2-2017

Sehr geehrte Leserinnen und Leser,

mit der Ausgabe 2/2016 von Inklusion-Online haben wir damit begonnen, ein Zwischenresümee zum Stand der politischen Diskussion und praktischen Umsetzung schulischer Inklusionsprozesse im deutschsprachigen Raum zu ziehen. Den Anfang machten dabei kritische Sachstandsberichte aus Baden-Württemberg, Bayern, Mecklenburg-Vorpommern, Sachen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Dieser Blick erfährt nun in dieser Ausgabe durch die Perspektiven aus Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein und dem Saarland eine Fortsetzung. Darüber hinaus enthält die Ausgabe eine Betrachtung schulischer Inklusion in der Schweiz. Ergänzt wird das Schwerpunktthema durch frei eingereichte Beiträge zu spezifischen inklusionstheoretischen Aspekten.
Am Anfang werfen Stefanie Bosse und Jennifer Lambrecht einen Blick auf die Entwicklungen in Brandenburg von der Wende über die FLEX-Einführung bis zum gegenwärtigen Pilotprojekt PING und den Veränderungen in der Lehrerinnenbildung.

Rolf Werning und Sören Thoms schließen sich an mit kritischen Anmerkungen zum Stand des Umgangs mit Forderungen der UN-Behindertenrechtskonvention im Schulsystem des Landes Niedersachsen. Welche rechtlichen Anpassungsprozesse haben hierbei zu welcher Art von Veränderungen beigetragen und wie lassen sich Förder- und Integrationsquoten inzwischen statistisch abbilden? Ebenso wird ein Blick auf Reformen im Bereich der Aus-, Fort- und Weiterbildung von Lehrkräften geworfen. Niedersachsen hat seit dem Schuljahr 2013/2014 dem Gesetz nach inklusive Schulen. Im Zuge dessen wurden Förderschulen in Förderzentren umgewandelt und die Aufgaben und Rollen von Sonderpädagoginnen und –pädagogen erfuhren eine entsprechende Modifikation.

Birgit Lütje-Klose, Phillip Neumann und Bettina Streese ziehen für Nordrhein-Westfalen Bilanz nach sieben Jahren ratifizierter UN-BRK. Ziel der seit 2010 bestehenden rot-grünen Landesregierung ist es (schul-)gesetzliche Veränderungen auf den Weg zu bringen, die die Dominanz der exklusiven Beschulung von Kindern und Jugendlichen mit sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfen überwinden. Gewürdigt werden die finanziellen, konzeptionellen und gesetzgeberischen Maßnahmen. Die Autor*innen machen jedoch auf zahlreiche Rekontextualisierungsprozesse im Entwicklungsverlauf aufmerksam, die strukturell-oragnisatorisch dür die einzelne Schule, wie auf der Ebene des Unterrichts spürbar werden. “Dem Land ist letztlich Mut zu wünschen für politische Beschlüsse, die Doppelstrukturen abbauen und einen gezielteren Einsatz der finanziellen und personellen Ressourcen ermöglichen würden”.

David Scheer und Désirée Laubenstein  von der Universität Paderborn sowie Christian Lindmeier, Kirsten Guthöhrlein und Dirk Sponholz von der Universität Koblenz-Landau betrachten die Situation in Rheinland-Pfalz. Sie machen einleitend darauf aufmerksam, dass Ländervergleiche immer eine Reflexion der jeweils unterschiedlichen Interpretationen von Inklusion zum Ausgangspunkt haben müssen und politische, gesetzgeberische oder strukturelle Entwicklungen immer im Lichte der jeweils zugrunde gelegten Auffassung von Inklusion interpretiert gehören. Für Rheinland-Pfalz konstatieren die Autor*innen ein Inklusionsverständnis, das sich primär auf die Differenzkategorie Behinderung fokussiert. Unter Würdigung der frühen Verdienste des Landes um Umsetzungsmaßnahmen, ziehen Die Autor*innen eine kritische Bilanz, wonach die „Erfolge der Schwerpunktschulen sehr differenziert betrachtet werden müssen, weswegen eine Kurzfassung der Ergebnisse aus der Begleitforschung kaum möglich erscheint“. Noch kaum in Angriff genommen ist die Reform von Aus-, Fort- und Weiterbildung von Lehrkräften. Das Ende 2015 verabschiedete Gesetz zur Stärkung inklusiver Kompetenzen von Lehrkräften stellt dabei einen ersten Schritt dar, dessen Auswirkungen jedoch dringend systematisch wissenschaftlich begleitete gehören.

Robert Kruschel und Christine Pluhar beschreiben für Schleswig-Holstein die lange und dabei zugleich kontinuierliche bildungspolitische Entwicklung in Richtung eines integrativeren und inklusionsorientierten Schulsystems. Die Autor*innen wählen ein empirisch-beschreibendes Vorgehen und stellen die konkreten Maßnahmen und dadurch ausgelösten Veränderungen im Land dar. Dabei orientieren sie sich am Maßstab der UN-BRK, der in Art. 24 sowohl ein inklusives BIldungssystem für alle Menschen als auch angemessene Vorkehrungen für Menschen, die als behindert adressiert und damit in besonderer Weise Teilhabebarrieren ausgesetzt sein können, vorsieht. Der eingeschlagene Blickwinkel gewinnt einen besonderen Reiz durch den unterschiedlichen Erfahrungshintergrund der beiden Autor*innen, der zum einen eine inklusionstheoretische und zum anderen eine bildungspolitische Perspektive in Schleswig-Holstein aufeinander bezieht.

Irmtraud Schnell skizziert die Situation im Saarland rückblickend und rekonstruiert ihre Geschichte. Im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit stehen neben den jungen Menschen mit Behinderung die jeweiligen politischen Akteur*innen und die beteiligten Organisationen. Herausgearbeitet werden die treibenden und bremsenden Kräfte, die zu einer in sich widersprüchlichen und ambivalenten Entwicklung geführt haben. Auch die Rolle der Wissenschaft und ihre Verantwortung gerät dabei in den Blick.

Bruno Achermann und seine Kolleg*innen Sandra Däppen aus den Kantonen Basel-Stadt und Basel-Land, Caroline Sahli-Lozano vom Kanton Bern sowie Alois Buholzer und Fabienne Hubmann vom Kanton Luzern beleuchten die Situation in der Schweiz. Dabei sind auf nationaler Ebene regional unterschiedliche Entwicklungen festzustellen, die einen internationalen Ländervergleich schwierig erscheinen lassen. Die je besonderen strukturellen Rahmenbedingungen der Bildungssysteme mit ihren spezifischen Herausforderungen werden für die Kantone Basel-Stadt, Basel-Land, Bern und Luzern jeweils gesondert zusammenfassend dargestellt. Ebenso eingegangen wird auf besonders hervorzuhebende Beispiele sowie auf Aspekte der Lehrer*innenausbildung.

Tanja Sturm, Mathias Weibel und Sandra Wlodarczyk stellen ein Simulationsspiel vor, das im Rahmen des Lehramtsstudiums Wege eröffnen soll, die zukünftige eigene professionelle Rolle hinsichtlich ihrer ungleichheitsreproduzierenden Funktion zu reflektieren. Soziologische Grundlagen sollen dabei bereits in einer frühen Phase des Lehramtsstudiengangs vermittelt werden. Das entwickelte Simulationsspiel hat zum Ziel, den Studierenden einen konkreten Zugang zu Bourdieus Überlegungen zur Reproduktion sozialer Ungleichheit durch Schule und Unterrichtspraxis zu ermöglichen. Der Beitrag stellt den methodischen Ansatz dar, ergänzt um Erfahrungen von Studierenden und Lehrenden und zieht Schlussfolgerungen hinsichtlich der Möglichkeiten und Grenzen des hochschuldidaktischen Mediums.

Als weitere Themenschwerpunkte der folgenden Ausgaben sind geplant:

Raum und Räumlichkeit

 

Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre.

Carmen Dorrance und Clemens Dannenbeck
für die Redaktion von Inklusion-Online

Veröffentlicht: 20.05.2017