1-2023

Benjamin Haas und Meike Penkwitt: Vorwort „Intersektionalität und Inklusive Pädagogik“

Wurde das Konzept der Intersektionalität in der Inklusiven Pädagogik lange Zeit als ein relativ neues Forschungsfeld betrachtet, so ist mittlerweile festzustellen, dass sich im Zeitraum des letzten Jahrzehnts die Diskussion um den Nutzen und die Relevanz bzw. gar dessen Notwendigkeit für eine Inklusive Pädagogik intensivierte. Eine Ursache dafür ist die vermehrte Rezeption bildungsstatistischer Befunde, die auf eine Koppelung gesellschaftlicher Ungleichheitsdimensionen mit der Strukturkategorie Behinderung verweisen sowie der daraus abgeleiteten Forderung nach einem weiten bzw. breiten Inklusionsverständnis (Budde & Hummrich, 2015), das neben der Differenzkategorie Behinderung auf weitere mit dieser verschränkte Benachteiligungsdimensionen fokussiert.
In der Diskussion um die Bedeutung intersektionaler Ansätze im Kontext der erziehungswissenschaftlichen Inklusionsforschung lassen sich unterschiedliche Schwerpunktsetzungen und Stoßrichtungen erkennen. Diskutiert wird, ob Intersektionalität als umfassendes theoretisches Paradigma zu verstehen ist oder ob das Konzept vielmehr lediglich als Linse verwendet werden sollte, um für die Gleichzeitigkeit mehrerer Ungleichheitsdimensionen zu sensibilisieren. Eine weitere Herangehensweise besteht darin, Intersektionalität, z.B. im Anschluss an Winker und Degele (2009) als eine Analysemethode zu verstehen. Darüber hinaus stellt sich die Frage, inwiefern es sich um eine politische und praktische Form der Intervention handelt oder auch, wie ein intersektionaler Analyserahmen zu konzipieren und die Strukturkategorie Behinderung in diesen einzubinden ist. Die Diskussion scheint dabei teilweise von disziplinären Logiken unterschiedlicher Teilbereichspädagogiken beeinflusst zu sein, was die Gefahr mit sich bringt, jeweils spezifische Differenzkategorien zu favorisieren. Auffällig ist zudem, dass weitaus häufiger auf die Bedeutung intersektionaler Verschränkungen hingewiesen wird, als dass das Konzept der Intersektionalität tatsächlich als empirischer Analyserahmen genutzt wird.
Vor dem Hintergrund dieses Diskursstandes haben wir uns als Herausgeber:innen dazu entschieden, in dieser Ausgabe zu diskutieren, wie das Konzept der Intersektionalität in das Feld erziehungswissenschaftlicher Inklusionsforschung integriert und sowohl theoretisch wie empirisch als auch praktisch nutzbar gemacht werden kann. Die Ausgabe ist deshalb in die Rubriken programmatisch, theoretisch, empirisch und praktisch untergliedert, wovon wir uns erhoffen, den Mehrwert intersektionaler Perspektiven für das Feld der Inklusiven Pädagogik differenziert herausstellen zu können. Um eine einseitige Fokussierung auf die Kategorie Behinderung zu vermeiden, haben wir gezielt Autor:innen angeschrieben, deren Fokus auf unterschiedlichen Differenzlinien liegt.

Kurzbeschreibung der Beiträge

Ausgehend von einer definitorischen Annäherung an den Terminus ‚Intersektionalität‘, thematisiert Meike Penkwitt in der Einleitung zunächst den Entstehungskontext des Konzepts und geht dabei auch auf Crenshaws (1989) oft zitierte Metapher der Straßenkreuzung ein. Im Anschluss rekonstruiert sie die transatlantischen und transdisziplinären Reise des Konzeptes sowie dessen Diskussion in inklusions- und sonderpädagogischen deutschsprachigen Fachzeitschriften. Dabei legt sie den Fokus auf eine Reihe zentraler Punkte in der Diskussion um ‚Intersektionalität und Inklusion‘ und arbeitet schließlich den Mehrwert des Konzepts Intersektionalität für die Inklusionsdebatte heraus.

In der ersten mit Programmatik überschriebenen Rubrik finden sich Beiträge, in denen der Nutzen der Verbindung von Intersektionalität und Inklusiver Pädagogik diskutiert wird.
Christian Lindmeier geht in seinem Beitrag ebenfalls dem Einwandern des ‚Travelling Concepts‘ der Intersektionalität in die deutschsprachige Sonder- und Inklusionspädagogik nach. Ausgehend von der Differenzierung in a) einen intersektionalen Analyserahmen, b) ein theoretisch-methodologisches Paradigma und c) politische Interventionen fokussiert er auf die Diskussion des Nutzens dieser theoretischen Perspektive für inklusions- und sonderpädagogische Fragestellungen. Auf diese Weise wird die Notwendigkeit herausgestellt, Behinderung als intersektionalen Analysegegenstand zu konzipieren und im Sinne der kritischen Ungleichheitsforschung als Basis für eine differenztheoretische Reflexion zu verwenden.
Im zweiten programmatischen Beitrag arbeitet Mai-Anh Boger heraus, dass eine programmatische Verbindung der Terme Inklusion und Intersektionalität stets ihr Ziel verfehle. Denn dabei bestehe die Gefahr, dass sich schnell Kategorienfehler, schräge Vergleiche oder auch Ebenenvermischungen einschlichen. Eine Ursache dafür liege in der Vielgestaltigkeit und Komplexität der beiden Terme. Zur Veranschaulichung diskutiert Boger vier Charakterisierungen mit denen Dietze, Haschemi Yekani und Michaelis (2007) das Verhältnis von Intersektionalität und Queer zu bestimmen versuchen: „Ansätze“, „(korrektive) Methodologie“, „Theoriekorpus“ bzw. Diskursfeld sowie „Intersektionalisierung“ (analog dem Prozess des ‚Queerens‘). Mit Ausnahme des zweiten Annäherungsversuchs erteilt Boger den unterschiedlichen Charakterisierungen letztlich eine Absage und spricht sich auch bei dieser für eine bescheidenere Herangehensweise aus: Am produktivsten sei es, Intersektionalität nicht als umfassende Methodologie sondern vielmehr als ein Set von (Korrektur-)Linsen mit dem Zweck einer Sensibilisierung für die Gleichzeitigkeit mehrerer Unterdrückungssysteme zu verstehen. Das Potential des Konzepts Intersektionalität besteht laut Boger in der Fokussierung ganz konkreter Intersektionen und deren Sichtbarmachung in konkreten kleinteiligen Analysen mit dem Ziel der Überwindung der „intersectional invisibility“, wie sie Beispielsweise schon von Schildmann (u.a. 2011) (teilweise auch gemeinsam mit Schramm und auch Libuda Köster (u.a. 2018) und Amirpur (2013) als Wegbereiter:innen vorliegen, einem (mit Bogers Worten) bisher noch „kleinen Feldchen“ oder auch „bescheidenen Acker“. Genauso wie auch in der Praxis gehe es darum, ‚mit dem Schwersten zu beginnen‘.

Auf diese ersten beiden programmatischen Aufsätzen folgen zwei Beiträge in denen die Konzepte der Intersektionalität und Inklusion aus theoretischer und methodologischer Perspektive diskutiert werden.
Ausgehend von einer differenzierten Diskussion der drei von Crenshaw (1989) an den Anfang der Diskussion um den Terminus Intersektionalität gestellten Gerichtsfälle und unter wiederholter Bezugnahme auf Sojornour Truths (auch schon mit dem Aufsatztitel aufgerufenen) Diktum „Ain’t I a Women?“ (1853) reflektieren Alessandro Barberi, Gertraud Kremsner und Michelle Proyer Probleme der Kategorisierung. Über die Frage, wer für wen was wann wie sprechen darf, schlagen sie dabei einen Bogen zu feministischen Standpunkttheorien. Als ein weiterführendes theoretisches Konzept stellen sie schließlich die auf Hill Collins zurückgehende ‚Matrix of Domination‘ vor, deren Erklärungspotential im deutschsprachigen Kontext bisher noch wenig genutzt wird. Zentral in ihren Ausführungen ist dabei die Bedeutung der zwischenzeitlich vernachlässigten Kategorie class.

Ebenfalls mit einer theoretischen Orientierung untersuchen Tobias Buchner und Yaliz Akbaba die wechselseitige Durchdringung rassistischer und ableistischer Ordnungen und Codierungen anhand einer Integrationskampagne des Deutschen Fußballbundes. Im Anschluss an die Dis:ability Critical Race Studies (DisCrit) stellen die Autor:innen mittels einer diskursanalytisch inspirierten Bildanalyse einen Mehrwert intersektionaler Analysen heraus, der im deutschsprachigen Kontext aufgrund einer Fokussierung auf negative Verstärkungen unterschiedlicher Differenzlinien bisher wenig beachtet ist. Dieser liegt in der Betrachtung von Überlagerungen sowie der Fluidität und Kontingenz des Verhältnisses unterschiedlicher Differenzordnungen und markiert damit das Wirksamwerden intersektionaler Benachteiligungen in situ.

Für die Rubrik Empirie haben wir, trotz vielfaltiger Anfragen und auch weiterer zwischenzeitlicher Zusagen, letztlich nur einen Text erhalten. In diesem beleuchtet Hendrik Richter das Verhältnis von Männlichkeit, Klassen- und ethnischer Zugehörigkeit mit der Strukturkategorie Behinderung anhand Figurierungen von Gefährlichkeit von Schülern mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf. Empirisch rekonstruiert wird dies anhand kultur- und schulethnographischer Beobachtungen, die in einer österreichischen Großstadt an einer Schule ‚in schwieriger Lage‘ erhoben wurden. Durch seine Fokussierung auf das interdependente Verhältnis der Ungleichheitsdimensionen zeigt sich eine spezifische Verwobenheit und ein komplexes Verhältnis von Behinderung, Klasse, Geschlecht und ethnischer Zugehörigkeit, die von den beobachteten Schülern auf unterschiedliche Weise inszeniert werden und damit ausgehend von strukturellen Exklusionserfahrungen je spezifische Ankerpunkte für Subjektivierungsprozesse bilden.

Im Abschnitt intersektionale Perspektiven auf pädagogische Praktiken stellt Nils Katz anhand einer Collage aus O-Tönen von Schüler:innen aus Neukölln das partizipative Projekt related vor. Durch eine Kooperation von Lehrer:innen und betroffenen Schüler:innen wurden in diesem Projekt Workshops für Lehramtsstudierende entwickelt, um im Sinne einer reflexiven Inklusion für intersektional verwobene Diskriminierungen von Schüler:innen zu sensibilisieren. Verfolgt wird damit eine politisch-praktische Intervention, da den in der Regel nicht gehörten Stimmen der beteiligten Schüler:innen Verhör verschafft wird und diese als Expert:innen für ihre Stadtteile und Schulen fungieren. Die beteiligten Schüler:innen erhalten damit die Möglichkeit, intersektional verwobene Benachteiligungsmuster und Diskriminierungserfahrungen innerhalb der bestehenden schulischen Ordnung zu problematisieren.
Beim zweiten Text in der Rubrik Praxis handelt es sich um ein Interview von Lena Staab mit Francis Seeck. Seeck ist Kulturanthropolog:in, Geschlechterforscher:in und Antidiskriminierungstrainer:in. Staab befragt Seeck zur praktischen Antidiskriminierungsarbeit und der Rolle, die dabei theoretische Konzepte, insbesondere Intersektionalität spielen. Seeck berichtet davon, dass das bisher oft vernachlässigte Thema ‚Klassismus‘ einen ganz zentralen Arbeitsschwerpunkt darstelle. Bezüglich des Konzepts Intersektionalität hebt Seeck hervor, dass es wichtig sei, die unterschiedlichen Ungleichheitskategorien sowohl separat als auch in ihrer Verschränktheit zu betrachten. Weitere Anknüpfungspunkte des Interviews sind Themen, die sich zwischen Seecks aktuellem Projekt „Antipsychiatrie und Stadt“ und den Forschungsfeldern Disability Studies und Mad Studies ergeben, außerdem die trans und nicht-binäre Sorgearbeit, mit der sich Seeck im Rahmen einer Dissertation beschäftigt hat.

Wir wünschen allen Leser:innen eine anregende Lektüre und hoffen mit der Ausgabe, die Relevanz des Themas Intersektionalität unterstreichen und dessen Mehrwert im Kontext der Inklusiven Pädagogik herausstellen zu können, nicht zuletzt um damit weitere kritische Analysen zu den kontingenten Wechselwirkungen zwischen race, class, gender, ability und weiteren Ungleichheitsdimensionen motivieren zu können.
Abschließend möchten wir uns bei allen Autor:innen und den Gutachter:innen herzlichst für die angenehme und produktive Zusammenarbeit bedanken.

Benjamin Haas und Meike Penkwitt

Email-Adressen der Autor/-innen: b.haas@em.uni-frankfurt.de, meike.penkwitt@paedagogik.uni-halle.de
Weitere Angaben zu den Autor/-innen:
Benjamin Haas, Dr. phil, Postdoc am Institut für Sonderpädagogik der Goethe Universität Frankfurt am Main, Arbeitsbereich Inklusionsforschung.
Meike Penkwitt, Dr. phil, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Arbeitsbereich IEBES (Inklusion und Exklusion in Bildung Erziehung und Sozialisation) am Institut für Rehabilitationspädagogik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

 

Literatur

Amirpur, D. (2013). Behinderung und Migration – eine intersektionale Analyse im Kontext inklusiver Frühpädagogik. München: DJI.
Budde, J. & Hummrich, M. (2015). Intersektionalität und reflexive Inklusion. Sonderpädagogische Förderung heute, 60. Jg., H. 2, 165-175.
Crenshaw, K. (1989). Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Theory and Antiracist Politics. University of Chicago Legal Forum, Vol. 1989. Issue 1, S. 139–167.
Dietze, G., Haschemi Yekani, E. & Michaelis, B. (2007). ‚Checks and Balances’ – Zum Verhältnis von Intersektionalität und Queer Theory. In K. Walgenbach; G. Dietze; A. Hornscheidt & K. Palm (Hrsg.), Gender als interdependente Kategorie – Neue Perspektiven auf Intersektionalität, Diversität und Heterogenität (S. 107-139). Opladen: Barbara Budrich-Verlag.
Winker, G. & Degele, N. (2009). Zur Analyse sozialer Ungleichheiten. Bielefeld: transcript.
Schildmann, U. (2011). Verhältnisse zwischen Geschlecht, Behinderung und Alter/Lebensabschnitten als intersektionelle Forschungsperspektive. Journal Netzwerk Frauen- und Geschlechterforschung NRW, 29, 13-15.
Schildmann, U., Schramme, S. & Libuda-Köster (2018). Die Kategorie Behinderung in der Intersektionalitätsforschung – Theoretische Grundlagen und empirische Befunde. Bochum/Freiburg: Projekt-Verlag.

Veröffentlicht: 19.02.2023