkte lediglich als „wichtigen Impuls für die nächsten Arbeitsschritte -  nicht jedoch als verbindliche Vorgabe“ auf.  So viel zum Stellenwert. Inhaltlich sieht man sich natürlich nicht im Dissens mit der Monitoring-Stelle. Mit der Anerkennung der allgemeinen Schule als Regelförderort  folge man dem Anliegen, „dass der Auftrag, ein inklusives Bildungssystem zu entwickeln, im Vordergrund stehen muss“. Für das Ministerium gilt weiterhin der im politischen Konsens formulierte Auftrag des Landtags.
Der Landtagsantrag ist zu finden unter:
http://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMD15-680.pdf

Wichtige Materialien zum Thema sind außerdem abgelegt auf den Internetseiten:
www.eine-schule-fuer-alle.info/
www.nrw-eineschule.de