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  • 4-2023

    Partizipationsprozesse in Hochschulprojekten (im Kontext kultureller Bildung) – Zeitschrift für Inklusion 4/2023

    Liebe Leser*innen von Inklusion-Online,
    dieses Themenheft nimmt sich die Überlegung zum Ausgangspunkt, wie Studienfächer und Hochschulstrukturen gestaltet sein müssen, damit inklusive Bildung zum gelebten Gegenstand von Pädagogik-Studiengängen (Lehrer*innenbildung ebenso wie außerschulische Pädagogik) wird. Der Blick in die aktuelle Bildungslandschaft zeigt, dass es eine Reihe von Projekten und Erfahrungen in Hochschulprojekten gibt, die im Kern die Zusammenarbeit von Personen mit und ohne Behinderungserfahrung und damit die Frage nach der Gestaltung von Partizipationsräumen in Hochschulen ins Zentrum inklusionsorientierter Bildung rücken. Einen Teil dieser Projekte wollen wir in dieser Ausgabe versammeln und hinsichtlich der in ihren Kontexten stattfindenden Partizipationsprozesse beleuchten.
    Die Heterogenität von Lerngruppen (mit und ohne Hochschulzugangsberechtigung, Heterogenität von Sprach- und Kulturräumen, Heterogenität von Bildungs- und Kommunikationserfahrungen, Heterogenität von beruflicher bzw. professionsbezogener Identität, Heterogenität von biographischen Erfahrungen usw.) in der Hochschullehre zu erhöhen, erscheint mit Blick auf die Zielsetzung von Inklusion notwendig und unhintergehbar, bedarf aber systematischer Reflexion und konzeptioneller Weiterentwicklung. Die Beiträge in diesem Heft blicken vor allem auf Projekte, in denen Menschen mit und ohne zugeschriebene Lernschwierigkeiten/so genannte geistige Behinderung zusammenkommen. Dennoch zeigt sich, dass die Frage der Partizipation sich häufig nicht an der Differenzlinie „Lernschwierigkeit“ ausmachen lässt, sondern Teilhabe und Ausschluss oftmals über andere Differenzierungen (z.B. Sprache, Bildungserfahrung, Alter) hervorgebracht werden. Es wäre zu überprüfen, ob dies in anderen Settings gemeinsamen Lernens (und Forschens) in ähnlicher Weise zu beobachten ist.
    Deutlich wird in den Beiträgen auch, dass Partizipation und Teilhabe sich nicht nur auf strukturelle und gesellschaftliche Bedingungen, wie z.B. Barrierefreiheit von Gebäuden oder Beteiligung an gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen (Rambausek, 2017) beziehen, sondern auf der Ebene der Interaktion wirksam werden (Antaki et al., 2008; Dobslaw & Pfab, 2015). Dadurch wird ein mikroanalytischer Blick auf Interaktionssituationen notwendig, in denen Partizipationsmöglichkeiten (oder auch Ausschluss) entstehen können. Partizipation wird so nicht als statische Einheit, sondern als Kontinuum (Pfister et al., 2018) analysierbar.
    Während ein solcher mikroanalytischer Blick auf Praktiken der Partizipation in schulischen Kontexten in den letzten Jahren verstärkt beforscht wird (u.a. Rabenstein und Reh, 2013; Merl, 2019; Lindmeier und Ehrenberg, 2020; Sturm, 2021), bildet die Auseinandersetzung mit Interaktionssituationen in heterogenen Gruppen in der Hochschullehre weiterhin ein Desiderat. Das Heft 4-2019 der Inklusion Online richtete den Blick insbesondere auf Hochschulstrukturen und die Studiensituation von Studierenden mit Behinderung und chronischer Erkrankung. Mit dieser Ausgabe möchten wir den Fokus auf Partizipationsprozesse in Hochschulprojekten erweitern.
    Das vorliegende Heft versammelt Beiträge aus der Hochschullehre und partizipativen Forschung an der Schnittstelle zu inklusionsorientierter, kultureller Bildung. Kulturelle Bildung stellt einen Bildungsgegenstand dar, dem einerseits immer wieder eine besondere „Inklusionstauglichkeit“ unterstellt wird, der aber zugleich eine eigentümliche Leerstelle darstellt, wenn es darum geht, diese auch fachdidaktisch zu begründen (siehe Heft 2-2023) oder auch die Wirkungsmechanismen zu untersuchen, die in gemeinsamen Lernprozessen inklusiver kultureller Bildung Teilhabe ermöglichen oder behindern. Potentiale und Herausforderungen inklusionsorientierter kultureller Bildung in der Hochschullehre von Pädagogik-Studiengängen bleiben bislang weitgehend unbeleuchtet (Gerland und Niediek 2019).
    Die in den Beiträgen des Heftes untersuchten Begegnungen von Lehrenden und Lernenden mit Ausdruckformen der Musik, der Literatur, der bildenden Kunst oder dem Schauspiel werfen die Frage auf, inwiefern und unter welchen Bedingungen Gegenstände der kulturellen Bildung geeignet sein können, gemeinsame Lernprozesse von Menschen mit und ohne Behinderungserfahrung (Henning, Sauter und Witte, 2019) zu initiieren. Im Zentrum der Beiträge steht also ein analytisch-reflexiver Blick auf Praktiken und Prozesse der Partizipation sowie Ausschlussprozessen, weniger die Formulierung normativer Ansprüche.
    Eine lediglich punktuelle Öffnung von Hochschulen in Form singulärer partizipativer Lehr- und Forschungsprojekte stellt allerdings eher einen Anfangspunkt, keinesfalls einen Zielpunkt für Inklusion dar. Daher stellt sich auch die Frage nach Konzepten für Strukturentwicklung in Richtung einer inklusiven Hochschule.
    Schließlich stellt sich auch die Frage nach einer theoriegeleiteten Reflexion von ableistischen Grundannahmen in der inklusiven wie auch kulturellen Bildung, um über die Gegenwart hinaus reichende Ideen für die Weiterentwicklung in der Zusammenarbeit von Kultureinrichtungen und Hochschulen gewinnen zu können.
    Mit unterschiedlichen Zugängen gehen Beiträge also verschiedenen Dimensionen einer gelebten Praxis in Hochschulprojekten nach, in denen gemeinsame Bildungsprozesse von Menschen mit und ohne Behinderungserfahrung sichtbar werden. Dabei stehen in einigen Beiträgen die Erfahrungen von angehenden Lehrkräften und Pädagog*innen im Vordergrund, denn sie sind Promotor*innen einer künftigen inklusiven Bildungslandschaft. Genauso zentral sind allerdings auch die Erfahrungen von Personen, die erst durch die jeweiligen Projekte einen Zugang zur Hochschule gefunden haben. Sie kommen in unterschiedlicher Weise, direkt oder indirekt in den Beiträgen zu Wort – hier wird viel Gemeinsamkeit sichtbar, aber auch differente Perspektiven werden so zum Ausdruck gebracht. Einzelne Beiträge bilden zudem auf der sprachlichen Ebene die Suche nach Gemeinsamkeit ab. Es geht dabei um das Ringen nach einer Sprache, die allen zugänglich ist und auch von Personen ohne akademische Bildungserfahrung verstanden werden kann oder dem Anspruch ästhetischer oder künstlerischer Auseinandersetzung gerecht zu werden. Wir freuen uns sehr über einen Beitrag von Kolleg*innen aus Schweden, der daher in englischer Sprache vorliegt.
    Mit den folgenden Kurzvorstellungen der Beiträge möchten wir die Leser*innen neugierig machen und zum Lesen einladen:

    • Katharina Silter und Wiebke Curdt eröffnen mit ihrem Beitrag zur „Partizipation und Interaktion in einer Partizipativen Forschungswerkstatt: Teil der Professionalisierung Studierender“ das Heft. Sie geben eine theoriegeleitete Begründung für die Notwendigkeit gemeinsamer Lernerfahrungen von Menschen mit und ohne Behinderungserfahrung in erziehungswissenschaftlichen Studiengängen. Am Beispiel eines Forschungsprojektes zu „numeralen Praktiken“ zeigen die Autor*innen auf, wie theoretische Wissensbestände, individuelle Erfahrungen und praktische Handlungsvollzüge in partizipativen Lehr-Forschungsprojekten miteinander verschränkt werden können und den Studierenden eine Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle ermöglichen. Die von den Studierenden wahrgenommenen und beschriebenen Irritationen und erforderlichen Aushandlungsprozesse im Prozess des gemeinsamen Forschens eröffnen insbesondere (aber nicht nur) den Studierenden einen Lernraum, der Professionalisierungsprozesse in Gang setzt.
    • An diese Befunde knüpft der Beitrag von Dorothee Meyer, Ole Hruschka und Alexandra Littmann an. Sie arbeiten in ihrem Beitrag „Herausforderungen und Potentiale inklusionsorientierter Theaterpraxis an Hochschulen“ heraus. In einem gemeinsamen Projekt setzen sich Teilnehmer*innen ohne Hochschulzugangsberechtigung mit Behinderungserfahrung, Studierende des Lehramts an Gymnasien und des Lehramts für Sonderpädagogik mit Fragen der Produktion von Differenz im Schauspiel auseinander. Neben der strukturell-politischen Ebene werden insbesondere dramaturgisch-ästhetische Fragen in Bezug auf Theaterarbeit mit (nicht) behinderten Akteur*innen mit der Gruppe bearbeitet. Die gemeinsame Auseinandersetzung mit verschiedenen Werken und Darsteller*innen wird im Laufe des Semesters zu einer eigenen künstlerischen Aufführung entwickelt. Die Erfahrungen der Beteiligten in dem Projekt führen die Autor*innen schließlich zu ersten Überlegungen für Handlungsempfehlungen zusammen, da sich die positive Entwicklung in der Gruppe nicht als „Selbstläufer“ darstellt, sondern wesentlich von der Rolle der Spielleitung geprägt zu sein scheint,  die den Probenprozess steuert und die gemeinsame Bearbeitung szenischer Darstellungsaufgaben und -ziele moderiert. Für inklusionsorientierte Hochschulprojekte im Feld kultureller Bildung geben sie damit wichtige Impulse.
    • Juliane Gerland widmet sich in ihrem Beitrag dem „Improvisieren als Gegenstand inklusionsorientierter Hochschullehre in Kontexten musikalischer Bildung“ und zugleich als produktive Reaktion auf das Erleben von Verschiedenheit in heterogenen Lerngruppen. Sie fragt, ob inklusionsorientierte musikalische Bildung automatisch auch als partizipativ gelten kann. Sie stellt ein  Hochschulprojekt mit aus der Ukraine geflüchteten Personen mit zugeschriebenen Lernschwierigkeiten und Studierenden der Sozialen Arbeit und der Pädagogik der Kindheit vor, in dem das gemeinsame musikalische Improvisieren im Zentrum steht. Die Verschiedenheit der Bildungserfahrungen, unterschiedliche kommunikative Kompetenzen und Herkunftssprachen, unterschiedliche Vorerfahrungen mit Musik prägen dabei die Zusammenarbeit. Eine gemeinsame kommunikative Ebene zu finden, die allen Teilnehmenden eine aktive Beteiligung ermöglicht, wird zur zentralen Herausforderung aber auch zu einem kreativen Möglichkeitsraum: Improvisation kann ein irrelevant setzen von Differenz in der Situation ermöglichen. Dennoch bleibt das Umgehen müssen mit Ungewissheit ein zentrales Fazit des Beitrags. Ohne verbale Kontextualisierung bleiben alle Annahmen über die gelungene Partizipation der Teilnehmenden aus der Ukraine vorläufig und tendenziell hegemonial. Gemeinsames Musizieren ist keine hinreichende inklusive Bildung, sondern muss ergänzt werden um Bildungsangebote, die Personen in ihrer sprachlichen Ausdrucksfähigkeit stärkt, damit Partizipation im umfassenden Sinn möglich wird.
    • Katrin Kreuznacht, Andreas Finken, Heike Österreich und Anna-Lena Vetter diskutieren in ihrem Beitrag die Zusammenarbeit in einer gemeinsamen Literatur-Interpretationsgruppe. Sie fragen sich „Wie interpretieren wir autobiographische Texte partizipativ? Wie reflektieren wir partizipative Forschung?“ Dazu gibt die Autor*innengruppe zunächst einen Einblick in die Methode des Close and Wide Reading, mit dem sich die Gruppe der gemeinsamen Analyse von vier autobiographischen Romanen von Personen mit Behinderungserfahrung im Rahmen eines partizipativen Forschungsprozesses gewidmet hat.  Mit Hilfe der von Mandy Hauser entwickelten Qualitätskriterien für inklusive Forschung reflektiert die Gruppe anschließend den gemeinsamen Arbeitsprozess. Es zeigen sich gemeinsame und differente Perspektiven der Forscher*innen mit und ohne Behinderungserfahrung, sowie Forscher*innen mit und ohne Studienabschluss auf die Zusammenarbeit, die sich letztlich als Bildungsprozess aller Beteiligten rekonstruieren lässt. Der Beitrag schließt mit zusammenführenden Überlegungen hinsichtlich forschungsreflexiver Prozesse in inklusiven Bildungskontexten.
    • Den Blick auf eine inklusionsorientierte Lehrer*innenbildung richten wiederum Teresa Sansour, Susanne Bauernschmitt und Linda Streubel. Dazu nehmen die Autorinnen „Rekonstruktive Analysen zu Teilhabeprozessen innerhalb eines inklusiven künstlerischen Projektseminars“ vor, indem sie die Reflexionsberichte von Studierenden vertieft analysieren und dabei sprachliche, inhaltliche und gestalterische Aspekte in den Blick nehmen. Studierende der Sonderpädagogik haben sich gemeinsam mit Menschen mit zugeschriebenen Lernschwierigkeiten in künstlerischen Auseinandersetzungsprozessen mit unterschiedlichen Materialien und Techniken das Themenfeld „neben der Spur“ künstlerisch erkundet. Im Zentrum des Beitrags steht nun der reflektierende Umgang der Studierenden mit den aufgeworfenen Irritationen, Spannungsfeldern und Momenten der Verunsicherung. Die Autor*innen machen diese Reflexionen zum Gegenstand professionstheoretischer Überlegungen, die in einer inklusionsorientierten Lehrer*innenbildung eine hohe Relevanz hat.
    • Sara Schwienbacher, Yonit Ben-Yehuda und Rona Müller berichten in ihrem Beitrag „Auf dem Weg zur inklusiven Hochschule“ gemeinsam mit Studierenden von dem Entwicklungsprozess der Hochschule für Künste im Sozialen in Ottersberg zu einer inklusiven Hochschule. Die Hochschule ermöglicht es Personen mit zugeschriebenen Lernschwierigkeiten, über den Nachweis einer „überragende künstlerische Befähigung“ auch ohne Hochschulzulassung ein reguläres Studium an der Hochschule zu absolvieren. Welche konzeptionellen und strukturellen Veränderungen damit verbunden sind und welche Bedarfe an Veränderung der Hochschullehre insgesamt mit dem Programm einher gehen, wird in dem Beitrag anschaulich beschrieben. Den Kern des Beitrags stellt das Konzept der Studienassistenz dar, die an der HKS entwickelt wurde, um Nachteile der Studierenden mit besonderer Befähigung auszugleichen, die sie aufgrund ihrer Bildungsbenachteiligung im wissenschaftlichen Teil des Studiums benachteiligen. In dem Beitrag kommen sowohl Studierende mit Assistenz wie auch ihre studierenden Assistent*innen in einem Erfahrungsaustausch zu Wort, der gemeinsame Erfahrungen, aber auch die Unterschiede in den Herausforderungen eines gemeinsamen Studiums sichtbar werden lässt.
    • Mit dem englischsprachigen Beitrag „Participation as mix(t)able. On being human being in contemporary times“ von Sangeeta Bagga-Gupta und Petra Weckström schließt sich der Reigen dieses Heftes und kommt quasi wieder zum Ausgangspunkt zurück, indem sich die Autor*innen die Frage stellen, was Voraussetzungen für die Teilhabe aller an Bildung, Kultur und Gesellschaft sind. Ausgehend von Material des Theaterprojekts DoT (Delaktighet och Teater; Participation and Theatre) und des Think Tanks DoIT (Delaktighet och Inkluderings tankesmedja; Participation and Inclusionary think tank) setzen sie sich dazu mit grundlegenden (theoretischen) Fragen des Menschseins in demokratisch-inklusiven Gesellschaften auseinander. Im Sinne eines Möglichkeitsdenkens beleuchten sie dabei Partizipation als ‚dynamisches Mensch sein‘. Bagga-Gupta und Weckström arbeiten kreativ und ‚outside the box‘, was sich als ein spannendes Wechselspiel von Gedanken, Erfahrungen und theoretischen Reflexionen liest. So sind auch wir als Leser*innen des Beitrags gefordert, uns an diesem Prozess des Möglichkeitsdenkens zu beteiligen.

     

    Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre!

    Prof. Dr. Imke Niediek, Katrin Kreuznacht, Arne Schindler

  • 3-2023

    Liebe Leser*innen von Inklusion-Online,

    immer wieder erreichen uns dankenswerterweise frei eingereichte Beiträge aktueller Forschungen und Essays zu inklusionstheoretischen Aspekten - ein Beleg dafür, dass inklusionsorientierte Entwicklungen, wenn auch nicht unbedingt immer im Fokus des aufmerksamkeitsökonomisch ausgerichteten Medieninteresses stehen, so doch nach wie vor eine gesamtgesellschaftliche Gestaltungsaufgabe im Sinne der UN-BRK darstellen, die mit anhaltenden wissenschaftlichen, praktischen und politischen Herausforderungen verbunden ist. Für die freien Einreichungen an dieser Stelle unseren herzlichen Dank. Sie führen dazu, dass diese Ausgabe wieder einmal ohne ausdrückliches Schwerpunktthema auskommen muss, deshalb jedoch nicht weniger wissenschaftliche Aufmerksamkeit verdient und zu kritischer Reflexion herausfordern mag.

    Constance Remhof und Martin F. Reichstein hinterfragen die Reaktionen, denen sich Eltern, die als ‚geistig behindert‘ gelten, heute ausgesetzt sehen. Integrations- und inklusionsbewegte Zeiten mögen dazu geführt haben, dass inzwischen weniger der Frage der Elternschaft selbst, als vielmehr deren Ausgestaltung mit öffentlichen und institutionalisiertem Mistrauen begegnet wird. Untersucht wird das ‚Exklusionsrisiko Elternschaft‘ in Einrichtungen für Familien, in denen Eltern mit zugeschriebener geistiger Behinderung wohnen. Im Zusammenhang mit Unterstützungsangeboten und auf Basis der zugrundeliegenden Konzepte wird der Frage nachgegangen, welche exkludierende Mechanismen sich in welcher Weise auf die Lebenswirklichkeit der Adressat:innen auswirken.

    Auch Miriam Düberfokussiert Eltern mit zugeschriebener Lernbehinderung und die Barrieren, denen diese sich einstellungsbedingt nach wie vor gegenübergestellt sehen. In diesem Zusammenhang scheinen bestehende und überdauernde Vorstellungen von guter Elternschaft und funktionierenden Familien auch noch in erheblichem Ausmaß zu einer unterstellten „(Erziehungs-)Unfähigkeit von Menschen mit Lernschwierigkeiten“ verbunden zu sein. Auch haben diese Vorstellungen erheblichen Einfluss auf die grundsätzlichen Auseinandersetzungsprozesse der potenziellen Eltern mit reproduktiven Fragen. Damit sieht sich neben der ‚reproduktiven Selbstbestimmung‘ auch die Legitimität einer Elternschaft an sich durchaus noch in Frage gestellt. Der Beitrag rekonstruiert und diskutiert den diesbezüglichen oft unzureichenden Stand der empirischen Sozialforschung. Neben einem Qualifizierungsbedarf im Hinblick auf sämtliche Sozialisationsinstanzen verweist Miriam Düber darauf, dass sich die wissenschaftliche Auseinandersetzung bislang vor allem auf Einrichtungen im Feld der Unterstützung für Menschen mit Behinderungen konzentriert hat.

    In einem anderen Handlungskontext befasst sich Lena Ludwig mit der Wirkung von handlungs- und haltungspraktischen Bedingungen in inklusionsorientierten Kontexten. Im Rahmen einer mehrebenanalytischen Betrachtung von sich als inklusiv verstehenden Gymnasien wird die in einem solchen konzeptionellen Unterrichtsverständnis tabuisierte Zuschreibung behindert/nicht behindert auf ihre unterschwellig anhaltende Wirksamkeit hin untersucht. Eine ostentative Programmatik der De-Kategorisierung allein hebt demnach deren folgenreiche Bedeutung noch keineswegs auf, sondern führt vielmehr zu einer Maskierung von Differenzwahrnehmung und -markierung. Die Untersuchung führt zu der These, dass „Maskierungen von Lehrkräften mit einer hohen Brisanz einhergehen, so sie im unterrichtlichen Handeln weitestgehend versuchen, vermeintlich illegitime Differenzsetzungen zu verdecken und verdeckt zu lassen, wenn Schüler:innen sie offenlegen oder thematisieren“.

    Katharina Silter, Johanna Hilkenmeier, Iris Beck, Nicole Franke und Ingolf Prosetzkyliefern erste Befunde zu den wahrgenommenen Belastungen und Ressourcen von Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen während des ersten COVID-19-bedingten Lockdowns in Deutschland. Es geht um die individuellen Erfahrungen von insgesamt 129 Personen mit und ohne Beeinträchtigungen nach dem ersten pandemiebedingten Lockdown im Jahr 2020. Die Datengrundlage wurde mittels einer qualitativen Inhaltsanalyse und einem induktiven Ansatz ausgewertet. Es erwiesen sich bestimmte Aspekte wie Gesundheitsversorgung, körperliche Unversehrtheit oder fehlendes Kontrollerleben als besonders relevant für Personen mit Beeinträchtigungen oder Unterstützungsbedarf. Besondere Bedeutung kommt dabei den bereits im Vorfeld bestehenden Benachteiligungen und Bedingungen zu, die durch die Krise nur umso virulenter zum Vorschein traten. Neben diesem Brennglaseffekt bestätigt sich auch die Vermutung, dass die Sorge um die zukünftige öffentliche und politische Wahrnehmungsbereitschaft gegenüber Inklusionserfordernissen und nachhaltige Einschränkungen, mit denen sich die Betroffenen auch in Zukunft konfrontiert sehen, deutlich zum Ausdruck gebracht werden. Die Ergebnisse dieser Teilstudie bestätigen und ergänzen bisherige Forschungsbefunde zu pandemiebedingten Herausforderungen und Ressourcen.

    Bernhard Rauhschlägt vor, den Inklusionsbegriff diskursiv von theoretischen Unschärfen zu entlasten und spricht von ‚Transklusion‘, wenn es um inklusionsorientierte Transformationsprozesse gehen soll. Auch wenn das proklamierte Ziel letztendlich als inklusiver Zustand zu denken ist, haben wir es handlungspraktisch doch stets mit spezifischen Verhältnisbestimmungen von Inklusion/Exklusion zu tun – diese werden in systemtheoretischer Tradition raummetaphorisch interpretiert, während die Dimension Zeit, im Sinne von Veränderungsprozessen, dem untergeordnet erscheint. Inzwischen wird erkannt, dass „die Scheinsicherheit von eindeutiger Inklusion und Exklusion die Entstehung von Neuen behindert und dass die Ausarbeitung dialektischer Relationen von Inklusion und Exklusion theoretisch produktiver ist als eine Dichotomisierung“. Um ausgehend von dieser Phase des Stands der Inklusionsdebatten zukünftig diese zu qualifizieren, wäre eine „Transformation der in uns eingeschriebenen Deutungsmuster und Machtverhältnisse“ vonnöten, die sich als geeignet erweist, den Stand der Dinge weiter zu verändern.

    Andreas Hinz stellt vor dem Hintergrund des Zusammenhangs von inklusiver und demokratischer Bildung Überlegungen zu einer intersektionalen Revitalisierung der Inklusionsdebatte an. Dabei knüpft er an einen früheren Text in dieser Zeitschrift an, der eine Zwischenbilanz zur Entwicklung inklusiver Bildung nach zehn Jahren Gültigkeit der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) zog (vgl. Hinz 2013). Mittlerweile habe sich die Dringlichkeit der anstehenden Fragen jedoch verschoben – im Vergleich zu vor 10 Jahren haben wir es heute im Zusammenhang mit der Anwendung der UN-BRK mit Stagnation und teilweisen Roll-Backs zu tun. Damit wäre der Inklusionsdiskurs demokratietheoretisch zu reflektieren, wenn nicht zu re-politisieren, was einen konsequenten intersektionalen Zugang erfordert. Der ist bislang nicht selbstverständlich, weshalb zwar der Slogan „Demokratie braucht Inklusion“ einsichtig erscheint, die Bedeutsamkeit seiner Umkehrung – „Inklusion braucht Demokratie“ – demgegenüber jedoch weit weniger im Bewusstsein der handelnden Akteure verankert zu sein scheint.

    In der deutschsprachigen Inklusionsforschung erfreute sich der Einfluss sozialer Herkunft als Differenzkategorie auf die Bildungschancen bislang erstaunlich wenig Aufmerksamkeit. Tobias Buchner und Flora Petrik fragen im Rahmen eines qualitativen Forschungsprojekts nach der Bedeutung sozialer Herkunft im Bewusstsein von Lehrkräften, die in inklusiven Settings agieren. Die Befragungen fanden an drei Wiener Mittelschulen (SEK 1) auf der Basis von teilnehmenden Beobachtungen, Befragungen von Leitungskräften, Lehrkräften und Schüler:innen sowie partizipativen Elementen statt. Dabei interessierte insbesondere der Zusammenhang zur Differenzlinie dis/ability. Soziale Herkunft wird zur „diskursiven Ressource, die der Erklärung inklusionspädagogischer Herausforderungen, aber auch des Scheiterns von Inklusion dient“. Anhand empirischer Fallbeispiele zeigen die Autor:innen, wie soziale Herkunft selbst zu einer behindernden Zischreibung mutiert. Das Potenzial, durch inklusive Bildung klassenvermittelten Benachteiligungen entgegenzuwirken, bedarf erst einer ermächtigenden Bearbeitung, die jedoch bislang ebenso kaum erforscht wurde. „Daher ist es lohnend, weitere methodische Annäherungen an Relevantsetzungen sozialer Herkunft bzw. des intersektionalen Zusammenspiels von sozialer Herkunft und Fähigkeit zu erkunden“.

    Abschließend analysieren Susann Preiß und Jörg Klewerdie Webpräsenzen deutscher Fachhochschulen auf ihre Barrierefreiheit. Methodisch kontrolliert wurden 207 Fachhochschulen in Deutschland. Es ergaben sich drei Hochschultypen hinsichtlich barrierefreier Webseiten: Nachzügler, Zurückhaltende und Vorreiter. Jedoch besteht trotz gesetzlicher Vorgaben nach wie vor überwiegend z.T. erheblicher Verbesserungsbedarf, sowohl hinsichtlich der technisch barrierefreien Gestaltung als auch bezogen auf die Verfügbarkeit von Informationen zum barrierefreien Studium. Auch zeigt sich dabei die Tendenz, dass private Fachhochschulen noch eine geringere Barrierefreiheit als die staatlichen Hochschulen aufweisen.

    Ihnen allen eine anregende und interessante Lektüre wünschen Ihnen
    für das Redaktionsteam

    Carmen Dorrance und Clemens Dannenbeck

  • 2-2023

    Timo Dexel & Ulrike Witten: Editorial zur Gastherausgeberschaft „Inklusive Fachdidaktik – Inklusionsverständnis, Forschungsgeschichte, fachspezifische sowie fachübergreifende Chancen und Perspektiven im Vergleich.“

    Hinführung: Der vielstimmige Inklusionsdiskurs
    Zwar gehört Inklusion längst zu den pädagogischen Grundbegriffen, aber ein einheitliches Verständnis ist nicht festzustellen, sondern es stehen verschiedene Verständnisse nebeneinander, ergänzen sich oder widersprechen sich teils sogar (Reiss-Semmler, 2022). Wir verstehen Inklusion als menschenrechtlich grundiertes, auf gesellschaftliche Transformationsprozesse zielendes Anliegen, das illegitime (soziale) Ungleichheit zu beenden sucht und auf Teilhabe aller Menschen an allen gesellschaftlichen Bereichen gerichtet ist.
    Von diesem Verständnis her ist es naheliegend, dass ganz verschiedene gesellschaftliche player adressiert sind, ihre Inklusionsverantwortung wahrzunehmen, um Inklusion umzusetzen und zu diskutieren. Mit der Heterogenität dieser player sind wiederum unterschiedliche wissenschaftliche Bezugsdisziplinen angesprochen. Bis die gesellschaftlichen player begonnen haben, ihre Inklusionsverantwortung wahrzunehmen, dauerte es jedoch – meist hatte die UN-BRK katalysatorische Funktion. In den letzten Jahren haben sich die Diskussionen um Inklusion stark auf das Feld Schule konzentriert. Das ist nicht unbegründet, denn zum einen erscheint die Schule – als eine Institution, deren Besuch verpflichtend ist – als Hebel, um gesellschaftliche Reformen umzusetzen. Zum anderen war – historisch gesehen – der anstehende Schulbesuch ein Anlass für Betroffene, sich für Reformen im Schulsystem einzusetzen (Schnell, 2003).  Zudem ist drittens der Fokus auf Schule wichtig, da dem System Schule für das Anliegen Inklusion eine Art Nadelöhrfunktion zukommt. Eine geringe formale Bildung und ein fehlender Schulabschluss ziehen Exklusionsverkettungen nach sich, die im weiteren Lebenslauf fehlende Teilhabe bewirken. Der starke Fokus auf Schule wurde zudem begleitet – viertens – durch eine Adressierung von Inklusion als vornehmlich sonderpädagogischer Diskurs und einem Schwerpunkt auf die Grundschule (Seitz & Simon, 2021).
    Mit diesen verschiedenen Foki sind auch unterschiedliche Verständnisse von Inklusion verbunden, die zwischen Innovationsprogramm, Analyseinstrument oder Umsetzung bildungspolitischer Vorgaben – um nur drei Aspekte zu nennen – changieren, was uns zum Forschungsinteresse des vorliegenden Heftes führt.

    Forschungsinteresse: Bestandsaufnahme der Fächerperspektiven im vielstimmigen Inklusionsdiskurs mit dem Ziel des Voneinanderlernens
    Bezugnehmend auf das weite Verständnis von Inklusion und die zunehmende Ausdifferenzierung des Inklusionsdiskurses in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen wird im vorliegenden Heft der Fokus auf diejenigen wissenschaftlichen Disziplinen gelegt, die zwar Inklusion im schulischen Kontext betrachten, die sich evtl. jedoch nicht schon von jeher für Inklusion verantwortlich fühlten, sondern denen diese Aufgabe nicht zuletzt im Zuge der Umsetzung der UN-BRK zugewachsen ist – damit sind vor allem die Allgemeine Didaktik und die Fachdidaktiken im Blick. In der Thematisierung von Inklusion ist hier ein Aufschwung zu beobachten, nicht ohne Diskussion und Reibung (Ritter, 2021; Bragsiek et al., 2022).

    Unseres Erachtens ist es Zeit für eine Bestandsaufnahme, wie sich in den didaktischen Fächern der Inklusionsdiskurs entwickelt hat und vor allem, was aus diesem vielstimmigen Diskurs voneinander gelernt werden kann.
    In den letzten Jahren haben sich die Fachdidaktiken verstärkt dem Thema Inklusion zugewandt, zudem rückt der Fachunterricht als Forschungsgegenstand zunehmend in den Fokus (rekonstruktiver) Inklusionsforschung. Es existieren mittlerweile zahlreiche wissenschaftliche Veröffentlichungen zu Inklusion in den jeweiligen Fachdidaktiken (z. B. Dexel, 2020; Kaiser, 2019; Witten, 2021), Sammelbände, die Beiträge fachbezogen (z. B. Häsel-Weide & Nührenbörger, 2017; Pech, Schomaker & Simon, 2019) und kooperierend (z. B. Riegert & Musenberg, 2015; Veber, Benölken & Pfitzner, 2018) bündeln, sowie Praxisansätze und Unterrichtshilfen, die unter dem Anspruch Inklusion firmieren (z. B. Fetzer, 2016). Darüber hinaus werden aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive in empirischen Studien die Konstruktion von Fachlichkeit, Leistung und Differenz im Unterricht erforscht (zur Übersicht: Hackbarth & Martens, 2018; Wagener, 2020). Betrachtet man diese unterschiedlichen Stoßrichtungen genauer, zeichnen sich die folgenden Oberthemen ab:

    • konzeptionelle Ansätze zu inklusiver Fachdidaktik, die verschiedene Perspektiven auf das Gesamtsystem des Unterrichts zu vereinen versuchen (z. B. Käpnick, 2016; Rott, 2018),
    • unterrichtspraktisch-didaktische Arbeiten mit einer Fokussierung geeigneter Aufgaben, Aufgabenformate, Methoden und Materialien (z. B. Benölken et al., 2018; Schweiker, 2012),
    • theoretische Studien, die Prämissen der Inklusionspädagogik und -didaktik mit einer Fachdidaktik verknüpfen (z. B. Werner, 2019; Witten, 2021),
    • Studien und konzeptionelle Vorschläge zur Diagnostik (Schiefele et al., 2019, Reis, 2018),
    • professionstheoretische Studien (Möller et al., 2018), 
    • Forschung zu Beliefs von Pädagog*innen über inklusiven Unterricht (Korff, 2016; Simon, 2019; Kaiser, 2020) sowie
    • Zugänge zu fachlichen Lernprozessen auf Basis rekonstruktiv-interpretativer Analysen, teilweise unter Nutzung eines praxeologischen Ansatzes (Sturm et al., 2020; Wagener, 2020). 

    Fächergemeinsame Projekte und Fächervergleiche mit Bezug zu Inklusion sind zu verzeichnen, scheinen aber (noch) eine Seltenheit zu sein (z.B. Adl-Amini et al., 2020, siehe Dexel & Witten in diesem Heft). Zumeist werden die Perspektiven der einzelnen Fächer dargestellt und ggf. in Sammelbänden gebündelt (z.B. Kiso & Fränkel 2021; Veber et al. 2019). Grundsätzlich suchen Fächervergleiche zum einen das Verbindende, um gemeinsame Leitlinien oder Perspektiven, Prozesse sowie Produkte verstehend herzustellen bzw. bearbeiten zu können, zum anderen Differenzen, um Lehren und Lernen im jeweiligen Fach besser verstehen, ermöglichen und beforschen zu können (Rothgangel et al., 2021).

    Über eine Bestandsaufnahme des (fach-)didaktischen Inklusionsdiskurses hinaus geht es jedoch im vorliegenden Heft um das Ziel, dass die Fächer voneinander lernen, indem sie durch den Austausch Leerstellen wahrnehmen, Forschungsperspektiven gewinnen oder Umsetzungsideen teilen. Um dies zu ermöglichen, verfolgt dieses Heft einen fächervergleichenden Ansatz, der im Folgenden methodisch reflektiert wird.

    Methodisches Vorgehen, Gliederung der Beiträge und Aufriss des Heftes
    Ausgehend von der Leerstelle des (fach-)didaktischen Austauschs über Inklusion liegt dem Heft eine fächervergleichende Struktur zu Grunde. In den Beiträgen treten jeweils zwei Disziplinen dialogisch in den Austausch und vergleichen ihre Auseinandersetzung mit Inklusion. Das folgt der Grundidee, dass man im Vergleich einiges ‚schärfer‘ sieht, ist man doch durch den Dialog mit der anderen Disziplin gezwungen, fachimmanente Diskurse zu abstrahieren und zu plausibilisieren. Mit dieser Abstraktion geht die Herausforderung einher, dass im Vergleich auch etwas verknappt werden muss, was auch eine gewisse Holzschnittartigkeit produziert. Diese Holzschnittartigkeit verhilft einerseits zu Anschaulichkeit und zwingt, im Fächervergleich große Linien aufzuzeigen, andererseits ist der Preis dafür auch eine gewisse Undifferenziertheit. Dieses Spannungsfeld komparativen Vorgehens gilt es im Blick zu haben.
    Wissend um dieses Spannungsfeld haben wir uns für einen maximal kontrastiven Vergleich entschieden, indem wir Fächer gewählt haben, die von der Genese des Fachs, der Stellung im Fächerkanon, der Wissenschaftskultur der Bezugsdisziplinen, ihrem Selbstverständnis, in ihren Forschungsmethoden sowie ihrer Verankerung im Curriculum u.v.m. sehr unterschiedlich sind, um durch dieses Vorgehen besser neuralgische Punkte zu identifizieren.
    Um angesichts dieser Verschiedenheit und der Vielzahl der damit verbundenen Vergleichspunkte eine Systematisierung zu gewinnen, haben wir dem Vergleich folgende Leitfragen zu Grunde gelegt, die von den Autor:innen als Impulse genutzt werden konnten:

    • Wie hat sich das Inklusionsverständnis in den einzelnen Disziplinen entwickelt, und zu welchen Entwicklungen in der Disziplin hat das geführt? Welche theoretischen und methodologischen Zugänge zu Inklusion bestehen also derzeit in den Fächern?
    • Welche Spannungsfelder oder ‚Baustellen‘ zeigen sich dabei?
    • Welche fachspezifischen und fächerübergreifenden Herausforderungen und Chancen ergeben sich daraus?
    • Welche neuen Perspektiven ergeben sich durch den Fächervergleich?

     

    Für den möglichst kontrastiven Vergleich haben wir zwölf Disziplinen zum Dialog miteinander eingeladen: Allgemeine Didaktik und inklusive Didaktik (Raphaela Porsch und Natascha Korff), Deutsch und Physik (Thorid Rabe und Michael Ritter), Philosophie und Geschichte (Heiko Liepert und Sebastian Barsch), Kunstpädagogik und Sachunterricht (Michaela Kaiser und Toni Simon), Mathematik und Sportunterricht (Nina Bohlmann, Sebastian Meyer und Stefan Ruin) sowie Naturwissenschaftsdidaktik und Religionspädagogik (Simone Abels und Ulrike Witten). Damit eröffnet das Heft einen fächervergleichenden Diskurs, der zukünftig auch noch weitere Fachdidaktiken sowie an Unterrichtsforschung beteiligte Disziplinen zum Austausch über Inklusionstheorie bringt. Wie ertragreich dieser zukünftige Dialog sein kann, wird im abschließenden Beitrag deutlich, der eine methodologische Grundlegung eines transdisziplinär geführten Inklusionsdiskurses erarbeitet sowie eine Systematisierung der bisherigen Bezugnahmen vornimmt und Forschungsdesiderate aufzeigt (Timo Dexel und Ulrike Witten).

    Literatur:
    Adl-Amini, K., Burgwald, C., Haas, S., Beck, M., Chihab, L., Fetzer, M., Lorenzen, M., Niesen, H.,
    Sührig, L. & Hardy, I. (2020). Fachdidaktische Perspektiven auf Inklusion. Entwicklung und Evaluation einer digitalen Lerneinheit zur Inklusion als Querschnittsaufgabe im Lehramtsstudium. k:ON -Kölner Online Journal für Lehrer*innenbildung 2 (2).
    Benölken, R., Berlinger, N. & Veber, M. (Hrsg., 2018). Alle zusammen! Offene, substanzielle Problemfelder als Gestaltungsbaustein für inklusiven Mathematikunterricht. WTM.
    Braksiek, M., Golus, K., Gröben, B., Heinrich, M., Schildhauer, P. & Streblow, L. (Hrsg.). (2022). Schulische Inklusion als Phänomen – Phänomene schulischer Inklusion. Fachdidaktische Spezifika und Eigenlogiken schulischer Inklusion. Springer VS.
    Dexel, T. (2020). Diversität im Mathematikunterricht der Grundschule. Theoretische Grundlegung und empirische Untersuchungen zu Gelingensbedingungen inklusiven Mathematiklernens. WTM.
    Dexel, T. (Hrsg.). (2022). Inklusive (Fach-)Didaktik in der Primarstufe. Waxmann.
    Hackbarth, A. & Martens, M. (2018). Inklusiver (Fach-)Unterricht: Befunde - Konzeptionen - Herausforderungen. In T. Sturm & M. Wagner-Willi (Hrsg.), Handbuch schulische Inklusion (S. 191–205). Verlag Barbara Budrich.
    Fetzer, M. (2016). Inklusiver Mathematikunterricht. Ideen für die Grundschule. Schneider Verlag Hohengehren.
    Häsel-Weide, U. & Nührenbörger, M. (Hrsg.). (2017). Gemeinsam Mathematik lernen. Mit allen Kindern rechnen (Beiträge zur Reform der Grundschule, Band 144). Grundschulverband e.V.
    Kaiser, M. (2019). Kunstpädagogik im Spannungsfeld von Inklusion und Exklusion. Explikation inklusiver kunstpädagogischer Praktiken und Kulturen (Kunst und Bildung). ATHENA-Verlag.
    Käpnick, F. (Hrsg.). (2016). Verschieden verschiedene Kinder. Inklusives Fördern im Mathematikunterricht der Grundschule. Klett Kallmeyer.
    Korff, N. (2016). Inklusiver Mathematikunterricht in der Primarstufe. Schneider Verlag Hohengehren.
    Kiso, C. J. & Fränkel, S. (Hrsg.). (2020). Inklusive Begabungsförderung in den Fachdidaktiken: Diskurse, Forschungslinien und Praxisbeispiele. Verlag Julius Klinkhardt. 
    Möller, R., Pithan, A., Schöll, A., Bücker, N. (2018). Religion in inklusiven Schulen. Soziale Deutungsmuster von Religionslehrkräften. Münster; New York: Waxmann.
    Pech, D., Schomaker, C., Simon, T. (2019). Inklusion im Sachunterricht Perspektiven der Forschung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
    Reis, O. (2018). Inklusionsbezogene Förderdiagnostik im Religionsunterricht! – Aber wie kann diese aussehen? In A. Lehner-Hartmann; T. Krobath, K. Peter & M. Jäggle (Hg.): Inklusion in/durch Bildung? Religionspädagogische Zugänge. (Wiener Forum für Theologie und Religionswissenschaft, 15) Vandenhoeck & Ruprecht, 179-201.
    Reiss-Semmler, B. (2022). Inklusion in der Primarstufe. In T. Dexel (Hrsg.), Inklusive (Fach-)Didaktik in der Primarstufe. Ein Lehrbuch (S. 9–20). Waxmann.
    Riegert, Judith & Musenberg, Oliver (Hrsg.). (2015). Inklusiver Fachunterricht in der Sekundarstufe. Verlag W. Kohlhammer.
    Ritter, M. (2021). Strukturelle Disparitäten. Eine vergleichende Diskussion zur Konzeptualisierung des Inklusionsbegriffs in Pädagogik und Fachdidaktik. Zeitschrift für Grundschulforschung, 14(1), 99–111.
    Rott, L. (2018). Vorstellungsentwicklungen und gemeinsames Lernen im inklusiven Sachunterricht initiieren: Die Unterrichtskonzeption "choice2explore" (Lernen in Naturwissenschaften). Logos Verlag.
    Rothgangel, M., Abraham, U., Bayrhuber, H., Frederking, V., Jank, W., & Vollmer, H. J. (Hrsg.). (2021). Lernen im Fach und über das Fach hinaus: Bestandsaufnahmen und Forschungsperspektiven aus 17 Fachdidaktiken im Vergleich (2. korrigierte Auflage). Waxmann.
    Schnell, I. (2003). Geschichte schulischer Integration. Gemeinsames Lernen von SchülerInnen mit und ohne Behinderung in der BRD seit 1970. Juventa.
    Schiefele, C., Streit, C., & Sturm, T. (2019). Pädagogische Diagnostik und Differenzierung in der Grundschule. Mathematik und Deutsch inklusiv unterrichten. Ernst Reinhardt.
    Schweiker, Wolfhard (2012). Arbeitshilfe Religion inklusiv. Basisband: Einführung, Grundlagen und Methoden. calwer.
    Seitz, S. & Simon, T. (2021). Inklusive Bildung und Fachdidaktik in Grundschulen. Erkenntnisse, Reflektionen und Perspektiven. Zeitschrift für Grundschulforschung 14, 1–14. https://link.springer.com/article/10.1007/s42278-020-00096-2
    Simon, T. (2019). Inklusionsorientierte individuelle Förderung im Unterricht im Spannungsfeld differenzbezogen-positiver und normbezogen-negativer Einstellungen zu Heterogenität. Zeitschrift für Inklusion-online (3), abgerufen von https://www.inklusion-online.net/index.php/inklusion-online/article/view/511 [14.03.2023]
    Sturm, T., Wagener, B. & Wagner-Willi, M. (2020). Inklusion und Exklusion im Fachunterricht. Ambivalente Relationen in Schulformen der Sekundarstufe 1. In I. van Ackeren, H. Bremer, F. Kessl, H. C. Koller, N. Pfaff, C. Rotter, D. Klein & U. Salaschek (Hrsg.), Bewegungen. Beiträge zum 26. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (S. 581–595). Verlag Barbara Budrich.
    Veber, M., Benölken, R. & Pfitzner, M. (Hrsg.). (2018). Potenzialorientierte Förderung in den Fachdidaktiken. Waxmann.
    Wagener, B. (2020). Leistung, Differenz und Inklusion. Eine rekonstruktive Analyse professionalisierter Unterrichtspraxis. Wiesbaden: Springer VS.
    Werner, B. (2019). Mathematik inklusive. Grundriss einer inklusiven Fachdidaktik (Inklusion praktisch, Band 7). Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer.
    Witten, U. (2021). Inklusion und Religionspädagogik. Eine wechselseitige Erschließung. Stuttgart: Kohlhammer.

  • 1-2023

    Benjamin Haas und Meike Penkwitt: Vorwort „Intersektionalität und Inklusive Pädagogik“

    Wurde das Konzept der Intersektionalität in der Inklusiven Pädagogik lange Zeit als ein relativ neues Forschungsfeld betrachtet, so ist mittlerweile festzustellen, dass sich im Zeitraum des letzten Jahrzehnts die Diskussion um den Nutzen und die Relevanz bzw. gar dessen Notwendigkeit für eine Inklusive Pädagogik intensivierte. Eine Ursache dafür ist die vermehrte Rezeption bildungsstatistischer Befunde, die auf eine Koppelung gesellschaftlicher Ungleichheitsdimensionen mit der Strukturkategorie Behinderung verweisen sowie der daraus abgeleiteten Forderung nach einem weiten bzw. breiten Inklusionsverständnis (Budde & Hummrich, 2015), das neben der Differenzkategorie Behinderung auf weitere mit dieser verschränkte Benachteiligungsdimensionen fokussiert.
    In der Diskussion um die Bedeutung intersektionaler Ansätze im Kontext der erziehungswissenschaftlichen Inklusionsforschung lassen sich unterschiedliche Schwerpunktsetzungen und Stoßrichtungen erkennen. Diskutiert wird, ob Intersektionalität als umfassendes theoretisches Paradigma zu verstehen ist oder ob das Konzept vielmehr lediglich als Linse verwendet werden sollte, um für die Gleichzeitigkeit mehrerer Ungleichheitsdimensionen zu sensibilisieren. Eine weitere Herangehensweise besteht darin, Intersektionalität, z.B. im Anschluss an Winker und Degele (2009) als eine Analysemethode zu verstehen. Darüber hinaus stellt sich die Frage, inwiefern es sich um eine politische und praktische Form der Intervention handelt oder auch, wie ein intersektionaler Analyserahmen zu konzipieren und die Strukturkategorie Behinderung in diesen einzubinden ist. Die Diskussion scheint dabei teilweise von disziplinären Logiken unterschiedlicher Teilbereichspädagogiken beeinflusst zu sein, was die Gefahr mit sich bringt, jeweils spezifische Differenzkategorien zu favorisieren. Auffällig ist zudem, dass weitaus häufiger auf die Bedeutung intersektionaler Verschränkungen hingewiesen wird, als dass das Konzept der Intersektionalität tatsächlich als empirischer Analyserahmen genutzt wird.
    Vor dem Hintergrund dieses Diskursstandes haben wir uns als Herausgeber:innen dazu entschieden, in dieser Ausgabe zu diskutieren, wie das Konzept der Intersektionalität in das Feld erziehungswissenschaftlicher Inklusionsforschung integriert und sowohl theoretisch wie empirisch als auch praktisch nutzbar gemacht werden kann. Die Ausgabe ist deshalb in die Rubriken programmatisch, theoretisch, empirisch und praktisch untergliedert, wovon wir uns erhoffen, den Mehrwert intersektionaler Perspektiven für das Feld der Inklusiven Pädagogik differenziert herausstellen zu können. Um eine einseitige Fokussierung auf die Kategorie Behinderung zu vermeiden, haben wir gezielt Autor:innen angeschrieben, deren Fokus auf unterschiedlichen Differenzlinien liegt.

    Kurzbeschreibung der Beiträge

    Ausgehend von einer definitorischen Annäherung an den Terminus ‚Intersektionalität‘, thematisiert Meike Penkwitt in der Einleitung zunächst den Entstehungskontext des Konzepts und geht dabei auch auf Crenshaws (1989) oft zitierte Metapher der Straßenkreuzung ein. Im Anschluss rekonstruiert sie die transatlantischen und transdisziplinären Reise des Konzeptes sowie dessen Diskussion in inklusions- und sonderpädagogischen deutschsprachigen Fachzeitschriften. Dabei legt sie den Fokus auf eine Reihe zentraler Punkte in der Diskussion um ‚Intersektionalität und Inklusion‘ und arbeitet schließlich den Mehrwert des Konzepts Intersektionalität für die Inklusionsdebatte heraus.

    In der ersten mit Programmatik überschriebenen Rubrik finden sich Beiträge, in denen der Nutzen der Verbindung von Intersektionalität und Inklusiver Pädagogik diskutiert wird.
    Christian Lindmeier geht in seinem Beitrag ebenfalls dem Einwandern des ‚Travelling Concepts‘ der Intersektionalität in die deutschsprachige Sonder- und Inklusionspädagogik nach. Ausgehend von der Differenzierung in a) einen intersektionalen Analyserahmen, b) ein theoretisch-methodologisches Paradigma und c) politische Interventionen fokussiert er auf die Diskussion des Nutzens dieser theoretischen Perspektive für inklusions- und sonderpädagogische Fragestellungen. Auf diese Weise wird die Notwendigkeit herausgestellt, Behinderung als intersektionalen Analysegegenstand zu konzipieren und im Sinne der kritischen Ungleichheitsforschung als Basis für eine differenztheoretische Reflexion zu verwenden.
    Im zweiten programmatischen Beitrag arbeitet Mai-Anh Boger heraus, dass eine programmatische Verbindung der Terme Inklusion und Intersektionalität stets ihr Ziel verfehle. Denn dabei bestehe die Gefahr, dass sich schnell Kategorienfehler, schräge Vergleiche oder auch Ebenenvermischungen einschlichen. Eine Ursache dafür liege in der Vielgestaltigkeit und Komplexität der beiden Terme. Zur Veranschaulichung diskutiert Boger vier Charakterisierungen mit denen Dietze, Haschemi Yekani und Michaelis (2007) das Verhältnis von Intersektionalität und Queer zu bestimmen versuchen: „Ansätze“, „(korrektive) Methodologie“, „Theoriekorpus“ bzw. Diskursfeld sowie „Intersektionalisierung“ (analog dem Prozess des ‚Queerens‘). Mit Ausnahme des zweiten Annäherungsversuchs erteilt Boger den unterschiedlichen Charakterisierungen letztlich eine Absage und spricht sich auch bei dieser für eine bescheidenere Herangehensweise aus: Am produktivsten sei es, Intersektionalität nicht als umfassende Methodologie sondern vielmehr als ein Set von (Korrektur-)Linsen mit dem Zweck einer Sensibilisierung für die Gleichzeitigkeit mehrerer Unterdrückungssysteme zu verstehen. Das Potential des Konzepts Intersektionalität besteht laut Boger in der Fokussierung ganz konkreter Intersektionen und deren Sichtbarmachung in konkreten kleinteiligen Analysen mit dem Ziel der Überwindung der „intersectional invisibility“, wie sie Beispielsweise schon von Schildmann (u.a. 2011) (teilweise auch gemeinsam mit Schramm und auch Libuda Köster (u.a. 2018) und Amirpur (2013) als Wegbereiter:innen vorliegen, einem (mit Bogers Worten) bisher noch „kleinen Feldchen“ oder auch „bescheidenen Acker“. Genauso wie auch in der Praxis gehe es darum, ‚mit dem Schwersten zu beginnen‘.

    Auf diese ersten beiden programmatischen Aufsätzen folgen zwei Beiträge in denen die Konzepte der Intersektionalität und Inklusion aus theoretischer und methodologischer Perspektive diskutiert werden.
    Ausgehend von einer differenzierten Diskussion der drei von Crenshaw (1989) an den Anfang der Diskussion um den Terminus Intersektionalität gestellten Gerichtsfälle und unter wiederholter Bezugnahme auf Sojornour Truths (auch schon mit dem Aufsatztitel aufgerufenen) Diktum „Ain’t I a Women?“ (1853) reflektieren Alessandro Barberi, Gertraud Kremsner und Michelle Proyer Probleme der Kategorisierung. Über die Frage, wer für wen was wann wie sprechen darf, schlagen sie dabei einen Bogen zu feministischen Standpunkttheorien. Als ein weiterführendes theoretisches Konzept stellen sie schließlich die auf Hill Collins zurückgehende ‚Matrix of Domination‘ vor, deren Erklärungspotential im deutschsprachigen Kontext bisher noch wenig genutzt wird. Zentral in ihren Ausführungen ist dabei die Bedeutung der zwischenzeitlich vernachlässigten Kategorie class.

    Ebenfalls mit einer theoretischen Orientierung untersuchen Tobias Buchner und Yaliz Akbaba die wechselseitige Durchdringung rassistischer und ableistischer Ordnungen und Codierungen anhand einer Integrationskampagne des Deutschen Fußballbundes. Im Anschluss an die Dis:ability Critical Race Studies (DisCrit) stellen die Autor:innen mittels einer diskursanalytisch inspirierten Bildanalyse einen Mehrwert intersektionaler Analysen heraus, der im deutschsprachigen Kontext aufgrund einer Fokussierung auf negative Verstärkungen unterschiedlicher Differenzlinien bisher wenig beachtet ist. Dieser liegt in der Betrachtung von Überlagerungen sowie der Fluidität und Kontingenz des Verhältnisses unterschiedlicher Differenzordnungen und markiert damit das Wirksamwerden intersektionaler Benachteiligungen in situ.

    Für die Rubrik Empirie haben wir, trotz vielfaltiger Anfragen und auch weiterer zwischenzeitlicher Zusagen, letztlich nur einen Text erhalten. In diesem beleuchtet Hendrik Richter das Verhältnis von Männlichkeit, Klassen- und ethnischer Zugehörigkeit mit der Strukturkategorie Behinderung anhand Figurierungen von Gefährlichkeit von Schülern mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf. Empirisch rekonstruiert wird dies anhand kultur- und schulethnographischer Beobachtungen, die in einer österreichischen Großstadt an einer Schule ‚in schwieriger Lage‘ erhoben wurden. Durch seine Fokussierung auf das interdependente Verhältnis der Ungleichheitsdimensionen zeigt sich eine spezifische Verwobenheit und ein komplexes Verhältnis von Behinderung, Klasse, Geschlecht und ethnischer Zugehörigkeit, die von den beobachteten Schülern auf unterschiedliche Weise inszeniert werden und damit ausgehend von strukturellen Exklusionserfahrungen je spezifische Ankerpunkte für Subjektivierungsprozesse bilden.

    Im Abschnitt intersektionale Perspektiven auf pädagogische Praktiken stellt Nils Katz anhand einer Collage aus O-Tönen von Schüler:innen aus Neukölln das partizipative Projekt related vor. Durch eine Kooperation von Lehrer:innen und betroffenen Schüler:innen wurden in diesem Projekt Workshops für Lehramtsstudierende entwickelt, um im Sinne einer reflexiven Inklusion für intersektional verwobene Diskriminierungen von Schüler:innen zu sensibilisieren. Verfolgt wird damit eine politisch-praktische Intervention, da den in der Regel nicht gehörten Stimmen der beteiligten Schüler:innen Verhör verschafft wird und diese als Expert:innen für ihre Stadtteile und Schulen fungieren. Die beteiligten Schüler:innen erhalten damit die Möglichkeit, intersektional verwobene Benachteiligungsmuster und Diskriminierungserfahrungen innerhalb der bestehenden schulischen Ordnung zu problematisieren.
    Beim zweiten Text in der Rubrik Praxis handelt es sich um ein Interview von Lena Staab mit Francis Seeck. Seeck ist Kulturanthropolog:in, Geschlechterforscher:in und Antidiskriminierungstrainer:in. Staab befragt Seeck zur praktischen Antidiskriminierungsarbeit und der Rolle, die dabei theoretische Konzepte, insbesondere Intersektionalität spielen. Seeck berichtet davon, dass das bisher oft vernachlässigte Thema ‚Klassismus‘ einen ganz zentralen Arbeitsschwerpunkt darstelle. Bezüglich des Konzepts Intersektionalität hebt Seeck hervor, dass es wichtig sei, die unterschiedlichen Ungleichheitskategorien sowohl separat als auch in ihrer Verschränktheit zu betrachten. Weitere Anknüpfungspunkte des Interviews sind Themen, die sich zwischen Seecks aktuellem Projekt „Antipsychiatrie und Stadt“ und den Forschungsfeldern Disability Studies und Mad Studies ergeben, außerdem die trans und nicht-binäre Sorgearbeit, mit der sich Seeck im Rahmen einer Dissertation beschäftigt hat.

    Wir wünschen allen Leser:innen eine anregende Lektüre und hoffen mit der Ausgabe, die Relevanz des Themas Intersektionalität unterstreichen und dessen Mehrwert im Kontext der Inklusiven Pädagogik herausstellen zu können, nicht zuletzt um damit weitere kritische Analysen zu den kontingenten Wechselwirkungen zwischen race, class, gender, ability und weiteren Ungleichheitsdimensionen motivieren zu können.
    Abschließend möchten wir uns bei allen Autor:innen und den Gutachter:innen herzlichst für die angenehme und produktive Zusammenarbeit bedanken.

    Benjamin Haas und Meike Penkwitt

    Email-Adressen der Autor/-innen: b.haas@em.uni-frankfurt.de, meike.penkwitt@paedagogik.uni-halle.de
    Weitere Angaben zu den Autor/-innen:
    Benjamin Haas, Dr. phil, Postdoc am Institut für Sonderpädagogik der Goethe Universität Frankfurt am Main, Arbeitsbereich Inklusionsforschung.
    Meike Penkwitt, Dr. phil, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Arbeitsbereich IEBES (Inklusion und Exklusion in Bildung Erziehung und Sozialisation) am Institut für Rehabilitationspädagogik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

     

    Literatur

    Amirpur, D. (2013). Behinderung und Migration – eine intersektionale Analyse im Kontext inklusiver Frühpädagogik. München: DJI.
    Budde, J. & Hummrich, M. (2015). Intersektionalität und reflexive Inklusion. Sonderpädagogische Förderung heute, 60. Jg., H. 2, 165-175.
    Crenshaw, K. (1989). Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Theory and Antiracist Politics. University of Chicago Legal Forum, Vol. 1989. Issue 1, S. 139–167.
    Dietze, G., Haschemi Yekani, E. & Michaelis, B. (2007). ‚Checks and Balances’ – Zum Verhältnis von Intersektionalität und Queer Theory. In K. Walgenbach; G. Dietze; A. Hornscheidt & K. Palm (Hrsg.), Gender als interdependente Kategorie – Neue Perspektiven auf Intersektionalität, Diversität und Heterogenität (S. 107-139). Opladen: Barbara Budrich-Verlag.
    Winker, G. & Degele, N. (2009). Zur Analyse sozialer Ungleichheiten. Bielefeld: transcript.
    Schildmann, U. (2011). Verhältnisse zwischen Geschlecht, Behinderung und Alter/Lebensabschnitten als intersektionelle Forschungsperspektive. Journal Netzwerk Frauen- und Geschlechterforschung NRW, 29, 13-15.
    Schildmann, U., Schramme, S. & Libuda-Köster (2018). Die Kategorie Behinderung in der Intersektionalitätsforschung – Theoretische Grundlagen und empirische Befunde. Bochum/Freiburg: Projekt-Verlag.

  • 4-2022

    Liebe Leser*innen von Inklusion-Online,
    wir freuen uns, Ihnen hiermit die 4. Ausgabe von Inklusion-Online des Jahrgangs 2022 vorlegen zu können. Mittlerweile entspricht es fast schon einer kleinen Tradition, am Ende des Jahres Ihnen eine Reihe thematisch auf den ersten Blick nur locker miteinander verbundener frei eingereichter Beiträge zu präsentieren. Die Beträge vermitteln in ihrer Gesamtheit stets ein – wenngleich natürlich in keiner Weise repräsentatives – Bild von Aktivitäten aktueller Inklusionsforschung, mit ihren empirischen Schwerpunktsetzungen und wahrgenommenen Problemlagen. Es bleibt Ihnen als Leser*innen überlassen, möglicherweise darüber hinaus auch weitere verbindende Beobachtungen zu machen, die gewissermaßen quer zu den vorgelegten Beiträgen liegen mögen. Möglicherweise deutet sich in ihnen ein erneuertes Interesse an theoretischen Überlegungen und begrifflichen Versicherungen, an kritischer Reflexion auf Grundlage der gesellschaftlichen und politischen Veränderungen, die durch die Ratifizierung der UN-BRK erfolgt sind, an, - ein Interesse, das Keimzelle und Perspektive sein mag für eine zukunftsgewandte Inklusionsforschung, die sich ihres letztendlich emanzipatorischen Kerns gewusst bleibt.

    Oskar Dangl und Doris Lindner erörtern zu Beginn das grundlegende Beziehungsgefüge zwischen den Kategorien Würde und Inklusion vor dem Hintergrund der politisch-rechtlicher Fachdiskurse und ziehen ihre Schlussfolgerungen aus einem kritischen philosophisch-pädagogischen Blick. Es wird danach gefragt, was aktuell unter Menschenwürde verstanden und welche Rolle ihr im Kontext der Menschenrechte, insbesondere in der Argumentationslogik der UN-BRK, zukommt. Auf Basis ihrer diskursiven Annäherung an die Begrifflichkeiten Würde und Inklusion wird die Frage in den Raum gestellt, inwieweit die Kategorie der Würde als Begründung und Ableitung der Menschenrechte dient oder in Umkehrung dazu ihr Ziel darstellt. Menschenwürde würde demnach als ethische Aufgabe fungieren, als „Gestaltungsauftrag, menschenwürdige Verhältnisse zu schaffen, die allen Menschen ein würdevolles Leben ermöglichen“. Insofern scheint die UN-BRK über das klassische Würdemodell hinauszuweisen. Ebenso diskutiert wird der Disput zwischen einem gelingenstheoretischen und einem freiheitstheoretischen Konzept der Menschenwürde. Die Schlussfolgerung der Autor*innen lautet: „Die Menschenwürde ist einerseits die theoretische Voraussetzung der Begründung von Inklusion als Menschenrecht, andererseits ist Inklusion die empirische Bedingung des Gelingens der Realisierung der Würde von Menschen mit Behinderung.“

    Unter Bezugnahme auf das Prinzip der Elementarisierung werden in dem Beitrag von Jonathan Klix, Katrin Kreuznacht und Imke Niediek Potenziale und Herausforderungen verschiedener Genderkonzeptionen in Texten Leichter Sprache aufgezeigt. Den Autor*innen geht es darum, eine analytische Perspektive auf Texterzeugnisse zu erarbeiten, die Genderfragen in Leichter Sprache thematisieren. Texte in Leichter Sprache „elementarisieren“ grundlegend mehrdeutige Konstrukte wie Gender auf unterschiedliche und möglicherweise auch widersprüchliche Art. Diese Elementarisierung, das Kreisen um den ‚Kern der Sache‘, ist ein analytisch komplexer Vorgang. In ihrer jeweils konkreten Form, so die zentrale These des Beitrags, eröffnen Texte in Leichter Sprache fundamentale Einsichten und damit weitreichendes, erkenntnisstiftendes Potenzial auch für inklusive Bildung. Das Verständnis von Elementarisierung im Sinne einer Perspektivenanalyse unterschiedet zunächst zwischen dem Wie und dem Was des Erzählens. Anhand exemplarischer Analysen zweier Textbeiträge werden dann Positionierungen und Pointierungen in den Redeweisen über Genderdiversität herausgearbeitet. Die Berücksichtigung dieser Positionierungen ist für den emanzipatorischen Anspruch beider Texte ebenso notwendig wie für das Gelingen von Inklusion. Der Beitrag sieht die Relevanz eines rezipierenden wie produzierenden Umgangs mit Texten in Leichter Sprache im Rahmen inklusionsorientierter (Hochschul-)Bildung in der Chance, intersektionale Interdependenzen diskriminierender Strukturen sichtbar und erfahrbar werden zu lassen.

    Ines Boban und Andreas Hinz nehmen sich die Konzepte Inklusion und Partizipation vor und unterziehen diese einer kritischen Reflexion auf Basis der deutschsprachigen Debatte und mit internationalem Bezug auf den Weltbildungsbericht 2020 der UNESCO. Als darüber hinaus gehender Bezugspunkt dient die Rezeption der „Theorie des Partnerismus“ mit ihrem Kontinuum zwischen Dominanz- und Partnerschaftssystem. Dabei scheint Hinz und Boban zufolge „die Widersprüchlichkeit zwischen hierarchischen Verhältnissen und egalitären Horizonten von Inklusion und Partizipation auf. Untersucht wird der Bezug konkreter pädagogischer Handlungsstrategien auf diese Polarität“. Der Gewährung, dem bloßen Zugeständnis von Partizipation liegen Dominanzverhältnisse innerhalb von Herrschaftsverhältnissen zugrunde, während die Gewährleistung von Partizipation partnerschaftliche Orientierungen voraussetzt, woraus auch Sprengkraft für die bestehenden Herrschaftsverhältnisse heraus entstehen kann. Ein Inklusionsverständnis sowie inklusionsorientiertes Handeln, das sich der menschenrechtlichen Begründung der UN-BRK verpflichtet fühlt, bedarf eines solchen partnerschaftsorientierten Feldes innerhalb bestehender Herrschaftsverhältnisse. Der Text plädiert für die Berücksichtigung dieser Widersprüchlichkeit im gesellschaftlichen Kontext - auch in der Forschung.

    Svenja Hölz, Sandra Grüter, Phillip Neumann und Birgit Lütje-Klosebefassen sich auf empirischer Grundlage und vor dem Hintergrund bestehender empirischer Erkenntnisse mit der Rolle pädagogischer Fachkräfte in multiprofessionellen Teams an inklusionsorientiert arbeitenden Schulen. Als Reaktion auf den Fachkräftemangel insbesondere an sonderpädagogischen Lehrkräften wurden in Nordrhein-Westfalen Stellen für Multiprofessionelle Teams im Gemeinsamen Lernen an weiterführenden Schulen geschaffen. Diese sogenannten MPT-Stellen werden mit vornehmlich schul(sozial-)pädagogisch ausgebildetem Personal besetzt. Ziel dieser Vorgehensweise ist es, Lehrkräfte auch in und durch unterrichtsnahe Tätigkeiten zu entlasten. Eine systematische Evaluation dieser bildungspolitischen strategischen Entscheidung steht hingegen noch aus, ebenso eine Antwort auf die Frage, welche Qualifizierungsmaßnahmen über multiprofessionelle Kooperation und sonderpädagogische Inhalte hinaus zu ihrem Erfolg beitragen könnten. Im Beitrag wird auf Grundlage der Ergebnisse einer explorativen Interviewstudie der Frage nachgegangen, welche Aufgaben und Zuständigkeiten die Fachkräfte in multiprofessionellen Teams in der Praxis übernehmen und welche Erfahrungen damit verbunden sind. Die unscharfe Verortung zwischen Sonder- und Sozialpädagogik bleibt dabei eine ambivalente Herausforderung in der inklusionsorientierten Unterrichtspraxis.

    Im schulpädagogischen Diskurs der Erziehungswissenschaft schließt der Inklusionsdiskurs inhaltlich meist an die Diskurse zu Benachteiligung, Ungleichheit und Heterogenität (Differenz) an. Es geht dabei um die schulischen, unterrichtlichen und professionellen Kulturen und Praxen der (Re)Produktion sozialer Ungleichheit, Behinderung und Differenz- bzw. Normalitäts- und Abweichungskonstruktionen. Tanja Sturm hinterfragt individualisierende Erklärungen für diese Differenz- bzw. ableist divides-Konstruktionen und die damit verbundenen Behinderungen und Benachteiligungen sozialer und akademischer Teilhabe bzw. Partizipation im schulischen Kontext. Unterrichtliche professionalisierte Praxen sind dabei nicht als bloße Mikrophänomene zu interpretieren – losgelöst von den sozialen und materialen Rahmenbedingungen, in denen sie eingebunden sind. Praxeologische Wissenssoziologie und Dokumentarische Methode stellen dabei ein Instrumentarium bereit, diesen Umstand theoretisch und methodologisch angemessen zu berücksichtigen. „Das heißt, dass Differenzkonstruktionen in unterrichtlichen Praxen (auch) als Ergebnis der Bearbeitung gesellschaftlich-institutioneller Normen und Erwartungen vor dem Hintergrund der  (…) Erfahrungen, der eigenen Ideale und Vorstellungen, die die Lehrpersonen an ihr unterrichtliches Handeln haben, zu fassen ist“. Der Beitrag analysiert Differenzkonstruktionen aus Ausschnitten zweier Schulgesetze (Sachsen-Anhalt und Hamburg). Die Implikationen der gesellschaftlich-institutionell kodifizierten Differenzkonstruktionen werden abschließend in ihrer Bedeutung für die Genese unterrichtlicher Praxen der Differenzkonstruktion in Schule, Unterricht und professionalisierten Praxen reflektiert.

    Die Verpflichtung, sich im Sinne der UN-BRK zu einem inklusionsorientierten Bestandteil des Bildungssystems weiterzuentwickeln, ist auch an den Hochschulen und Universitäten der Länder angekommen und führt hier nicht minder zu Anforderungen an die zukünftige Organisationsentwicklung, Qualitätssicherung und strategische Aufstellung der Institution. Marco Miguel Valero Sanchez befasst sich in diesem Zusammenhang mit den (hochschul)rechtlichen Rahmenbedingungen und Steuerungselementen, denen sich inklusionsorientierte Hochschulen bedienen, die jedoch angesichts der bislang zu beobachtenden Veränderungen kaum empirisch begleitet und analysiert wurden. Der vorliegende Beitrag untersucht auf Basis einer komparativen Textanalyse, wie sich die UN-BRK und deren umsetzende Anwendung in den (z.T. neu formulierten) Hochschulgesetzen und entsprechenden Aktionsplänen der Bundesländer niederschlägt und erkennbar wird. Dabei geht es nicht nur um die Verbesserung von Studienbedingungen und -verhältnissen für Studierende mit Beeinträchtigungen an den Hochschulen, sondern auch um den Blick auf die Anschlussfähigkeit der Studienerfahrungen im weiteren Lebenslauf. Gelingende Inklusion muss sich dabei in einem Kontext von prekären Beschäftigungsverhältnissen und unsicheren Karriereperspektiven für den wissenschaftlichen Mittelbau bewähren. Insofern wird hier ein besonderer Fokus auf die Inklusion von Postdocs mit Behinderungen gelegt. Am Ende zeigt sich, dass Dokumentenanalysen zwar einen gewissen Aufschluss über die vorhandenen Rahmenbedingungen geben können, die tatsächliche Ausgestaltung und Praxis eines barrierefreien Studiums aber stark von Haltungen und Handlungen der verantwortlichen Akteure vor Ort abhängen.


    Eine informative und produktive Lektüre - sowie Zuversicht und Kraft im kommenden Jahr - wünschen
    für das Redaktionsteam
    Carmen Dorrance und Clemens Dannenbeck

  • 3-2022

    Zur politischen Dimension der Inklusionsforschung

    Ob in Artikeln oder auf Konferenzen – regelmäßig und mit einer gewissen Selbstverständlichkeit werden im Kontext der Inklusionsforschung Forderungen oder Mahnungen einer (Re-)Politisierung derselben vorgetragen. Doch was implizieren diese Forderungen? Von wo aus erklärt sich das hiermit verbundene politisches Selbstverständnis als Wissenschaftler:in? Welche Möglichkeiten, Herausforderungen oder auch Widersprüche gehen mit entsprechenden Positionierungen einher? Zu selten werden diese Fragen im inklusionspädagogischen Diskurs wissenschaftlich bearbeitet. Wir freuen uns deshalb sehr darüber, dass im Rahmen dieses Themenhefts die politische Dimension der Inklusionsforschung in insgesamt sieben Beiträgen verhandelt werden kann. Wir bedanken uns insbesondere bei den Autor:innen der Beiträge, die sich auf einen mehrstufigen diskursiven – und damit aufwendigen – Reviewprozess eingelassen haben (s. u.), sowie bei der Redaktion der Zeitschrift für Inklusion-online, die der von uns angestrebten Debatte hier einen Raum geben. Außerdem danken wir Prof.in Dr.in Kirsten Puhr, sowie Dagmar Günther für ihre außerordentliche Unterstützung des Projekts. Im Rahmen der Erstellung des Special Issues fand eine öffentliche Podiumsdiskussion zum Thema statt. Wir bedanken uns bei den drei Redner:innen Dr.in Mai-Anh Boger, Prof. Dr. Oliver Flügel-Martinsen und Prof.in Dr.in Sabine Krause sowie beim Moderator HS-Prof. Dr. Tobias Buchner. Außerdem möchten wir dem Forschungsausschuss der Philosophischen Fakultät III der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg für die Bereitstellung von Hilfskraftmitteln für die Durchführung der Veranstaltung danken.

    Darstellung des Reviewverfahrens:

    Dem Gegenstand der Ausgabe angemessen, strebten wir von Beginn an ein diskursiv ausgerichtetes Reviewverfahren an, das insbesondere auf der gemeinsamen Diskussion aller beteiligten Autor:innen basieren sollte. Da dies von dem für die Zeitschrift üblichen Reviewverfahren abweicht, stellen wir das Vorgehen im Folgenden kurz dar. Zunächst geplant war ein Verfahren aus vier Bausteinen: einem Auftaktworkshop, einer öffentlichen Podiumsveranstaltung zum Thema, einem diskursiven Review in Kleingruppen sowie einer Rückmeldung durch die Herausgeber:innen. Die Eckpunkte dieses Verfahrens wurden im Call for Papers veröffentlicht, sodass es allen (potenziellen) Autor:innen bereits bei Einreichung der Beiträge bekannt war. Zugleich wurde das Verfahren im Laufe des Prozesses an die Bedürfnisse aller Beteiligten angepasst.

    Nach der Auswahl aus den eingereichten Beiträgen stand zu Beginn des gemeinsamen Bearbeitungsprozesses ein Auftaktworkshop. Dieser diente dem Kennenlernen der Autor:innen und deren Ideen für ihren Artikel, der Vorstellung des Review-Prozesses und der Bildung von drei Reviewgruppen. Hierbei ergab sich die thematische Dreiteilung von “Politik und Politisches als Gegenstände von Forschungen zu Inklusion”, “Verhältnisbestimmungen zwischen Politik und Pädagogischem” und “Anfragen an die Politizität von Inklusionsforschung”. Diese Schwerpunkte ermöglichten die Schärfung differenter Positionierungen in Bezug auf die aufgeworfene Frage nach der politischen Dimension der Inklusionsforschung, weshalb sie sich auch in der nun vorliegenden Ausgabe abbilden.

    Die auf den Auftaktworkshop folgende Podiumsdiskussion “Forschungen zu Inklusion – Zwischen Wissenschaft Politik und Pädagogik – Anfragen an ein kompliziertes Verhältnis” stellt eine weitere zentrale Komponente des Reviewprozesses dar, insofern sie der Autor:innengruppe durch einen externen Input eine weitere inhaltliche Auseinandersetzung mit den Fragen der Ausgabe ermöglichte. Die Veranstaltung fand am 7. Juni 2021 statt. Dr.in Mai-Anh Boger, Prof. Dr. Oliver Flügel-Martinsen und Prof.in Dr.in Sabine Krause verhandelten hier theoretische Einsätze und Diskussionslinien sowohl für die Beitragenden des Special Issues wie auch für Wissenschaftler:innen und fachlich Interessierte. Im Anschluss daran war ein informeller Austausch und eine weitere (fachliche) Begegnung der Beitragenden möglich.

    Nach diesen inhaltlichen Auftakten erstellten die Autor:innen ihre ersten Manuskripte, die gemeinsam in den gebildeten Reviewgruppen online diskutiert wurden. An diesen Treffen nahmen die Herausgeber:innen ebenfalls teil. Zusätzlich zu diesem diskursiven Gruppenreview entschieden sich die Autor:innen bereits beim Auftaktworkshop dazu, dass zu jedem Artikel noch ein ausführliches schriftliches Feedback durch eine zufällig zugelosten Autor:in des Special Issues erfolgen sollte. Diese beiden Rückmeldungen flossen daraufhin in die Überarbeitung der Artikel ein.

    Im Zuge des abschließenden Reviews durch die Herausgeber:innen blieb es leider nicht aus, dass für einzelne Beiträge umfangreichere Überarbeitungen erbeten oder diese gar abgelehnt werden mussten. Hier wurde dann auch ein Rollenkonflikt in Hinblick auf die Herausgeber:innen deutlich, der sich durch den gesamten Prozess zog. War es ein zentrales Anliegen dieses Prozesses, einen kollegialen, diskursiven Austausch zur Frage der politischen Dimension der Inklusionsforschung bereits vor der Veröffentlichung anzuregen und mitzugestalten, blieb am Ende dennoch die Notwendigkeit der finalen Bewertung der Beiträge in Hinblick auf das Erscheinen in der Zeitschrift erhalten. Da die hiermit einhergehenden Rollen und Funktionen im Unterschied zu einem klassischen Reviewprozess nicht formal geregelt und voneinander getrennt sind, erfordert dies im Rückblick einen sensibleren und transparenteren Umgang mit den Rollen und Erwartungen, um Missverständnissen und Enttäuschungen entgegenzuwirken.

    Insgesamt ermöglichte dieses Verfahren einen intensiven inhaltlichen Austausch zwischen den Autor:innen, den Herausgeber:innen und der wissenschaftlichen Community, der sich u. E. nicht nur in der Qualität der einzelnen Beiträge widerspiegelt, sondern auch einen wichtigen Beitrag zur Selbstverständigung innerhalb der Inklusionsforschung leisten konnte. Zugleich zeigten sich hier gerade aufgrund der engen Zusammenarbeit der Autor:innen sowie der Herausgeber:innen untereinander in besonderer Weise die mitunter problematischen Machtverhältnisse, mit denen es in der wissenschaftlichen Publikationspraxis umzugehen gilt. Dies macht nach unserer Auffassung Mut, weiter mit Formen der wissenschaftlichen Qualitätssicherung zu experimentieren.

    Kurzbeschreibung der Beiträge:

    Ausgehend von der Vielstimmigkeit erziehungswissenschaftlicher Forschungen zu Inklusion und vor dem Hintergrund wiederkehrender Forderungen einer (Re-)Politisierung der Diskussionen um Inklusion, öffnen Jens Geldner-Belli, Gertraud Kremsner und Mira Brummer im einleitenden Beitrag einen Raum, der differente Positionierungen im Forschungsfeld als erkenntnispolitische Einsätze lesbar macht. Unter Bezugnahme auf die Politikwissenschaft und die Politische Theorie werden hierbei unterschiedliche Begriffe von Politik und Politischem entfaltet, die sich auch in der Inklusionsforschung wiederfinden lassen. Vor dem Hintergrund dieses Überblicks über das Forschungsfeld plädieren die Autor:innen dafür, das Politische der Inklusionsforschung nicht abschließend zu bestimmen, sondern offen zu halten und sich verstärkt den Fragen zuzuwenden, die Forderungen einer (Re-)Politisierung evozieren.

    Die darauffolgenden beiden Texte nehmen solche Fragen auf und diskutieren Politik und Politisches als Gegenstände von Inklusionsforschung.

    Julia Wiebigke rückt in ihrem Artikel die öffentliche Diskussion um schulische Inklusion und die damit verbundenen gesellschaftlichen Wissensverhältnisse innerhalb der Massenmedien in den Fokus. Unter Rückgriff auf den Foucaultschen Konnex aus Wissen und Macht wird das Verhältnis von massenmedialer Berichterstattung und Wirklichkeitskonstruktionen charakterisiert. Damit verfolgt die Autorin einen wissenssoziologisch- und diskursanalytischen Ansatz, mit dem die Prozesse sozialer Konstruktion, Objektivation und Legitimation von Deutungs- und Handlungsstrukturen innerhalb des Diskurses rekonstruiert und die gesellschaftlichen Wirkungen dieses Prozesses analysiert werden können.

    Siegfried Saerberg diskutiert in seinem Artikel ein Spannungsfeld, in dem Inklusion als Prozess betrachtet wird, der das Recht behinderter Menschen gegen die ausschließende gesellschaftliche Ordnung durchsetzen soll. Dabei stellt der Autor die Gefahr heraus, durch die Etablierung vorgeblich inklusiver Regeln und Maßnahmen neue Exklusionen zu produzieren. Der Frage nach einer politischen Dimension der Inklusion wird mit einem auto-ethnografischen Zugang begegnet, der seine theoretische Rahmung durch die sozialkonstruktivistische Perspektive und die Ergänzung der Politizität nach Jaques Rancière erfährt. Siegfried Saerberg kommt zu dem Schluss, dass die Inklusionsforschung ihrer ursprünglichen Politizität mehr Rechnung tragen sollte.

    Die beiden nächsten Artikel greifen den Inklusionsbegriff und die hierum geführten Debatten auf, um nach einer möglichen Verhältnisbestimmung von Politik und Pädagogik zu fragen.

    Dabei stellt Christian Timo Zenke in seinem Beitrag einen Konnex zwischen den schulbezogenen Konzepten aus der inklusiven Pädagogik und der demokratischen Bildung her, der sich auf die Grundidee beider Konzepte stützt, Schule als einen Teil der demokratisch verfassten Gesellschaft zu verstehen. Die daraus resultierenden Potenziale und Möglichkeiten für den Bereich der Inklusionsforschung und den Ansatz der “Freien Demokratischen Schule” diskutiert der Autor vor dem Hintergrund des auf John Dewey zurückgehenden Konzepts der Schule als “Gesellschaft im Kleinen“. Die Diskussion mündet in der Thematisierung einer “Marriage of Inclusive and Democratic Education” (Boban et.al., 2012), aus der Chancen einer stärkeren Verknüpfung von inklusiver und demokratischer Pädagogik herauskristallisiert werden.

    Ausgehend von den Turbulenzen, die im erziehungswissenschaftlichen Feld rund um das Wort Inklusion entstanden sind, schlagen die Autoren Erich Otto Graf und Raphael Zahnd einen Ordnungsversuch vor. Dabei beziehen sie sich einerseits auf die Feldtheorie Ludwik Flecks und anderseits auf die Denkstiltheorie von Kurt Lewin. Vor dem Hintergrund der Feldtheorie wird diskutiert, warum Inklusion als politisches Konzept relativ ungefiltert im erziehungswissenschaftlichen Diskurs auftaucht, während mit Flecks Denkstilltheorie danach gefragt wird, in welchem Zusammenhang die (Ent-)Politisierung von Forschung mit Macht und Prestige der Wissenschaft steht. Unter Miteinbezug von beiden Theorien zeigen Erich Otto Graf und Raphael Zahnd zudem auf, inwiefern politische Bewegungen und wissenschaftliche Akteur:innen die Umsetzung von Inklusion auch erschweren können. Abschließend eröffnen die Autoren eine Möglichkeit, wie den Turbulenzen rund um Inklusion begegnet werden könnte.

    Die drei Beiträge, welche die Ausgabe schließen, ringen um mögliche Positionierungen von Inklusionsforschung als politischer Forschung.

    Unter der Annahme eines relationalen Verhältnisses von Inklusion und Exklusion widmet sich der Beitrag von Mandy Hauser, Saskia Schuppener & Hannah van Ledden den Bedingungen an Hochschulen, unter denen wissenschaftliche Erkenntnisse zum Themenfeld Inklusion hervorgebracht werden. Dabei stellen die Autorinnen die Exklusivität des tertiären Bildungssektors sowie die damit verbundenen Konsequenzen und Widersprüche heraus. Aus wissenschaftstheoretischer und -soziologischer Perspektive formulieren sie Ansprüche, die an die Politizität der Inklusionsforschung gestellt werden (müssen).

    Mirko Moll stellt in seinem Beitrag erkenntnispolitische Fragen der Versammlung von Dingen, Sachen und Objekten, die für die Inklusionsforschung fruchtbar gemacht werden können. Dafür unterbreitet der Autor den Vorschlag, das Politische in der Inklusionsforschung in der Beziehung der Nähe anstatt der Distanz zu den Gegenständen zu suchen. Mit dem theoretischen Einsatz Bruno Latours wird eine relationale Vorstellung des Sozialen erarbeitet. Dabei steht die Frage, wer sich in Forschung auf welche Weise (warum) um was versammelt im Mittelpunkt. Die Auseinandersetzung damit mündet im vom Autor entwickelten Konzept von Forschung als Versammlung, das Dinge und Objekte als Sachen – Sachen von Belang und als Sachen der Sorge – versteht und analysiert.

    Zuletzt skizziert Oliver Flügel-Martinsen in seinem Beitrag die Idee einer politischen Theorie, die Politik, Wissenschaft und Gesellschaft einer kritischen Befragung unterzieht und dabei besonderes Augenmerk auf Ausschließungsverhältnisse legt. Diese kritische Befragung leistet einen wichtigen Beitrag zur interdisziplinären Diskussion. Der Autor expliziert, wie sich entlang der in der jüngeren Politischen Theorie diskutierten Unterscheidung von Politik und Politischem eine demokratietheoretisch instruktive Wissenschafts- und Gesellschaftskritik formulieren lässt.

    Wir wünschen viel Freude beim Lesen der heterogenen Einsätze zur Frage der politischen Dimension der Inklusionsforschung und hoffen, dass diese Ausgabe wichtige Impulse zu einer Debatte beitragen kann, die sich noch lange nicht erledigt hat und immer wieder aufs Neue zu führen ist.

    Mira Brummer, Jens Geldner-Belli & Gertraud Kremsner

  • 2-2022

    Gerechter inklusiver Unterricht? Didaktische Ansätze, Forschungsperspektiven und kritisch-theoretische Impulse

    Die Frage nach dem Verhältnis von inklusivem Unterricht und (Bildungs-)Gerechtigkeit ist  hochkomplex und kann aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Zugangsweisen heraus kritisch betrachtet und diskutiert werden. Während Gerechtigkeitsfragen im alltäglichen Gebrauch des Inklusionsbegriffes latent mitzuschwingen scheinen, wird das Verhältnis von Inklusion und Gerechtigkeit wissenschaftlich eher selten explizit zum thematischen Gegenstand allgemeindidaktischer, unterrichtsforschungsbasierter oder theoretischer Reflexionen und Debatten. Dieses Desiderat möchten wir mit diesem Themenheft aufgreifen, in dem sich die Beiträge des Heftes ausdrücklich mit der Frage nach gerechtem inklusivem Unterricht auseinandersetzen. Zugleich eint diese gemeinsame Fragestellung die unterschiedlichen wissenschaftlichen Zugangsweisen der Beiträge. Aufgrund theoretischer, didaktischer oder empirischer Annäherungen wird eine insgesamt perspektivenreiche Betrachtung und Debatte ermöglicht. Durch das Mit- und unmittelbare Nebeneinander von empirischen und didaktischen Beiträgen über Unterricht setzt das Heft Impulse zur Diskussion, ob empirische Unterrichtsforschung und Allgemeine Didaktik „als Gegenpole oder Konkurrenten gekennzeichnet“ (Rothland 2018, 370) werden können oder diese sich gegenseitig befruchten (Seel & Zierer 2018, 384f).
    Im Folgenden markieren wir zunächst knapp für die Frage nach gerechtem inklusivem Unterricht relevante Spannungsfelder und Desiderate und geben Einblick in aktuelle Diskursschwerpunkte zur Unterrichtsforschung und Allgemeinen Didaktik. Daran anschließend stellen wir überblicksartig die einzelnen Beiträge in diesem Heft vor, die zu einer mehrperspektivischen Debatte um gerechten inklusiven Unterricht beitragen können.
    So lässt sich im Zuge der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit  Inklusion eine Bewegung hin zu einer stärker menschenrechtlichen und weg von einer zuvor diskursdominierenden meritokratischen Fassung von Bildungsgerechtigkeit verzeichnen (vgl. Heinrich 2015, 235), die gegenüber den seit den 1970er Jahren immer wieder präsenten Ausführungen um Bildungs- und Leistungsgerechtigkeit (vgl. u.a. Eckert & Gniewosz 2017; Kiel & Kahlert 2017; Meyer & Vorholt 2011) neu akzentuiert ist. Bspw. fordert Art. 24 des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen der Vereinten Nationen das „Recht von Menschen mit Behinderungen auf Bildung“ (CRPD, Art 24), das u.a. auch die Entfaltung des Selbstwertgefühls und der Persönlichkeit umfasst (vgl. ebd.). Dieser Anspruch lässt sich im Sinne des weiten Inklusionsbegriffes (bspw. Löser & Werning 2015, 17) als grundsätzlicher für alle Schülerinnen und Schüler formulieren. Dennoch sind prominente Forschungszugänge zum inklusiven Unterricht auch aktuell noch oft durch das „Integration-über-Leistung-Paradigma“ (Heinrich & te Poel 2018, 254) gekennzeichnet, wenn versucht wird, den Bildungserfolg von Schülerinnen und Schülern mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf im gemeinsamen Unterricht anhand ihrer kognitiven Kompetenzen mittels Leistungstestes zu ermitteln (vgl. bspw. Kocaj, Kuhl, Kroth, Pant & Stanat 2014; dazu auch Heinrich & te Poel 2018). Studien, die Kompetenzzuwächse im inklusiven Unterricht in den Fokus rücken, bilden einen Schwerpunkt innerhalb der Forschungszugänge zu inklusivem Unterricht bzw. insbesondere zu dessen Konsequenzen. Die Frage nach Entwicklungsprozessen jenseits von Leistungsparadigma und -messung im inklusiven Unterricht wird bislang weniger umfassend beleuchtet, auch wenn manche Studien dazu vorliegen (bspw. Neumann, Grüter, Lütje-Klose & Wild 2018).
    Ein weiterer Fokus aktueller inklusionsbezogener Unterrichtsforschungen liegt auf der multi- und interprofessionellen Kooperation im inklusiven Unterricht. In den Blick der Unterrichtsforschung genommen werden bspw. das unterrichtliche gegenseitige Adressierungsgeschehen der multi- bzw. interprofessionellen Teams und Akteur*innen (bspw Moldenhauer & Langer 2021; te Poel 2021a). Auch werden die Art und Weise der unterrichtlichen Rollenverteilung und -differenzierung der professionellen Akteur*innen in den Blick genommen (bspw. Arndt & Werning 2013; Arndt & Gieschen 2013; Kunze 2015, te Poel 2019), der Zusammenhang von multi- bzw. interprofessioneller Kooperation und inklusiver Unterrichtsentwicklung beleuchtet (bspw. Lütje-Klose & Urban 2014; Demmer & Hopmann 2020) oder die Perspektive der Schüler*innen auf das Kooperationsgeschehen der unterschiedlichen professionellen Akteure im Unterricht (bspw. Schwab 2017) eingeholt ebenso wie die Perspektive der Professionellen auf dieses Geschehen (bspw. Pool Maag & Moser Opitz 2014; Heinrich, Arndt & Werning 2014). Die Frage, ob und inwiefern die multi- und interprofessionelle Unterrichtskooperation als Facette von inklusivem Unterricht und inklusiver Schule auch bildungsgerechtigkeitsrelevant ist und Dimensionen der Teilhabe, Leistungs- und Anerkennungsgerechtigkeit berührt, bleibt innerhalb der Studien zu dieser Facette inklusiven Unterrichts bislang weitestgehend offen und darf ebenso wie die Frage nach didaktischen Implikationen der Kooperation weitgehender diskutiert werden.
    Neben multiprofessionellen Kooperationen und Kompetenzzuwächsen als Schwerpunkte inklusiver Unterrichtsforschung finden sich auch Forschungen, die sich mit den Rahmenbedingungen inklusiven Unterrichts und der Umsetzung von Lehr-Lernkonzepten und Methoden befassen. Greiten (2018) beispielsweise beforscht qualitativ-inhaltsanalytisch anhand von Experteninterviews mit Fach- und Förderlehrpersonen die Planungen inklusiver Unterrichtssetting und dabei insbesondere die jeweils zugrunde liegenden Planungsbegriffe. Sie zeigt u.a., dass Förderlehrer*innen stärker teilgruppen- oder einzelfallorientiert sowie lernwegdifferenzierter planen, während die Planungen der Fachlehrkräfte stärker klassenorientiert sind (vgl. 178). Auch Wacker und Bohl (2018) nehmen den unterrichtlichen „Umgang mit Heterogenität“ in inklusiven Schulen in den Blick, wenn sie die Einführung von Gemeinschaftsschulen wissenschaftlich unter anderem durch Unterrichtsbeobachtungen begleiten (vgl. 321, 326) und dabei u.a. feststellen, dass „alle [...] Starterschulen [...] individuelle Lernformen, die niveaudifferenzierte Aufgaben für die Lernenden beinhalten“ (ebd., 326) umsetzen und auch niveau- und aufgabendifferenzierte Unterrichtsmaterialen entwickelt werden (vgl. ebd., 328). Unter Einbezug der Schüler*innenperspektive betrachtet hingegen te Poel (2021b) den niveaudifferenzierten Einsatz von Arbeitsaufgaben qualitativ-rekonstruktiv und kontextualisiert die Ergebnisse anerkennungstheoretisch. Die so akzenturierten Ergebnisse zeigen, dass gerade der Einsatz niveaudifferenzierter Unterrichtsmaterialien mit einem Erleben von Missachtung auf Schüler*innenseite verbunden sein kann, welches sich als kritisch und bildungsgerechtigkeitsrelevant erweist (vgl. 72ff.). Weitere empirische Studien, die Praktiken inklusionsorientierter Unterrichtsführung aus Schüler*innen- und Gerechtigkeitsperspektive beleuchten, sind bergüßenswert.
    Während sich die Unterrichtsforschung zu inklusivem Unterricht in den letzten Jahren breit aufgestellt und etabliert hat, ist eine empirische Bearbeitung zu konkret inklusionsdidaktischen Fragestellungen in diesem Kontext gerade in jüngerer Vergangenheit kaum sichtbar. Ein Grund kann m.E. nach Rucker (2017, 618) darin liegen, dass auch die Theoriebildung selbst in der Allgemeinen Didaktik stagniere, was eine ‚Nicht-Beachtung’ dieser Disziplin im gesamten wissenschaftlichen Diskurs mit sich bringt. Dies lässt sich auch für die inklusive Didaktik konstatieren, folgt man Giese (2019)  „auf der Suche nach dem Forschungsstand“ (Giese 2019, 26) zu inklusionsdidaktischen Fragestellungen. Zuforderst sieht man sich  im Rahmen der Unterrichtsforschung wie auch in den Bemühungen um eine allgemeine inklusive Didaktik  mit der Herausforderung konfrontiert, dass in vorliegenden Untersuchungen und Beiträgen entweder überhaupt nicht oder unterschiedlich systematisch zwischen Integration und Inklusion differenziert wird. Beim Versuch einer Zusammenschau des Forschungsstandes erweist sich somit „eine stringente Darstellung des korrespondierenden Forschungsstandes aufgrund der disparaten Terminologie [als] schwierig“ (ebd.). Dennoch finden sich ältere didaktische Ansätze im Kontext Integration/ Inklusion, die im Inklusionsdiskurs Beachtung finden und deshalb als Ausgangspunkt für die empirische Untersuchung inklusionsdidaktischer Fragestellungen dienen können. In diesem Kontext nennen Wilhelm et al. (2002, 46) folgende didaktische Ansätze, die ihrer Einschätzung nach Schulen bei der Umsetzung inklusiven Unterrichts unterstützen und nach Feyerer (2003) in den Kontext inklusiver Bildungsprozesse gestellt werden können: Die entwicklungslogische Didaktik nach Feuser (1989); die subjektive Didaktik nach Kösel (1997); der projekt- und handlungsorientierte Unterricht nach Dewey (2000) oder Gudjons (2001) und  die kommunikative Didaktik nach Popp (1976). Ergänzend sind mit Lang et al. noch Ansätze zu nennen, die „ihren Fokus speziell auf den inklusiven Unterricht richten“ (Lang et al. 2008, 87): die Entwicklungsdidaktik nach Eichelberger und Wilhelm (2003) (bei der allerdings weder Lehren noch Unterrichten, sondern Anregen und Unterstützen bei der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben im Sinne Havighurst (1972) im Mittelpunkt didaktischer Aufgaben stehen), der sfondo integratore (integrativer Hintergrund) von Canevaro (1996) und das adaptierte Modell der didaktischen Rekonstruktion (Seitz 2004). Zusätzlich ist in diesem Kontext auf die inklusive Didaktik von Reich (2014) zu verweisen, auch wenn sich dieser in seinen Überlegungen nicht auf das enge Feld der allgemeinen Unterrichtsdidaktik beschränkt.  Alle angeführten Ansätze unternehmen keine systematische Unterscheidung zwischen Integration und Inklusion, was auf das Desiderat in der Grundlagenforschung zu Inklusion in diesem speziellen Feld verweist. Auch lässt sich erkennen, dass genannte Ansätze zwar Überlegungen zu einer inklusiven Didaktik sinnvoll befruchten können, der Prozess, wie das geschehen mag, jedoch kaum systematisch aufgearbeitet wird (Giese 2019, S. 28).
    Ein weiterer Grund für die Ermangelung empirischer Forschung zu inklusionsdidaktischen Fragestellungen ergibt sich daraus, dass Inklusion zunächst in erster Linie als ein „humanitäres und schulisches Postulat“ angesehen  und nicht als didaktische Idee gedacht wurde (Lang et al. 2008, 87). Demzufolge blieben die Diskussion und auch die konkrete empirische Forschung lange Zeit aus, u.a. auch deshalb, weil bezweifelt wurde, ob es überhaupt einer eigenen integrativen bzw. inklusiven Didaktik bedarf (z.B. Seitz 2006). Die Notwendigkeit der Weiterentwicklung einer inklusiven Didaktik in Theorie, Forschung und Unterrichtspraxis wird  jedoch bereits u.a. von Feuser (2008) betont, der die Einlösung einer inklusiven Unterrichtspraxis an die Frage nach einer adäquaten Didaktik knüpft (ebd., 122). Reich merkt hierzu ergänzend an, dass „inklusive Schulreformen und inklusive Umsetzungen […] dann leicht scheitern, wenn sie nicht bis in die konkrete Praxis und auf allen Handlungsebenen durchdacht und didaktisch konkretisiert werden“ (Reich 2014, 52). Der entwicklungslogischen Didaktik von Feuser (1989, 1998, 2008) wird im Rahmen des bestehenden Diskurses dabei eine große Bedeutung zugesprochen, da es sich um ein didaktisches Konzept handelt, das vornehmlich für den Unterricht in heterogenen Lerngruppen entwickelt wurde und fundiert theoretisch begründet ist. Insbesondere kritisiert Feuser (1989, 1998, 2008), dass sich  immer noch methodisch-didaktische Ansätze finden, die einseitig einer Sachstrukturanalyse der Lerngegenstände verpflichtet sind, was v.a. zum Ausschluss von der Teilnahme an bestimmten Schultypen für all diejenigen Schülerinnen und Schüler führt, die z.B. bestehende normwertorientierte Leistungskriterien nicht erfüllen. Nach Giese (2019, 30) ist die „Folge dieser Situation […] ein parzelliertes Bildungsangebot und ein damit verbundener pädagogischer Redaktionismus, den Feuser als extrem anachronistisch (Herv. Im Orig.) bezeichnet, weil er den aktuellen Erkenntnisstand in der pädagogischen Forschung sträflich ignoriert“. Auch der Ansatz von Seitz (2006) erweist sich im Kontext der Überlegungen als bedeutsam. Sie merkt nicht nur an, dass „die Integrations-/ Inklusionsforschung über lange Zeit hinweg didaktische Fragen stark vernachlässigt“ (Seitz 2006, o.SA) hat, sondern bescheinigt dem didaktischen Inklusionsdiskurs auch eine Wirkungsproblematik. Dies begründet sie damit, dass „in den aktuellen Diskussionen zur Bildungsgerechtigkeit und zur strukturellen Verankerung von Heterogenität im Schulwesen […] nur höchst selten auf vorliegende Ergebnisse der Integrations- und Inklusionsforschung zurückgegriffen“ wird (Seitz 2008, 175). Ursachen hierfür sieht sie in der überwiegend fehlenden Bearbeitung didaktischer Fragestellungen im Inklusionsdiskurs. Wenn didaktische Fragen überhaupt berücksichtigt werden, konzentrieren sich diese v.a. auf die Diskussion von Handlungs- bzw. Sozialformen. Inhaltsfragen blieben überwiegend unberücksichtigt, „obgleich gerade diese für das didaktische Handeln in inklusiven Klassen die größte Herausforderung dazustellen scheinen“ (ebd.). Zusammenfassend lässt sich mit Pech et al. (2017) folgern, dass es eine Aufgabe zukünftiger Forschung sein wird, erste Entwürfe einer inklusiven Didaktik zu diskutieren und empirisch zu überprüfen. Von besonderer Bedeutung ist dabei zu berücksichtigen, dass inklusive Didaktik „u.a. in Bezug auf Themen und Inhalte des Unterrichts durch das Spannungsverhältnis von Individualisierung […] und Gemeinsamkeit […] geprägt“ (Frohn et al. 2019, 25; auch Müller & Pfrang 2021 a,b) ist. Auch bei der empirischen Bearbeitung inklusionsdidaktischer Fragestellungen gilt es diese beiden Pole und das daraus resultierende Spannungsverhältnis kritisch-reflexiv in die Überlegungen einzubeziehen (Kullmann et al. 2014, 91), damit dem Anspruch einer inklusiven Pädagogik auch im Hinblick auf Gerechtigkeit nachgekommen wird.
    Auffällig ist weiterhin, dass die wenigen didaktischen Auseinandersetzungen zum inklusiven Unterricht überwiegend aus fachdidaktischer Perspektive geführt werden (z.B. Frohn et al. 2019; Amrhein et al. 2014, Seitz 2006). Individualisierung und Differenzierung, selbstreguliertes Lernen (Mejeh & Hascher 2020; Riethmayer 2015) und Adaptive Teaching (Hardy et al. 2019; Corno 2008) als Theorien aus der psychologischen Lehr-Lernforschung dominieren in diesem Kontext den Diskurs. Vor allem diese zuletzt genannten Konzepte fokussieren auf ein stark individualisiertes Lernverständnis, das sich losgelöst von Gruppenprozessen vollzieht. Diese Auseinandersetzung ist von dem Leitgedanken geprägt, dass alle Heranwachsenden ihre maximale Lern- und Leistungsfähigkeit im Sinne individueller Selbstverwirklichung durch entsprechende ‚didaktische Anleitung’ entfalten können. Überlegungen zu einem ‚gerechten’ inklusiven Unterricht verweisen jedoch darauf, dass sich Gerechtigkeit auch im Miteinander innerhalb einer Lerngruppe (Müller & Pfrang 2021a) und in der einzelfallbezogenen Interaktion zwischen Lehrperson und Schüler*in (vgl. te Poel 2021b) vollzieht, so dass z.B. das Lernen von Solidarität, Selbst- und Mitbestimmung (Klafki 2007) auf Beziehungen und Interaktionen angewiesen ist (Pfrang & Müller 2022) ebenso wie diese Beziehungen und Interaktionen zugleich die Basis bilden für die Ermöglichung von schulischer Einsozialisation, Persönlichkeitsentwicklung und Bildung (vgl. te Poel 2020; 2021b).
    Insbesondere eine inklusive Didaktik darf deshalb nicht nur der Frage nachgehen, wie Schülerinnen und Schüler individuell lernen, sondern auch, wie und was sie mit- und voneinander lernen können und sollen und welche Rolle der Lehrperson auch als Person für die Lern- und Entwicklungsproesse zukommt. In Anlehnung an die Überlegungen einer integrativen Didaktik (z.B. Feuser 1998; Wocken 1998) konstatiert Neuhoff (2015), dass auch der sozial-ethische Gehalt von Bildung in inklusiven Kontexten vermehrt Anerkennung finden muss. Insgesamt scheint jedoch die Frage nach konkreten Bildungsinhalten und Bildungszielen bislang für eine inklusive Didaktik ungeklärt zu sein, was durch die Forderung von Seitz (2004) nach einem gemeinsamen Kerncurriculum für alle Schülerinnen und Schüler bekräftigt wird.
    Im Zuge dieser Überlegungen erscheint es lohnenswert, sich gerade im Kontext der Entwicklung einer inklusiven Didaktik bspw. auch mit der Frage auseinanderzusetzen, wie Teilhabe als reziproker Prozess zwischen Individuum und Gemeinschaft gelehrt und gelernt werden kann (Müller & Pfrang 2021b) und welchen Beitrag pädagogische Theorien des Lernens (z.B. Göhlich, Wulf & Zirfas 2014; Meyer-Drawe 20012) für die Weiterentwicklung einer inklusiven Didaktik leisten können. Letztendlich ist es Aufgabe der allgemeinen Didaktik, die Frage nach einer gerechten schulischen Bildung für alle didaktisch-methodisch ebenso zu beantworten wie die Frage, auf welche Art und Weise Unterricht allen Lernenden trotz oder gerade wegen unterschiedlicher Voraussetzungen gerecht werden kann. In der allgemeindidaktischen Auseinandersetzung mit der Frage nach einem ‚gerechten’ inklusiven Unterricht lassen sich unterschiedliche Spannungslinien aufzeigen, die Konsequenzen für didaktische Planung und Gestaltung implizieren. Freiheit, Gleichheit und Teilhabe (Müller & Pfrang 2021b) können sich hierbei beispielsweise gegenseitig ergänzen, aber auch einschränken. Besonders in inklusiven Lernsettings, in denen sich Heterogenität potenziert, kann die Spannung zwischen Freiheit, Gleichheit und Teilhabe für alle Beteiligten erleb- bzw. erfahrbar werden (Fritzsche 2015). Klafki (2007) ordnet vielfältige Bildungsziele auf der Freiheitsebene der Selbstbestimmungsfähigkeit zu, die auf der Gleichheitsebene liegenden der Mitbestimmungsfähigkeit und die an der Teilhabe orientierten der Solidaritätsfähigkeit. Das Spannungsverhältnis dieser Bildungsziele zueinander wird in den allgemeindidaktischen Theorien kaum thematisiert, obwohl es für einen ‚gerechten’ inklusiven Unterricht möglicherweise zu großen Herausforderungen führen kann, die pädagogisch-didaktisch in der Unterrichtspraxis im Sinne eines ‚qualitätsvollen’ Unterrichts (Berliner 2015) zu bearbeiten sind. In diesem Kontext ist es bspw. von Interesse, folgenden Fragestellungen nachzugehen: Wie kann man das Spannungsverhältnis von Freiheit und Gleichheit im Unterricht didaktisch gerecht ausbalancieren und so  das Lehren und Lernen von Teilhabe an einer normorientierten Gemeinschaft als Ziel einer jeden Pädagogik ermöglichen (Müller & Pfrang 2021a)?
    Im Hinblick auf die Effektivität des inklusiven Unterrichts liegen zahlreiche Befunde aus der Unterrichtsforschung vor. Nun ist auch die inklusionsdidaktische Forschung gefragt, ihre Theorien in der Ausrichtung an den normativen Wertvorstellungen und Zielperspektiven von Inklusion zu reflektieren und weiterzuentwickeln. Wenn Didaktik nach Seel und Zierer (2018) als die ‚Lehre vom guten Untericht’ verstanden wird, impliziert dies die Fundierung einer didaktisch orientierten empirischen Forschung  zu inklusivem Unterricht. Dies beinhaltet auch die empirische Aufarbeitung von inklusionsdidaktischen Fragestellungen mit Blick auf  sozial-ethische Bildungsinhalte.

    Entsprechend steigen wir mit Reflexionen zum Zusammenhang von inklusionsorientierter Didaktik und Bildungsgerechtigkeit ein. Julia Frohn und Toni Simon bieten in ihrem Beitrag „Inklusive Didaktik und Bildungsgerechtigkeit – eine Verhältnisbestimmung“ einen inklusionspädagogischen Zugang zu Bildungsgerechtigkeit, indem sie letztere anerkennungstheoretisch  definieren. Dieses Verständnis von Gerechtigkeit ermöglicht es, prominente didatische Modelle des 20. Jahrhunderts aus einer inklusionsorientierten Perspektive auf Bildungsgerechtgkeit zu analysieren und über das „Didaktische Modell für inklusives Lehren und Lernen“ als Heuristik neu zu denken. Übergeordnet wird der Frage nachgegangen, ob eine inklusionsorientierte Didaktik Bildungsgerechtigkeit fördern kann oder aber konzeptionell mit dieser bereits in Verbindung steht.

    Ricarda Rübben geht in ihrem Aufsatz  mit dem Titel „Das Leistungsprinzip als Hindernis für (Teilhabe-)Gerechtigkeit im inklusiven Unterricht? Eine kritisch-theoretische Betrachtung“ der Frage nach einer möglichen Vereinbarkeit von Teilhabeansprüchen an den inklusiven Unterricht mit dem Leistungsprinzip von Schule nach. Bestehende Kritik am Leistungsprinzip analysiert sie ebenso wie Alternativen zum Leistungsprinzip. Unter gerechtigkeitstheoretischen Abwägungen kommt sie zu dem Ergebnis, dass das Leistungsprinzip von Schule Teilhabegerechtigkeit im inklusiven Unterricht nicht entgegen stehen muss.

    Vertiefend setzt sich auch Ulrike Müller mit Fragen der Teilhabe aus Perspektive der Unterrichtsforschung auseinander. Sie stellt Partizipation als ein zentrales Kinderrecht in den Mittelpunkt ihres Beitrags „Was ist gerecht? Zur Berücksichtigung einen kindlichen Gerechtigkeitsverständnisses für eine inklusive Unterrichtsentwicklung und diesbezügliche Forschungsperspektiven“.  Dabei geht sie der Frage nach, inwiefern die kindliche Perspektive auf Gerechtigkeit überhaupt Beachtung bei der Beforschung und Betrachtung von inklusivem Unterricht findet. Zusätzlich setzt sie diese Frage auch in Beziehung zu Kriterien und Konzepten eines inklusiven Unterichts wie er derzeit betrachtet wird. Ziel des Beitrages ist es, weitere Forschungsperspektiven für den inklusiven Unterricht u.a. aus der Perspektive von Kindern  zu eröffnen und entwicklen. 

    Matthias Trautmann rundet das Heft mit einer verteilungstheoretischen Perspektive auf Gerechtigkeit ab. Er  fokussiert in seinem Beitrag „(Inklusiv) Unterrichten als Gerechtigkeitsproblem zur Verteilung von Ressourcen von Lehrerinnen und Lehrern unter den Schülerinnen und Schülern einer Lerngruppe“ die Rechtsnorm einer indivduellen Förderung aller Lernenden. Diese ist mit dem Anspruch an Lehrerinnen und Lehrer verbunden, in einem inklusiven Unterricht alle Schülerinnen und Schüler bestmöglich zu unterstützen. Im Beitrag wird dieser Anspruch mit Blick auf begrenzete Ressourcen in seiner Realisierung problematisiert. Dabei wird die Perspektive von Regelschullehrpersonen als ein Bereich fokussiert, in dem diese unter Berücksichtigung zahlreicher organisatorischer Regelungen und institutioneller Vorgaben Entscheidungen im Hinblick auf ihre Schülerinnen und Schüler treffen und verantworten müssen. Dieser Entscheidungsraum berührt grundsätzlich auch gerechtigkeitstheoretische Fragen. Einerseits werden in dem Beitrag theoretische Fragen zur Distribution begrenzter unterrichtlicher Ressourcen und andererseits empirische Befunde zu Gerechtigkeitsüberzeugungen und Allokationspraktiven von Lehrerinnen und Lehrern erörtert. Mit diesen Überlegungen wird u.a aufgezeigt, dass Unterichten nicht nur eine technische, sondern auch eine gerechtigkeitsbezogene Tätigkeit ist.

     

    Gastherausgeberinnen: Kathrin Müller, Agnes Pfrang, Kathrin te Poel

     

    Literatur:
    Amrhein, B., Dziak-Mahler, M., Ameln-Haffke, H., Barsch, S., Becker, F., Böing, U., Booth, T. & Erbring, S. (Hrsg.) (2014). Fachdidaktik inklusiv. Auf der Suche nach didaktischen Leitlinien für den Umgang mit Vielfalt in der Schule. Münster: Waxmann.
    Arndt, A.-K. & Gieschen, A. (2013). Kooperation von Regelschullehrkräften und Lehrkräften für Sonderpädagogik im gemeinsamen Unterricht. Perspektiven von Schülerinnen und Schülern. In R. Werning & A.-K. Arndt (Hrsg.), Inklusion: Kooperation und Unterricht entwickeln (S. 41-62). Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
    Arndt, A.-K. & Werning, R. (2013). Unterrichtsbezogene Kooperation von Regelschullehrkräften und Lehrkräften für Sonderpädagogik. Ergebnisse eines qualitativen Forschungsprojektes. In R. Werning & A.-K. Arndt (Hrsg.), Inklusion: Kooperation und Unterricht entwickeln (S. 12-40). Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
    Berliner, D. C. (2005). The Near Impossibility of Testing for Teacher Quality. Journal of Teacher Education, 56 (3), 205-213. https://doi.org/10.1177/0022487105275904 [25.05.2021].
    Canevaro, A. (1996). Behinderte Menschen im Spannungsfeld zwischen Problemen und Möglichkeiten. http://bidok.uibk.ac.at/library/canevaro-spannungsfeld.html [18.01.2022].
    Corno, L. (2008). On teaching adaptively. Educational Psychologist, 43(3), 161-173. https://doi.org/10.1080/00461520802178466 [07.02.2022].
    CRPD (Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen) vom 13. Dezember 2006. https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/menschenrechtsschutz/deutschland-im-menschenrechtsschutzsystem/vereinte-nationen/vereinte-nationen-menschenrechtsabkommen/behindertenrechtskonvention-crpd [07. 02. 2022].
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  • 1-2022

    Schule – Familie – Inklusion. Einblicke in ein komplexes Feld inklusiver Schulentwicklung

    Die Zusammenarbeit zwischen Schule und Eltern gilt als „essentielles Gestaltungsmoment inklusiver Beschulung“ (Wild & Lütje-Klose, 2017, S. 129). Deutlich wird dies umso mehr, wenn Inklusion nicht im engeren Sinne als inklusive Beschulung in Bezug auf die Kategorie Behinderung/sonderpädagogischer Förderbedarf gedacht wird, sondern einem weiten Inklusionsverständnis folgend als pädagogische Leitorientierung mit dem Ziel der Vermeidung von Diskriminierung und der Entwicklung von Teilhabe in einer Schule der Vielfalt (Ainscow, Booth, Dyson et al., 2006). Denn dem Verhältnis zwischen Familie und Schule wird zum einen in Hinblick auf den Bildungserfolg von Schüler*innen große Bedeutung zugeschrieben (OECD, 2018), zum anderen wird dessen Bedeutung für eine „sozial gerechte Bildung“ (Gomolla, 2009, S. 21) betont.
    Allerdings trifft die Anforderung einer lernförderlichen Zusammenarbeit zwischen Schule und Familie auf sehr unterschiedliche Ausgangslagen – sowohl auf Ebene der Einzelschule als auch der Lehr- und Fachkräfte sowie der Familien. Dabei kommen Killus und Paseka (2016) in Bezug auf den deutschsprachigen Diskussions- und Forschungsstand zwar zu der Einschätzung, dass sich das Verhältnis zwischen Eltern und Lehrkräften nicht pauschal als konflikthaft werten lässt und diese zur Kooperation miteinander positiv eingestellt seien. Schulen seien aber bisher „wenig erfolgreich“ (Killus & Paseka, 2016, S. 157) darin, Eltern aus „schwächeren sozialen Schichten und Eltern mit Migrationshintergrund“ (ebd., 2016, S. 157) zu gewinnen. Insgesamt macht der Forschungsstand vor allem auf strukturelle Barrieren (insb. Mittelschichtorientierung, Normalitätskonstruktion von Elternschaft, sprachliche und kulturelle Einseitigkeit, Defizit- und Leistungsorientierung in Schulen, ökonomische Situation der Familie) aufmerksam (z.B. Betz & Kayser, 2016; Blossfeld, 2018; Blossfeld, Blossfeld & Blossfeld, 2019; Fürstenau & Hawighorst, 2008; Kayser & Betz, 2015; Kotthoff, 2012), die zu negativen Erfahrungen von Eltern mit Schule und daran anschließender „Zurückhaltung“ (Killus & Paseka, 2016, S. 158) gegenüber der Schule führen können (Harris & Goodall, 2007; Wippermann & Wippermann, 2013).
    Aufgrund der Bedeutung des Themas für die Entwicklungen zu einem inklusiven Schulsystem freuen wir uns sehr darüber, dass im Rahmen dieses Themenheftes insgesamt zehn Beiträge zum Themenfeld Schule –  Familie – Inklusion Einblicke in dieses komplexe Verhältnis geben können. Dabei bedanken wir uns sehr herzlich bei den Autor*innen der Beiträge, den Herausgeber*innen der Zeitschrift für Inklusion-online für ihre organisatorische Unterstützung, den Gutachter*innen für die konstruktiven kritischen Hinweise und den studentischen Mitarbeiter*innen, ohne deren jeweiligen Beitrag dieses Themenheft nicht möglich gewesen wäre. Die Beiträge dieses Themenheftes lassen sich in drei Themenbereiche clustern:
    In Teil A des Heftes finden sich Beiträge zu Erfahrungsperspektiven von Eltern und ehemaligen Schüler*innen auf schulische Inklusions- und Exklusionsprozesse. Nachdem es vor allem Eltern von Kindern mit Behinderungen waren, die sich im deutschsprachigen aber auch internationalen Raum für die Integration ihrer Kinder in die allgemeine Schule eingesetzt haben (Biewer, 2009; Lalvani & Hale, 2015; Schnell, 2003), lässt sich beobachten, dass sich in den letzten Jahren immer häufiger Eltern für den Erhalt der Sonderschule aussprechen (Gasteiger-Klicpera, 2016). Eine Begründung dafür könnte sein, dass das allgemeine Bildungssystem den Bedürfnissen der Kinder nicht gerecht wird (Lelgemann, Singer, Walter-Klose & Lübbeke, 2013). Die Beiträge in diesem Teil widmen sich verschiedenen Aspekten der ambivalenten Situation von Eltern.
    Teil B widmet sich den Themen Elternwahlrecht und Schulwahl, denn erste Herausforderungen entstehen für Familien von Kindern mit Behinderungen bereits bei der Wahl der Schule. Der Zugang zu inklusiven Schulen wird von vielen Eltern als Kampf um Bildungsrechte beschrieben (Sasse, 2004), da Familien häufig weder über Möglichkeiten noch über Rechte informiert sind (Hausmann & Wingerter, 2013). Es liegt die Vermutung nahe, dass Familien aufgrund bildungsspezifischer Vorteile ihre Wünsche besser vorbringen und durchsetzen können und sich daher öfter für eine inklusive Schule entscheiden (können) (Klicpera, 2007). Dabei ist auch zu bedenken, dass das Schulwahlrecht von Eltern insbesondere in Richtung inklusiver Beschulung eingeschränkt und gleichzeitig genutzt wird, um bildungspolitisch und -administrativ weiterhin segregative Beschulungsformate zu legitimieren (Gasterstädt, 2020).
    Die Beiträge in Teil C des Heftes fokussieren Beteiligungsmöglichkeiten für Eltern sowie Vorstellungen zum Verhältnis von Schule und Elternhaus und Formen der Gestaltung der Eltern-Schule-Kooperation. Im Handlungsfeld der Kooperation mit Eltern gilt es, Teilhabechancen zu realisieren und Risiken für Exklusion zu reduzieren. Dabei ist „die besondere Lage der jeweiligen Familie“ (Sacher, 2008, S. 225) zu berücksichtigen. Schulen stehen daher vor der Herausforderung, gängige Konzepte zur Gestaltung der Elternarbeit sowie Beteiligungsmöglichkeiten an eine heterogene Schüler*innen- bzw. Elternschaft anzupassen. Schulen sind aufgefordert, „spezifische Strategien [zu] entwickeln, um alle Eltern zu involvieren, zu informieren und in einem gewissen Rahmen auch zu bilden“ (Fürstenau & Gomolla, 2009, S. 13). 


    Kurzbeschreibung der Beiträge

    Erfahrungsperspektiven auf schulische Inklusions- und Exklusionsprozesse

    Der Artikel von Viviane Blatter, Susanne Schriber, Carlo Wolfisberg und Mariama Kaba beschäftigt sich mit der Frage, welche Rolle Eltern bei der Initiierung und Durchführung von Integration/Inklusion bei Lernenden mit motorischen Beeinträchtigungen einnehmen. Dazu wurden 26 Erwachsene mit motorischen Beeinträchtigungen aus der Deutschschweiz interviewt. Die Ergebnisse zeigen, dass Eltern eine zentrale Bedeutung bei der Integration/Inklusion einnehmen; sie übernehmen Kompensationsleistungen, um strukturelle Barrieren zu überwinden, erbringen Zusatzleistungen und sie kämpfen um die schulische Förderung sowie die soziale Inklusion ihrer Kinder.
    Miriam Düber und Albrecht Rohrmann verdeutlichen mit Bezug auf das Konzept des ‚Ableism‘, wie Eltern mit sogenannter geistiger Behinderung in der Interaktion mit dem Bildungssystem Bildungs- und damit einhergehend auch Erziehungsunfähigkeit zugeschrieben wird. Um ihre subjektive Perspektive auf die Zusammenarbeit zwischen Schule und Elternhaus zu rekonstruieren, analysieren die Autor*innen Interviews mit Eltern, denen eine geistige Behinderung zugeschrieben wird.
    Der Beitrag von Anja Hackbarth arbeitet anhand eines Fallbeispiels heraus, wie sich aus Sicht einer Mutter eines Kindes mit Förderschwerpunkt ‚Geistige Entwicklung‘ Zuschreibungen auswirken. Die Erfahrungsperspektive wird als Ausgangspunkt für die Reflexion organisationaler Barrieren schulischer Inklusion aufgegriffen und reflektiert. Dabei wird die Zuschreibung des sonderpädagogischen Förderbedarfs explizit als eine Form von organisationaler Diskriminierung beschrieben und daher werden andere Formen der Ressourcenzuwendung gefordert.

    Elternwahlrecht und Schulwahl

    Martina Kalcher und David Wohlhart versuchen in ihrem Artikel die Sichtweise von Eltern von Kindern mit Behinderungen in Österreich auf das Elternwahlrecht darzulegen. Dazu wurden 50 Elternteile, deren Kinder eine Allgemeine Schule und acht Elternteile, deren Kinder eine Sonderschule besuchen, befragt. Der Großteil der Eltern spricht sich für die Aufrechterhaltung des Elternwahlrechts und in Folge der Sonderschule aus und begründet diese Entscheidung mit erheblichen Mängeln des inklusiven Schulsystems, wie z.B. soziale Ausgrenzung, segregierter Unterricht oder mangelnde Förderung, aber auch mit entlastenden Angeboten von Sonderschulen.
    Der Beitrag von Jan Christoph Störtländer, Johanna Gold, Kaya Reckmann und Annette Textor fragt nach Motivlagen von Eltern, ihr Kind an einer inklusiven Angebotsschule anzumelden. Analysiert werden dabei die Strategien von Eltern, Passung zwischen dem Angebot der Schule und ihrem Kind herzustellen. Grundlage bildet die inhaltsanalytische Auswertung von Auszügen aus den Bewerbungsschreiben der Eltern hinsichtlich der allgemeinen Struktur des Materials, der Nachfrage von und dem Angebot an Inklusion im Schulkonzept, so wie Eltern es rezipieren, und schließlich der spezifischen elterlichen Konstruktion des ‚normal-besonderen Kindes‘ im Bewerbungsprozess.

    Zusammenarbeit von Schule und Elternhaus im Kontext von Inklusion

    Der Beitrag von Tanja Pollmeier fokussiert die Zusammenarbeit von Schule und Elternhaus im Rahmen des Förderplanprozesses als Chance für Kinder mit Unterstützungsbedarf und fragt danach, in welcher Form eine Zusammenarbeit mit Eltern mit Blick auf die Förderung ihres Kindes geplant, umgesetzt sowie von den beteiligten Akteur*innen eingeschätzt und wahrgenommen wird. Dazu wurden Förderpläne quantitativ und qualitativ analysiert sowie Interviews mit Sonderpädagog*innen, Grundschullehrer*innen, Eltern und Kindern geführt und inhaltsanalytisch ausgewertet. Dabei zeigt sich eine in den Förderplänen zwar intensiv geplante und in der Praxis umgesetzte Zusammenarbeit der Lehrkräfte mit den Eltern, die allerdings in der Rolle der Informant*innen und Co-Förder*innen bleiben.
    Sebastian Gehrmann, Susanne Miller und René Schroeder greifen in ihrem Beitrag die Differenzkategorien Sonderpädagogischer Förderbedarf (SPF) und Soziale Benachteiligung (SB) auf und gehen mittels quantitativ-empirischer Analysen der Frage nach, wie sich die schulische Lern- und Leistungsentwicklung im Sinne schulischer Performance aus Sicht der Eltern darstellt. Weitere Themen sind die Beteiligung der Kinder an schulischen Aktivitäten, die soziale Integration und das Erleben der Kooperation mit Lehrkräften. Ein spannendes Ergebnis hierbei ist, dass Eltern von Kindern mit SPF tendenziell einen engeren Kontakt zu Lehrkräften als Eltern von Kindern ohne SPF haben. Bezüglich der SB zeigen sich leichte Unterschiede im Engagement zu Ungunsten der Eltern von Kindern mit SB.
    Im Beitrag von Sandra Grüter werden Zuständigkeitsvorstellungen von Eltern und Schulpersonal an inklusiven Schulen in Bezug auf Erziehungs- und Bildungsziele auf der Grundlage einer Fragebogenuntersuchung an inklusiven Sekundar- und Gesamtschulen in Nordrhein-Westfalen untersucht. Dabei wird deutlich, dass jeweils ein Teil der befragten Eltern- und Lehrer*innenschaft Erziehungsziele tendenziell in der Zuständigkeit der Eltern und die Vermittlung von Wissen in der Zuständigkeit der Schule sieht. Eltern von Kindern mit sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfen vertreten dabei häufiger Vorstellungen einer gemeinsamen Zuständigkeit.
    Davon ausgehend, dass im Rahmen inklusiver Schulentwicklung die Anforderung an Schulen betont wird, mit einer heterogenen Elternschaft umzugehen, fragen Julia Gasterstädt, Alica Strecker und Michael Urban danach, wie ‚inklusive‘ Schulen der Sekundarstufe Elternarbeit gestalten. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen bilden dabei Ergebnisse eines qualitativen Forschungsprojektes zur Elterneinbindung im Dreieck zwischen Schule, Schulbegleitung und Familie. Deutlich wird, dass eine ‚doppelte‘ Elternarbeit durch Regelschullehrkräfte einerseits und Sonderpädagog*innen und Schulbegleitungen andererseits prozessiert wird und insbesondere auch als Arbeit von Eltern rekonstruiert werden kann und auf Formen der Reproduktion sozialer Ungleichheit verweist.
    Ausgehend von einer Pluralisierung von Familienformen und damit auch von gesellschaftlichen Erwartungen und Vorstellungen von Familie(n) setzen sich Monika Gigerl und Britta Breser in ihrem Beitrag mit der Thematisierung von Familie(n) im Rahmen der Primarstufe und bei der Gestaltung der Bildungspartner*innenschaft auseinander. Auf der Grundlage von Interviews mit Lehrpersonen an Grundschulen sowie Expert*innen in der Pädagog*innenbildung an Hochschulen wird die Frage bearbeitet, welche Herausforderungen von Pädagog*innen formuliert werden und welche Aspekte es aus der Perspektive der Lehrpersonen für die Gestaltung der Bildungspartner*innenschaft zu bedenken gilt.

    Gastherausgeberinnen Dr.‘in Julia Gasterstädt, Sandra Grüter & Dr.‘in Martina Kalcher

     

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    Kotthoff, H. (2012). „(Un) common ground“ zwischen Lehrer(inne)n und Eltern in schulischen Sprechstunden. Kulturelles Zusammenspiel in interinstitutionellen Gesprächen. Freiburger Arbeitspapiere zur germanistischen Linguistik (FRAGIL), 2.
    Lalvani, P. & Hale, C. (2015). Squeaky wheels, mothers from hell, and CEOs of the IEP: Parents, privilege, and the “fight” for inclusive education. Understanding & Dismantling Privilege, 5(2), 21–41.
    Lelgemann, R., Singer, P., Walter-Klose, C. & Lübbeke, J. (2013). Qualitätsbedingungen schulischer Inklusion für Kinder und Jugendliche mit dem Förderschwerpunkt Körperliche und motorische Entwicklung. Zeitschrift für Inklusion, (4). https://www.inklusion-online.net/index.php/inklusion-online/article/view/35
    OECD. (2018). Equity in Education: Breaking Down Barriers to Social Mobility. Paris: OECD Publishing
    Sacher, W. (2008). Elternarbeit. Gestaltungsmöglichkeiten und Grundlagen für alle Schularten. Bad Heilbrunn, Deutschland: Julius Klinkhardt.
    Sasse, A. (2004). „Integrationsferne“ und „integrationsnahe“ Milieus – Sozialstrukturelle Präzisierungen zu der Feststellung „Nur ein verschwindend geringer Teil behinderter Kinder wird derzeit integrativ beschult“. In I. Schnell & A. Sander (Hrsg.), Inklusive Pädagogik (S. 75–90). Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt.
    Wild, E. & Lütje-Klose, B. (2017). Schulische Elternarbeit als essenzielles Gestaltungsmoment inklusiver Beschulung. In B. Lütje-Klose, S. Miller, S. Schwab & B. Streese (Hrsg.), Inklusion: Profile für die Schul-und Unterrichtsentwicklung in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Theoretische Grundlagen – Empirische Befunde – Praxisbeispiele (S. 129-139). Münster: Waxmann.
    Wippermann, K. & Wippermann, C. (2013). Eltern-Lehrer-Schulerfolg: Wahrnehmungen und Erfahrungen im Schulalltag von Eltern und Lehrern. Stuttgart: Lucius & Lucius.

  • 4-2021

    Liebe Leser*innen von Inklusion-Online,
    die 4. Ausgabe von Inklusion-Online in 2021 besteht aus einer Reihe thematisch nur locker miteinander verbundenen frei eingereichten Beiträgen. Sie umfassen inklusionstheoretische und inklusionspraktische Betrachtungen unterschiedlicher Lebensphasen und institutioneller Bereiche, von der Kita über die (Grund)Schule bis hin zum Übergang in die Berufs- und Arbeitswelt. Um eine thematische Klammer zwischen den Beiträgen erkennbar werden zu lassen, mag der Gedanke hilfreich sein, dass Integrationserfolge lebensphasenspezifisch und institutionenübergreifend in einer nicht inklusiven Gesellschaft stets mit dem Risiko der Diskontiuität behaftet sind. Aus der Sicht einzelner Biografien führt das (immer noch) zu Brüchen in den Lebensläufen oder zumindest zu barrierebehafteten Erfahrungen, bei denen ein schon erreicht geglaubtes Integrationsniveau stets auf’s Neue auf dem Spiel steht. Diese Beobachtung wiederum verweist auf zwei zentrale und unhintergehbare Qualitätskriterien, an denen sich Inklusionsfortschritte stets zu messen haben: Zum einen ist Inklusion als gesamtgesellschaftliche Herausforderung zu begreifen, die sämtliche Lebensbereiche wie institutionelle Handlungsfelder umfasst und zum anderen wäre Inklusion als kritisches politisches Projekt zu platzieren, das den Anspruch nicht aufgibt, die Wirkmächtigkeit von bestehenden Strukturen und Praxen kritisch auf den Prüfstand zu stellen.

    Peter Cloos und Katja Zehbe fragen, welche pädagogischen Wahrnehmungen in inklusionsorientierten Kitas zwischen Doing Inclusion als Anspruch und Doing Difference als (reflektierte) Praxis vorherrschen. Grundlage der Betrachtungen sind empirische dokumentarische Analysen von regulär stattfindenden Elterngesprächen. Die Befunde zeigen, dass pädagogische Fachkräfte auf den zentralen Topos Entwicklung der Kinder fokussieren und dabei einen normfokussierten Blick in Anschlag bringen. „Grenzen werden über Prozesse der (De-)Normalisierung und Fallbe(un)ruhigung bearbeitet. Die somit entworfenen Blicke auf Kinder erlauben, diese einer verteilten professionellen Zuständigkeit zuzuordnen.“ Entdeckt werden konnte eine von professioneller Seite stark abeleistisch gefärbte fähigkeitsorientierte Dominanzperspektive, der gegenüber alternative Entwürfe von Kindern als selbstbildende Akteur*innen ihrer Lebenswelt vergleichsweise zurückstehen.

    Julia Lipkina reflektiert über das bisher hierzulande eher randständig wahrgenommene psychologische Konzept des Temperaments und seine Bedeutung als schulisch relevante Heterogenitätsdimension. Bestimmte Temperamentsmerkmale führen demnach einmal zu Integrationsbarrieren und Inklusionsdefiziten bei Schüler*innen in schulischen Kontexten und zum anderen wird davon ausgegangen, dass Temperamentskonzepte auch einen hilfreichen Beitrag liefern können für eine heterogenitäts- und diversitätssensiblen Praxis im schulischen Alltag unter inklusionsorientierten Vorzeichen. „Während es bislang um die Identifikation von Einflussfaktoren auf Lernleistungen mithilfe von quantitativen Verfahren oder die Rekonstruktion von Differenzpraktiken in ethnografischen Studien ging, kann Heterogenität damit im Rahmen einer bildungstheoretischen Biografieforschung erforscht werden, deren Anliegen es ist, Bedingungen und Möglichkeiten von Bildungsprozessen von Subjekten zu erfassen.“

    Auch Anne Reh und Yannik Wilke haben im Prinzip pädagogische Unterrichtssituationen im Blick, die einen inklusionsorientierten Anspruch erheben. Es geht ihnen um funktionelle Regelverstöße im Zuge der (multi)professionellen Kooperation. In diesem Zusammenhang sprechen die Autor*innen von einem Regressions-Innovations-Dilemma. Kooperationsprobleme sind keineswegs nur auf organisationale Schulstrukturen zurückzuführen, sondern auch auf divergierende Fachkonzepte und Inklusionsverständnisse der handelnden Akteure. „Aus den vorliegenden Interviews konnten mittels der Dokumentarischen Methode unterschiedliche Praktiken der Abgrenzung zu Fachkolleg*innen wie Handlungspraktiken der Umgehung hinderlicher Organisationsstrukturen rekonstruiert werden, die in Kombination eine Kooperation - unabhängig von äußeren Rahmenbedingungen - verhindern oder befördern.“ Der Beitrag mündet in die Formulierung von Vorschlägen zur professionellen Reflexion innerhalb der Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften, die förderlich sein sollen für eine inklusionsorientierte Zusammenarbeit und Kooperation.

    Traugott Böttinger führt die reflexive Betrachtung von inklusionsorientiertem schulischem Handeln fort. Sie liefert einen auf das deutsche Schulsystem bezogenen Forschungsüberblick zu den Einflussfaktoren Schulleistung, Verhalten und Etikettierung, welche zu sozialer Ausgrenzung in inklusionsorientiert geführten Grundschulklassen führen. Auf der Basis von 35 analysierten Studien wird der Frage nachgegangen, ob für den Primarbereich Einflussfaktoren herausgearbeitet werden können, die mit der vermehrten sozialen Ausgrenzung von Schülerinnen und Schülern mit SFB zusammenhängen.

    Michael Schwager geht es um den aus inklusionstheoretischer Sicht meist krisenhaften Übergang von Schüler*innen, die in ihrer allgemeinpädagogischen Schulzeit sonderpädagogische Unterstützung erfuhren, in die berufliche Bildung. Der Prozess des Übergangs ist in der Regel mit dem Abbruch der integrationsorientierten (sonder)pädagogischen Bemühungen verbunden, was häufig zu einer prekären Situation führt. Gerade für diese Klientel wird die Schwelle der beruflichen Integration zur Belastungsprobe und zu einer Integrationsbarriere.  Resultat dieser Problematik ist in diesen Fällen der Um- oder Abweg in ein Übergangssystem als im besten Fall retardierende Einstiegsoption in die Arbeitswelt. Der Beitrag stellt sich die Frage, wie der Wechsel in die Berufsausbildung im Sinne eines Übergangsmanagements prozesshaft gestaltet und begleitet werden könnte. Hierfür wird zunächst die Abschlussproblematik sonderpädagogisch unterstützter Schüler*nnen genauer betrachtet, ehe Übergangskonzepte kritisch diskutiert werden.

    Auch Sven Bärmig verfolgt in seinem Beitrag eine berufs- und arbeitsweltbezogene Thematik. Problematisiert werden die gesellschaftstheoretischen Implikationen eines sich als inklusiv verstehen wollenden Arbeitsmarkts. Die Verwirklichung dieses utopischen Entwurfs hat dem Autor zufolge zur Voraussetzung, das lohnarbeitszentrierte Verständnis von Arbeit als hegemonial Durchgesetztes in Frage zu stellen. „Um diese These zu begründen ist es notwendig sich Gedanken darüber zu machen, was 1) der Begriff der Arbeit meint, 2) was Kapitalismus und Arbeit miteinander zu tun haben, weshalb 3) entfremdete Arbeit und 4) abstrakte Arbeit zu unterscheiden sind, 5) welche Aussagen zu aktuellen Arbeitsverhältnissen daraus resultieren und 6) welche Folgen dies für Bildung und Schule hat.“

    Eine anregende und interessante Lektüre  - sowie ein gesundes kommendes Jahr - wünschen
    für das Redaktionsteam

    Carmen Dorrance und Clemens Dannenbeck

  • 3-2021

    Liebe Leser*innen von Inklusion-Online,
    wir dürfen Ihnen hiermit die 3. Ausgabe von Inklusion-Online in 2021 präsentieren. Corona hat uns nicht nur „immer noch“ im Griff - was sich nun nach fast zwei Jahren Pandemie zunehmend deutlicher abzeichnet, sind auch die mittel- und langfristig wirksamen gesellschaftlichen und sozialen Veränderungen, mit denen die politischen Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie verbunden sind sowie die damit einhergegangenen und einhergehenden Erfahrungen, die Menschen in durchaus unterschiedlicher Weise machen mussten. Die Pandemie hat (nicht nur global gesehen) keineswegs uns alle in gleicher Weise betroffen. Vielmehr hat sie in mancherlei Hinsicht bestehende gesellschaftliche und soziale Friktionen bestätigt und verstärkt und auch neue Gräben der Ungleichheit aufgetan. Aus inklusionspolitischer Sicht müssen wir uns im Zuge dessen nicht nur fragen, in welcher Verfassung sich inklusionsorientierte Entwicklungen seit und inmitten der Pandemie befinden, sondern auch, welche neuen Barrieren für gesellschaftliche Teilhabe möglicherweise entstanden und gerade im Entstehen begriffen sind und wie sich Exklusions- und Marginalisierungsrisiken vor diesem Erfahrungshintergrund verstärken und neu konfigurieren. Insofern eint die Beiträge dieser Ausgabe der Blick auf die Pandemie und deren Konsequenzen.
    Anna Lips, Kris-Stephen Besa, Caroline Schmitt und Lea Heyer präsentieren Ergebnisse der zweiten bundeweit durchgeführten quantitativen Studie „Jugend und Corona“ des Forschungsverbundes „Kindheit – Jugend – Familie in Zeiten von Corona“ (Institut für Sozial- und Organisationspädagogik der Stiftung Universität Hildesheim und Institut für Sozialpädagogik und Erwachsenenbildung der Universität Frankfurt, in Kooperation mit der Universität Bielefeld) zum Wohlbefinden, zur Lebenszufriedenheit und zum Belastungserleben junger Menschen mit Behinderungserfahrung in den Zeiten der Pandemie. Befragt wurden junge Menschen im Alter zwischen 15 und 30 Jahren zu ihren Erfahrungen und Perspektiven während der COVID-19-Pandemie. Dabei gerät das Unterstützungsumfeld von jungen Menschen mit Behinderungserfahrung in den Fokus, dessen Bedeutung sich für deren Belastungserleben als entscheidend erweist. Die Autor*innen des Beitrags stellen heraus, dass dieser Beobachtung nur durch einen diversitätssensiblen und intersektional informierten Zugang zum Pandemieerleben junger Menschen angemessen entsprochen werden kann. Insofern verlangen die empirisch beobachtbaren Pandemieeffekte nur umso unmissverständlicher nach einer Überwindung traditioneller Integrationsperspektiven, die bisher vornehmlich defizitorientiert an Behinderungsformen und Altersgruppen angeknüpft haben. „Je nach Wohnort, Geschlecht, psychischer und physischer Situation, Familienlage oder Aufenthaltsstatus sind junge Menschen unterschiedlich von der Pandemie betroffen und haben differente Bedürfnisse“. Das wiederum erfordert die Entwicklung wertschätzender und partizipativer Strategien gemäß eines gesamtgesellschaftlichen Inklusionsverständnisses, das Wissenschaft, Praxis und Politik einschließt und die Selbstrepräsentanz der Betroffenen sicherstellen und gewährleisten kann.

    Marie-Luise Schütt, Sven Degenhardt und Wiebke Gewinn verfolgen in ihrem Beitrag die Bildungssituation von Schüler*innen mit Blindheit und Sehbehinderung während der Corona-Pandemie und ihrer flächendeckenden Einstellung des Präsenzunterrichts im Frühjahr 2020 in Deutschland. Organisatorisch wurde mit Strategien des Distanzunterrichts (Emergency Remote Teaching) reagiert um dem Recht auf Bildung juristisch zu entsprechen, was jedoch mit unterschiedlichen Herausforderungen verbunden war, denen auch auf sehr unterschiedliche Weise entsprochen werden konnte. Der Beitrag thematisiert auf Basis ausgewählter Befunde einer qualitativen Studie die dadurch entstandene Situation für Schüler*innen, mit Sehbeeinträchtigungen. Im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses stand die Frage nach den Zugängen zu überfachlichen/schwerpunktspezifischen Inhalten. Die Befunde bestätigen, dass auch die hier betrachtete Zielgruppe ähnlich die der Schüler*innen mit Beeinträchtigung insgesamt im Distanzlernen einer höheren Gefahr ausgesetzt sind, von Bildungsprozessen ausgeschlossen zu werden. Zu fordern wären Empfehlungen für ein Lernen in Distanz und für anzustrebende digitale, hybride Lehr-Lern-Settings, die Sehbeeinträchtigungen berücksichtigen und die differenzierten Bedarfslagen von Schüler*innen mit Sehbeeinträchtigungen und Blindheit beachten. Ungeachtet dessen resümieren die Autor*innen, dass bislang „Aspekte wie Inklusivität und Diskriminierung, in den Debatten um Teilhabe am digitalen Lernen“ weitgehend unberücksichtigt geblieben sind.

    Marlene Kowalski setzt die Diskussion um vielfältige Implikationen des Distanzlernens in ihrem Beitrag fort, indem sie einen Blick auf sich als inklusiv verstehende Grundschulen wirft und dort die Erfahrungen mit und die Einstellungen zum coronabedingt erzwungenen Distanzlernen aus der Perspektive von Schulleitungen analysiert. Dreh- und Angelpunkt sind dabei die unterschiedlichen Ausgangslagen und Randbedingungen, unter denen ‚Homeschooling‘ auch in inklusionsorientierten Schulen organisiert werden musste. Das Augenmerk liegt dabei zugleich auf möglichen Inklusionspotenzialen als auch auf neu entstehenden Exklusionsrisiken. Auf der Basis von narrativen Interviews mit Schulleitungen inklusionsorientierter Grundschulen wird rekonstruiert, wie die geforderten Schulschließungen und die Organisation des Distanzlernens als bildungspolitische Herausforderung wahrgenommen und bearbeitet worden ist. Dabei steht die spannende empirische Frage im Raum, inwieweit eine sich als inklusiv verstehende Schulpraxis sich auf das jeweilige Konzept der Schulkultur auch in häuslichen Kontexten vorteilhaft niedergeschlagen hat, sich also ein inklusiver Anspruch in Zeiten der Pandemie im günstigen Fall in besonderer Weise zu bewähren vermochte. Um dies beurteilen zu können, bedarf es einer Rekonstruktion des schulkulturellen Umgangs mit dem Lernen zuhause. „Die Ergebnisse aus der Rekonstruktion von zwei exemplarischen Fällen deuten darauf hin, dass auch im Distanzlernen Teilhabe ermöglicht werden konnte, aber es dennoch – trotz der Bemühungen von Schulleitung und Lehrkräften – auch zur Marginalisierung von einzelnen Schüler*innen gekommen ist.“
    Hendrik Trescher und Peter Nothbaum verfolgen in ihrem Beitrag die institutionalisierten Lebensbedingungen von Menschen mit zugeschriebener geistiger Behinderung in Zeiten von Corona. Mit Blick auf die Situation in Wohnheimen gehen die Autoren davon aus, dass die Pandemie hier brennglasmäßig die Strukturprobleme und systemischen Exklusionseffekte einer Praxis zutage gefördert hat, die jeglichen Bemühen um Inklusion in dieser Hinsicht entgegenwirken. Andererseits sind die erzwungenen Effekte auf die Herausforderungen, die Coronamaßnahmen mit sich gebracht haben, auch eine Chance, institutionelle fest verankerte Routinen in Frage zu stellen und die Entwicklung funktionierender alternativer Praxen quasi zu erzwingen. In dem Beitrag wird anhand der Betrachtung von „Beispielen aus der Lebenspraxis, die im Rahmen der Forschungsstudie „Institutionalisierte Lebensbedingungen in Zeiten von Corona“ an der Philipps-Universität Marburg generiert wurden, dargelegt, inwiefern Corona, Institution und Inklusion zusammenhängen“. Letztendlich fällt das Resümee hinsichtlich des dekonstruktiven Moments, das den erzwungenen Reaktionen in den betrachteten institutionellen Zusammenhängen konzediert wird, seitens der Autoren ambivalent aus. Auszumachen seien sowohl Effekte eines Doing Disability als auch ein Impuls zur Gewährung eines Stücks zugestandener persönlicher Handlungsökonomie. Inwieweit hieraus in einer postpandemisch gedachten Zukunft inklusionsorientierte Deinstitutionalisierungseffekte resultieren werden, muss noch dahingestellt bleiben und ist abhängig von den Diskursverschiebungen, die sich im Zuge der weiteren Entwicklungen noch ergeben werden.
    Der Beitrag von Katharina Walgenbach steht auf den ersten Blick nicht im Zeichen der Herausforderungen, die Corona mit sich gebracht haben. Wenn Sie jedoch einen digitalen Abelismus als Analysebegriff in die Diskussion einführt, ist unschwer die Brisanz und Aktualität dieser Thematik in einer Zeit zu erkennen, die durch (in vielen gesellschaftlichen Bereichen umständehalber erzwungene, so doch gleichwohl überfällige) Digitalisierungsschübe – so jedenfalls eine politisch, medial und öffentlich weitgehend unhinterfragt immer wieder reproduzierte Ausgangsposition – gekennzeichnet ist, ohne das diese Diagnose in jedem Fall theoretisch fundiert und begründet wäre. Vor dem Hintergrund der Abelismus-Debatten im Kontext der Disability Studies legt die Autorin in ihrem Beitrag den Fokus auf ableistische Fähigkeits-, Leistungs- und Normalitätserwartungen im Feld des Digitalen, am Beispiel der digitalen Hochschulbildung. Es geht um abeleistische Bildungspraxen im Digitalen und die im Zuge von Digitalisierungsprozessen sich größtenteils unreflektiert durchsetzenden kulturellen Neueinschreibungen von Normalitäten mit ihren spezifischen Mustern an anerkannten Fähigkeitsnormen und -idealen. Insofern erweisen sich am Beispiel der Hochschule Digitalisierungsprozesse als höchst ambivalent, was ihr emanzipatorisches Potenzial auf der einen Seite und ihre abeleistische Struktur auf der anderen Seite bestimmt.
    Eine anregende und interessante Lektüre wünschen
    für das Redaktionsteam
    Carmen Dorrance und Clemens Dannenbeck

  • 2-2021

    Liebe Leser:innen,
    wir freuen uns, Ihnen die 2. Ausgabe der Online-Zeitschrift für Inklusion vorzustellen. In diesem Themenheft, das mit "Inklusion und Fachunterricht" überschrieben ist, werden Herausforderungen von fachlicher und sozialer Teilhabe im Fachunterricht aus einer schul-, sonderpädagogischen und fachwissenschaftlichen Perspektive reflektiert. Damit wird der Notwendigkeit nachgegangen, Unterricht mit Blick auf die fachlichen Vermittlungs- und Aneignungsprozesse und damit auch im Hinblick auf die Dimension der Fachlichkeit zu reflektieren (vgl. Klieme 2006). Fachlichkeit setzen wir dabei, einer bildungshistorischen Systematisierung von Reh (2018) folgend, nicht mit Inhalten und Konzepten universitärer Disziplinen gleich, sondern verstehen diese als im Prozess der Verfächerung – die u.a. die Herausbildung des Schulfaches zur Folge hatte – herausgebildeten Wissensbestände und Praktiken der Wissensaneignung und Wissensvermittlung (vgl. Reh 2018). Aus einer praxeologischen Perspektive lässt sich Fachlichkeit dann als „ein bestimmter Modus der Organisation eines Wissens und des Umgangs mit ihm, eine bestimmte ‚Wissenspraxis‘, die im Sortieren, Ordnen, Vereinheitlichen und Verknüpfen von Wissen in Wissensbeständen und in Abgrenzung gegenüber anderen besteht" (Reh 2018, S. 66) verstehen. Diese Wissensbestände und Praktiken der Wissensaneignung und Wissensvermittlung werden in der Praxis von Unterrichtsfächern realisiert, womit der empirischen Analyse der Praktiken und Strukturen des Fachunterrichts eine besondere Aufmerksamkeit zuteil wird. Um diesen praxeologischen Analysefokus auf die Fachlichkeit des Unterrichts für den Inklusionsdiskurs fruchtbar zu machen, versammeln wir in diesem Themenheft zum einen empirische Beiträge, die über qualitativ-rekonstruktive Analyseperspektiven den Blick auf Didaktik, Differenz und Teilhabe im Fachunterricht schärfen und hier die Konstituierung fachlichen Wissens und Könnens in der Praxis des Unterrichts verorten. Zum anderen rahmen zwei Diskussionsbeiträge die hier vorgestellten praxeologischen Studien und deren Erkenntnisgewinn für den Inklusionsdiskurs aus einer schul- und behindertenpädagogischen Perspektive.
    Empirische Studien zur Praxis des Fachunterrichts
    David Jahr befasst sich in seinem Beitrag mit der komplexen und widersprüchlichen Relation von Inklusion und Exklusion. Entlang einer dokumentarischen Interpretation eines Rollenspiels in einem formal inklusiven Politikunterricht eines 9. Jahrgangs legt er dar, wie zwei Schülerinnen mit zugeschriebenem sonderpädagogischen Förderbedarf im Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung negativ positioniert werden. Mit dem methodologischen Bezug auf die praxeologische Wissenssoziologie werden Machtstrukturen als Kennzeichen dieses Unterrichtsmilieus identifiziert. Die widersprüchlichen Bemühungen um Teilhabe werden als Bedingungen einer übergeordneten Exklusions-Struktur von Unterrichtsmilieus verstanden.
    Anja Hackbarth und Anja Müller entfalten eine praxeologische Argumentation für eine empiriebasierte Didaktik des inklusiven Deutschunterrichts. Dabei fokussieren sie auf die habitualisierten Strukturen und Praktiken fachlicher Vermittlungs- und Aneignungsprozesse in heterogenen Lerngruppen. Wie dieser Analysefokus für die empiriebasierte Konzeptionierung einer inklusionsorientierten Deutschdidaktik genutzt werden kann, konkretisieren sie entlang eines Forschungsprojektes und der exemplarischen Analyse einer Aufgabenbearbeitung in einem formal inklusiven Grammatikunterricht. Für die Fachdidaktik relevante Ansatzpunkte sind u.a. das implizite fachliche Wissen und Können, das für die Bearbeitung der Aufgaben vorausgesetzt wird, und das arbeitsteilige Vorgehen, was in der Praxis des Unterrichts weder kooperativ noch fachlich diskursiv ist.  
    Benjamin Wagener, Tanja Sturm, Larissa Fühner, Susanne Heinicke und Thorid Rabe stellen in ihrem Beitrag empirische Ergebnisse vor, die im Rahmen eines interdisziplinär angelegten Projekts zum inklusiven Physikunterricht erzielt wurden. Sie gehen in diesem Beitrag der Frage nach, wie im Naturwissenschaftsunterricht Differenzen konstruiert werden und wie dadurch die Ermöglichung bzw. die Behinderung von Teilhabe erzeugt wird. Die Autor:innen verwenden die dokumentarische Methode zur Interpretation einer videografierten Gruppenarbeit anhand derer sie hierarchisierende Differenzkonstruktionen in Bezug auf fachliches Können und Eigenverantwortlichkeit rekonstruieren. Gleichzeitig reflektiert der Beitrag das Potenzial interdisziplinärer Zusammenarbeit für die rekonstruktive Unterrichtsforschung.
    Johannes Ludwig geht in seinem Beitrag der Frage nach, wie fachliche Passung in individualisiertem Deutschunterricht unter Bedingung differenter Lernvoraussetzungen von Schüler:innen hergestellt wird. Nach einem kurzen Überblick über wesentliche empirische Erkenntnisse zum individualisierten Fachunterricht stellt der Autor die dokumentarische Interpretation von zwei Fallbeispielen aus seiner Dissertationsstudie vor. Das Ergebnis dieser Interpretation zeigt, dass multimodale Kommunikationsstrukturen sowie die Funktionalisierung von Unterrichtsmaterial im Kontext eines individualisierenden Unterrichts ein Potenzial für fachliche Lernprozesse darstellen.
    Sascha Zielinski setzt sich in seinem Beitrag mit der Bedeutung des erweiterten Textbegriffs auseinander. Dabei nimmt er Bezug auf sonderpädagogische sowie fachdidaktische Konzepte, die die Hürden des Umgangs mit Schrift modellieren, und reflektiert die Anforderungen, die das Texteverfassen an die Schüler:innen stellt. Unter Verwendung eines empirischen Beispiels aus seiner ethnografischen Dissertationsstudie arbeitet er Gemeinsamkeiten und Unterschiede des erweiterten Textbegriffs sowie des Diktierens heraus.
    Diskussionsbeiträge
    Mit dem theoretischen Beitrag von Georg Feuser wird eine der für den aktuellen Diskurs um eine inklusive (Fach)Didaktik sehr etablierte und in der Geschichte der Integrationspädagogik fest verankerte Theoriefigur der entwicklungsniveaubezogenen biografischen Individualisierung und der Kooperation am gemeinsamen Gegenstand re-aktualisiert und angesichts der hier dargelegten empirischen Studien neu akzentuiert. Georg Feuser setzt sich dabei mit der Frage nach dem Verhältnis von Fachunterricht und Inklusion sowie dem Rahmen dieser Studien, die eine Praxis von Fachunterricht erforschen, die in einer »selektierenden Inklusion« generiert wird, kritisch auseinander. Im Anschluss an seine theoretischen Überlegungen zur entwicklungslogischen Didaktik mit einer entwicklungsniveaubezogenen inneren Differenzierung wird – als Gegenposition zum Fachunterricht – ein Plädoyer für den Projektunterricht entfaltet.
    Matthias Martens nimmt mit seinem Diskussionsbeitrag eine kritische Rahmung des mit diesem Themenheft anvisierten empirischen Fokus vor. Dabei bezieht er sich u.a. auf Erkenntnisse aus der schulpädagogischen Differenzforschung, die die selektierenden und exkludierenden Bedingungen von Schule und Unterricht in den Fokus der Aufmerksamkeit rückten. Die sich für empirische Studien daraus ergebende Herausforderung ist dann, das Verhältnis von habitualisierten Strukturen und den pädagogisch-didaktischen Programmatiken (der Inklusion) systematisch in den Blick zu nehmen. Mit Bezugnahme auf die Methodologie der dokumentarischen Methode formuliert Matthias Martens dann zum anderen Konsequenzen, die sich für praxeologische Studien im Feld der Inklusion / Exklusion ergeben. Dabei arbeitet er insbesondere das Potenzial des Forschungszuganges für die Erforschung von Fachlichkeit heraus.

    Eine anregende Lektüre wünschen Ihnen
    Anja Hackbarth, Johannes Ludwig und Anja Müller

    Literaturverzeichnis
    Klieme, E. (2006). Empirische Unterrichtsforschung: aktuelle Entwicklungen, theoretische Grundlagen und fachspezifische Befunde. Einführung in den Thementeil. Zeitschrift für Pädagogik, 52(6), 765-773.
    Reh, S. (2018). Fachlichkeit, Thematisierungszwang, Interaktionsrituale. Plädoyer für ein neues Verständnis des Themas von Didaktik und Unterrichtsforschung. Zeitschrift für Pädagogik, 64(1), 61 -70. 

  • 1-2021

    Liebe Leser*innen von Inklusion-Online,
    wir freuen uns an Ihrem Interesse an unserer Online-Zeitschrift für Inklusion, der 1. Ausgabe im Jahr 2021.
    Immer noch prägen Gegenwart und Folgen der Pandemie viele der aktuellen Debatten um die Gestaltung einer zukunftsfähigen Politik, etwa mit Blick auf die Entwicklung sozialer Ungleichheiten in der Gesellschaft oder die coronabedingt offen zutage getretenen ungleichen Zugänge zu Bildung. Nicht selten werden diese Debatten auch angstbesetzt geführt. Unabhängig von den kurzfristig für uns alle spürbaren unmittelbaren Auswirkungen der Pandemie kann dabei – und das mag eine ihrer positiveren Effekte sein – ein verstärktes Interesse an der Diskussion von mittel- und langfristigen Strategien festgestellt werden, die sich an der Gestaltung einer lebenswerten Zukunft in einer offenen Gesellschaft orientieren wollen und bewähren sollen. Die Thematik der „Inklusion“ steht dabei für die Frage, wie „wir“ angesichts der vielfältigen Differenzen und Verschiedenheiten in Zukunft zusammenleben können und wollen.
    Adornos gesellschaftsutopisches Diktum, „ohne Angst verschieden sein“ zu können, ist da eine gut bekannte und häufig zitierte Formulierung, die Gabriel Zellmer Anlass bietet, aktuelle Inklusionsdiskurse auf ihren gesellschaftskritischen Anspruch hin zu durchleuchten. Er fragt kritisch nach, inwieweit in den oft vordergründigen Bezugnahmen auf Adorno sich wirklich die Bereitschaft erkennen lässt, die bestehenden Verhältnisse, in denen wir uns stets und unweigerlich in unserem Alltagshandeln wie auch professionell bewegen, in Frage stellen zu wollen. Stattdessen erweist sich die begriffliche Selbstbedienung aus dem Zitatenschatz kritischer Theorie allzu häufig als willfähriges Werkzeug, praxisbezogene Probleme symptomatisch anzugehen. Der Beitrag erhebt den Anspruch, Kritik am durchgesetzten Begriffsverständnis der Individualität zu üben, die Gesellschaftskritik der Kritischen Theorie ernst zu nehmen und deren Element des Kritischen für eine intervenierende Praxis stark zu machen. Dabei, so Gabriel Zellmer, kann gezeigt werden, „inwiefern Individualität als Ideologie fungiert und welche Vorschläge die Kritische Theorie hat, um dahingehend einzugreifen“.
    Andreas Köpfer, Katharina Papke und Yannick Zobel befassen sich mit dem Verhältnis von Ratgeberliteratur und pädagogischem Handeln im Umgang mit Autismus, wie er sich im Kontext inklusionsorientierter Bildungsansätze finden lässt. Auffällig ist, dass in inklusionsorientierten Diskursen zwar einerseits häufig auf die Vielfalt des Autismusspektrums verwiesen wird, andererseits die steigenden Diagnoseraten aber selten mit Zweifeln an deren Angemessenheit verbunden sind, gerade wenn es um pädagogische oder didaktische Konsequenzen geht. Den Autor*innen geht es u.a. darum, die Herstellung und Reproduktion der Kategorie Autismus empirisch nachzuverfolgen. Dies geschieht auf Basis einer Situationsanalyse, die sich methodisch an Clarke (2012) anlehnt. Im Fokus stehen einerseits Ratgeberliteraturen für die pädagogische, unterrichtliche und didaktische Praxis sowie andererseits Interviewdaten, die im BMBF-geförderten Forschungsprojekt »StiEL« erhoben wurden. Erst eine kritische Rekonstruktion und Dekonstruktion der Begrifflichkeit „Autismus“ mit ihren ambivalenten und auch medizinisch geprägten Konnotationen erlaubt es, die pädagogische und didaktische Wirkmächtigkeit in der (Unterrichts)Praxis zu erkennen und inklusionstheoretisch fundiert zu hinterfragen.
    Einem anderen Thema, das inklusionsorientierten Unterricht in pädagogischer und didaktischer Hinsicht zunehmend kennzeichnet, widmet sich Hendrik Trescher in seinem Beitrag zu Leichter Sprache. Dabei, so seine Feststellung, gehen die inzwischen erkennbaren Benefits der Verwendung Leichter Sprache in der pädagogischen Handlungspraxis gerade für Menschen, denen Lernschwierigkeiten attestiert wurden, einher mit einer theoretischen Ausarbeitung, die diesen Entwicklungen kaum standzuhalten vermag. Denn Leichte Sprache – in der Praxis oft eher verfolgte „Idee“ als fundiertes Konzept – birgt Ambivalenzen und ihre Verwendung stellt als solches noch keine Garantie für gelingende Integration oder gar die Inklusion von Menschen mit Lernschwierigkeiten dar. „Eine zentrale Problematik liegt dabei darin, dass durch Leichte Sprache zwar Teilhabemöglichkeiten eröffnet, gleichzeitig jedoch eingeschränkt werden können, indem die durch Leichte Sprache adressierten Personen als ‚unterstützungsbedürftig‘ und dadurch letztlich ‚behindert‘ gelabelt werden.“ Auf Basis bisher bestehender empirischer Erkenntnisse wird im vorliegenden Beitrag versucht, Perspektiven einer theoretischen Fundierung Leichter Sprache zu entwerfen.  
    Der Beitrag von Andrea Fischer-Tahir und Anke Langner wendet sich Fragen der beruflichen Inklusion von Menschen mit Sehschädigung zu. Den gesellschaftstheoretischen Kontext bildet der Stand der Digitalisierung in einer kapitalistisch organisierten und strukturierten Welt, was sich etwa in Praktiken der Anpassung an eine sogenannte Industrie 4.0 zeigt. Dabei zeigt sich, dass jegliches Nachdenken über berufliche Inklusion untrennbar mit einer gesellschaftstheoretisch informierten Analyse verbunden sein muss, will es sich nicht mit punktuellen Integrationserfolgen begnügen. Der Beitrag fokussiert anhand einer Fallgeschichte die Erfahrung der Subjekte, die im Kontext von digitaler Transformation der Arbeitswelten ihre eigenen Kategorien von Arbeit, Gesundheit und Identität neu verhandeln. „Dabei wird der Frage nachgegangen, inwiefern Disziplin als ein sich über diverse Kontrolltechniken realisierendes Machtverhältnis in der beruflichen Inklusion wirksam wird und wie das von Exklusion bedrohte Subjekt reagiert, wenn Expert*innen sein Feld des möglichen Handelns strukturieren“. Die Autorinnen interessiert, wie Bildungsangebote aus der Perspektive der Subjekte gedeutet werden, deren erklärtes Ziel es ist, Menschen mit Sehschädigung an Arbeit teilhaben zu lassen. Diese Deutung enthält allemal ein ambivalentes Element – d.h., selbst gelingende Inklusion führt nicht zur Aufhebung von Exklusion. Maßnahmen beruflicher Inklusion stehen daher durchaus im Dienst der „Normalisierung einer digitalen Klassengesellschaf, zu deren Entstehung die neoliberale Governmentalität beigetragen hat“.
    Christian Schöttler verfolgt den Ansatz Gemeinsamen Lernens am gemeinsamen Gegenstand im Mathematikunterricht. Untersucht wird, inwieweit mit dieser Methode unterschiedliche Lernvoraussetzungen von Schüler*innen für wechselseitige und einander unterstützende Lernprozesse fruchtbar gemacht werden können. Gemeinsames Lernen am gemeinsamen Gegenstand soll dabei wirkliche Kooperation fördern. Dazu werden anhand von exemplarischen Szenen kollektive Arbeitsprozesse diskutiert und sozial-kommunikative Interaktionsstrukturen rekonstruiert.
    Abschließend werfen Julia Frohn und Vera Moser einen Blick auf die inklusionsorientierte Lehrkräftebildung. Auf Basis einer Befragung unter den Lehrkräftebildungszentren an Universitäten in Deutschland, die im Sommersemester 2020 durchgeführt wurde,werden bildungspolitische Entwicklungen und der Stand der Anwendung der „Gemeinsamen Empfehlung von Hochschulrektorenkonferenz und Kulturministerkonferenz“ aus dem Jahr 2015 einer kritischen Betrachtung unterzogen. Die dort anvisierte und grundgelegte „Lehrerbildung für eine Schule der Vielfalt“ ist zwar als Anspruch artikuliert, inwiefern dies jedoch seither in einer veränderten Bildungslandschaft Niederschlag gefunden hat, ist eine empirische Frage. Wie sind die Steuerungsprozesse von Bildungssystemen in ihrem Zusammenwirken von institutionellen Rahmenbedingungen, praktisch handelnden Professionellen und den ihnen zur Verfügung stehenden methodischen Angeboten zu beurteilen? Der im Beitrag skizzierte Ansatz hinterfragt die Annahme der Wirkmächtigkeit linearer Steuerungsmechanismen und geht stattdessen von individuellen Handlungsbedingungen aus, in denen sich die verantwortlichen Akteure in ihren Vernetzungen und Verstrickungen bewegen. Auf dieser theoretischen Grundlage wurden als relevante Akteure für die Implementierung inklusionsbezogener Studieninhalte in die lehrerbildenden Studiengänge die Zentren für Lehrkräftebildung befragt.

    Eine interessante und gewinnbringende Lektüre wünschen
    Im Namen des Redaktionsteams

    Carmen Dorrance und Clemens Dannenbeck

  • 4-2020

    Liebe Leser*innen von Inklusion-Online,
    zum Abschluss dieses so ganz anders verlaufenden Jahres 2020 präsentieren wir Ihnen hiermit unsere 4. Ausgabe von Inklusion-Online – ein Jahr, das u.a. auch die ressourcenbezogenen und aufmerksamkeitsökonomischen Rahmenbedingungen für inklusionsorientierte Entwicklungen offensichtlich erschwert hat und umso deutlicher die Notwendigkeit zutage treten ließ, das bisher Erreichte zu verteidigen und den menschenrechtlichen Anspruch der UN-BRK auch und gerade im Bildungsbereich nicht bereits als eingelöst zu betrachten. Insofern sind es auf den ersten Blick nicht immer neue Fragen, die sich mit Blick auf „Inklusion“ stellen, aber viele der bekannten Fragen stellen sich möglicherweise in neuer Weise, durch einen sozialen und gesellschaftlichen Wandel, der überkommene Prioritäten überschreibt.
    In dieser Ausgabe werden mit Blick auf Schule sowohl strukturell-institutionelle Bedingungen als auch Fragen der inklusionsorientierten professionellen Haltung sowie spürbare Tendenzen einer weiteren theoretischen Verengung des inklusiven Anspruchs kritisch in den Blick genommen. Ein besonderes schwerpunktmäßiges Augenmerk liegt dabei auf den Bereichen der regulativen Rahmenbedingungen und deren Wirkung auf die Praxis. Es freut uns besonders, dass in dieser Ausgabe mit je einem Beitrag aus der Schweiz und aus Österreich der deutschsprachige Raum repräsentiert ist und so Unterschiede wie mögliche Parallelentwicklungen in den Ländern nachverfolgt werden können.
    Julia Gasterstädt, Anna Kistner und Katja Adl-Amini fragen nach institutioneller Diskriminierung in und durch schulgesetzliche Regelungen in den 16 Bundesländern und untersuchen in diesem Zusammenhang die Konsequenzen, die aus der Feststellungspraxis eines sonderpädagogischen Förderbedarfs resultieren. Auf Basis einer Dokumentenanalyse sowie mit Hilfe graphischer Darstellung werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Prozessverlauf der Feststellungsverfahren beschrieben. Die Argumentation knüpft dabei an Debatten zur De-/Kategorisierung und inklusiven Diagnostik an. Kritisiert wird die Konstruktion des sonderpädagogischen Förderbedarfs als klassifizierende Zuweisungskategorie in den jeweiligen Schulgesetzen, ihre impliziten Zielsetzungen und differenzierten Inhalte sowie die unterschiedlichen Varianten der Feststellungsverfahren. Die gegebenen gesetzlichen Rahmenbedingungen fungieren in der Praxis jeweils als „institutionalisierte Möglichkeitsstrukturen“ in Bezug auf stigmatisierungsmächtige Kategorisierungsoptionen und exkludierende Schullaufbahnentscheidungen.
    Kris-Stephen Besa, Ernst Daniel Röhrig, Caroline Schmitt und Marc Tull befassen sich mit Einstellungen angehender Lehrkräfte und Sozialpädagog*innen zu Inklusion im Sinne des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK). Der Beitrag setzt an der (Aus-)Bildung eines inklusiven professionellen Habitus in pädagogischen und sozialen Studiengängen an, als grundsätzlicher Voraussetzung für inklusionsorientierten Fortschritt. Ausgangs- und Anknüpfungspunkt sind dabei die Einstellungen zu und Wissensbestände über Inklusion von Studienanfänger*innen in der Universitäts- und Hochschulausbildung. Die empirische Basis des Beitrags bilden ausgewählte Befunde des quantitativ ausgerichteten Projekts „Studierenden-Perspektiven auf Inklusion (SPiN)“, das 2019 an der Universität Trier durchgeführt wurde. Es wurden die Einstellungen zu Inklusion in der Schule von 460 Studienanfänger*innen der Bachelorstudiengänge „Bildungswissenschaften“ und „Erziehungswissenschaft: Sozial- und Organisationspädagogik“ erhoben. Dabei zeigte sich, dass Inklusion durchgehend als relevante Perspektive im Handlungsfeld der Schule erachtet wurde. Unterschiede gab es jedoch zwischen Lehramtsanwärter*innen und Studierenden der Erziehungswissenschaften. Die Autor*innen sprechen sich für eine breitere empirische Basis sowie ergänzende qualitative Studien aus, die geeignet wären, weitere Ansatzpunkte für die „Vermittlung eines inklusiven professionellen Habitus in der Lehre“ zu liefern.
    Jonas Becker, Ann-Kathrin Arndt, Jessica M. Löser, Michael Urban und Rolf Werning spezifizieren den Blick auf Einstellungen, Verhalten und professionelles Selbstverständnis von Lehrkräften im Spannungsfeld von vorgegebenen Verfahren der Leistungsbewertung und der Sanktionierung. Angestrebte oder anzustrebende Inklusionsorientierung erscheint in dieser Hinsicht als Dilemma. Die vorliegende qualitative Studie fragt vor diesem Hintergrund danach, wie sich gymnasiale Lehrkräfte mit „Inklusionserfahrung“ zu Prinzip und System der Leistungsbewertung positionieren. Konkurrenzhafte Leistungsan- und -abforderung stehen dabei in einem theoretischen und logischen Widerspruch zur Entfaltung von individuellen Leistungspotenzialen. In diesem Kontext werden fallbeispielhaft die Positionierungen zweier Lehrkräfte zur Frage der (Nicht-)Versetzung und damit verbundenen ‚Abschulung‘ eines Schülers im Kontext der Zeugniskonferenz am Schuljahresende kontrastiert. Im Sinne eines ableismustheoretischen Verständnisses setzen sich die Autor*innen mit der unauflösbar erscheinenden wechselseitigen Verschränkung von einerseits inklusionsmotivierten kritischen Perspektiven auf Fähigkeitserwartungen und andererseits der Reproduktion von Fähigkeitserwartungen auseinander. Konstruktive Perspektiven aus diesem Dilemma könnten in Fortbildungen gewonnen werden, wie sie aus dem Verbundprojekt ReLink heraus entwickelt wurden. Sie zielen in besonderer Weise auf die Nutzung von Reflexionsräumen.

    Caroline Sahli Lozano, Jakob Schnell und Kathrin Brandenberg fragen nach der Einschätzung der integrativen Maßnahmen Nachteilsausgleiche (NAG) und reduzierte individuelle Lernziele (RILZ) aus der Perspektive von Schulleitungen der Oberstufe im Kanton Bern (Schweiz). Die Schulleitungen wurden zu wahrgenommenen Chancen und Risiken der beiden Maßnahmen befragt. Dabei zeigte sich, dass der Nachteilsausgleich im Hinblick auf die individuelle Entwicklung der Lernenden grundsätzlich positiver wahrgenommen wird als die Reduktion von Lernzielen. Die Schulleitungen sind sich der Dilemmata zwischen Fördern, Etikettierung und Leistungsbeurteilung resp. in Bezug auf die Ungleichbehandlung einzelner Lernender im Kontext von Chancengleichheit stark bewusst.

    Ewald Feyerer zeichnet ein Bild von der gegenwärtigen Verfassung der Lehrer*innenfortbildung für eine inklusive Schule in Österreich. Während die grundsätzliche Bedeutung der Lehramtsausbildung für positive inklusionsorientierte Entwicklungen zumindest theoretisch erkannt ist, gerät der Bereich der Fortbildung wissenschaftlich und empirisch gerade hinsichtlich ihrer kurz- und mittelfristigen Bedeutsamkeit vergleichsweise seltener in den Fokus der Aufmerksamkeit. Der vorliegende Artikel thematisiert empirisch und mit Beispielen, wie in Österreich inklusionsorientierte Lehrer*innenfortbildung, unter Einschluss aller an pädagogischen Prozessen Beteiligten gestaltet ist. Einen weiteren Schwerpunkt bildet die Einbindung von Menschen mit Beeinträchtigungen als Role-Models. Der Beitrag mündet in zukunftsweisende Empfehlungen für Bildungspolitik und Schulen in Österreich.  
    Den Abschluss bildet ein Beitrag von Hans Wocken, der sich kritisch mit der Beobachtung auseinandersetzt, dass auf die bestehende bildungspolitische Realität von Teilen der Inklusionsforschenden mit einer bildungstheoretischen Wendung reagiert wird, die den grundlegenden Anspruch, der mit Inklusion verbunden ist, weitgehend aushöhlt. Aus einer gesamtgesellschaftlichen, zumindest das Bildungssystem als Ganzes umfassenden, Herausforderung werden so partikular gedachte „Inklusive Momente“. Dieses diskutierte Konstrukt verfehlt Hans Wocken zufolge wesentliche Aspekte, die den Kern inklusiver Bildungsprozesse ausmachen, wie die Dialektik der Wechselbeziehungen zwischen Teilhabe und Teilgabe, die Einbeziehung der Strukturebenen, in denen sich Bildungsprozesse vollziehen sowie das unhintergehbare Vertrauen in die Bildbarkeit aller Menschen durch konsequente individualisierte Zuwendung im Rahmen eines ziel- und abgebotsdifferenten Unterrichts.

    Eine aufschlussreiche und ergiebige Lektüre wünschen
    für das Redaktionsteam
    Carmen Dorrance und Clemens Dannenbeck

  • 3-2020

    Liebe Leser*innen von Inklusion-Online,
    hiermit dürfen wir Ihnen die 3. Ausgabe im Jahr 2020 präsentieren. Sie umfasst ein thematisch breites Spektrum von forschungsorientierten Beiträgen zu Aspekten inklusionsorientierter Entwicklungen in unterschiedlichen Lebensbereichen und lassen dabei u.a. auf die Bedeutung intersektionaler Blickerweiterungen schließen. In den Fokus genommen werden neben pädagogisch-didaktischen Problemzusammenhängen auch Fragen von bildungspolitischer Tragweite, Fragen der politischen Bildung und spezifischer, in steter Veränderung begriffener empirischer Rahmenbedingungen, wie etwa die Entwicklung im Bereich Fluchtmigration oder die Auswirkungen der Pandemie.

    Corona hat über das Frühjahr und Sommer des Jahres 2020 in Schulen einen Niederschlag gefunden, der in vielfältiger Weise die Voraussetzungen, Bedingungen, aber auch fachlichen Debatten um Inklusion tangiert. Was sich durch Schulschließungen und erzwungene Umstellung auf digitalisierte Didaktik und Unterrichtsgestaltung an veränderten Grundbedingungen zeigt, entfaltet ambivalente Reaktionen und Zukunftserwartungen auf Seiten aller Beteiligten. Edvina Beši? und Andrea Holzinger thematisieren den coronabedingten durch Fernunterrichtspraxis gekennzeichneten Digitalisierungsschub in 2020 an österreichischen Schulen in der Steiermark. Grundlage der Untersuchung sind Befragungsergebnisse einer Online-Studie unter Lehrkräften mit digitaler Fernunterrichtserfahrung in „Inklusionsklassen der Volksschule“. Die nicht als repräsentativ einzustufenden Befunde weisen jedoch darauf hin, dass digitalisierter Fernunterricht positive wie negative Auswirkungen auf Inklusionsentwicklungen haben kann. Eine wesentliche Voraussetzung, um diesbezügliche Potenziale nutzen zu können, liegt in einer breit geteilten Inklusionsmotivation aller Akteure, insbesondere auch in Bezug auf eine konstruktive Zusammenarbeit zwischen Schule und Eltern.

    Christina Bastges-Lienshöft, Barbara Maria Schmidt, Enjo Beckmann und Alfred Schabmann befassen sich mit einer Frage, die sich in Bildungskontexten, in denen nach wie vor bildungspolitisch ein schulisches Parallelsystem gepflegt und bisweilen auch ausgebaut wird, umso dringlicher stellt. Es geht um die Mechanismen, die dazu führen, dass Schüler*innen mit zugeschriebenem sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf immer noch aus allgemeinen Schulen in segegrierte Bildungsbereiche wechseln. Auf Basis von 38 leitfadengestützten Interviews mit Eltern von sog. „Drop-Outs“, Elternvertretungen und Förderschulleitungen sowie Lehrkräften werden die Gründe für den Schulwechsel in Förderschulen mit unterschiedlichen Förderschwerpunkten in NRW (Rheinland) analysiert. Die Ergebnisse verweisen auf die unzureichenden Ressourcen an allgemeinen Schulen, die einer gelingenden Beschulung entgegenstehen. Darüber hinaus lassen sich aber ebenso strukturelle Probleme sowie nach wie vor auch integrationsskeptische Einstellungen ausmachen, die den Boden dafür bereiten, in einem Systemwechsel die Lösung zu sehen. Die Autor*innen kommen zu der inklusionspolitisch aufschlussreichen Folgerung, dass Schulwechsel außer der Reihe nicht nur Systemwechsel bedeuten, sondern auch Ausdruck von Frustration sind und deutliche Ausgrenzungsrisiken nach sich ziehen.

    Raphael Koßmann geht es um die Skizzierung einer empirischen Unterrichtsforschung für inklusionsorientierte Didaktik in ihrer praktischen Anwendung. Im Mittelpunkt des Forschungsinteresses muss verstärkt der Zusammenhang zwischen inklusionsorientiert fundierter Lehre und den intersubjektiven Austauschprozessen zwischen Lehrkräften und Schüler*innen stehen. Was passiert im Rahmen dieser Austauschprozesse praktisch und haltungsmäßig – und welche Auswirkungen auf die Persönlichkeitsentwicklung zieht inklusionsorientierter Unterricht durch didaktisches Handeln in dieser Hinsicht nach sich? Eine prominente Funktion erhalten dabei die wechselseitigen Adressierungen der Akteure in ihren möglicherweise sich im Unterricht auch prozesshaft verändernden Mustern. Unabhängig von einer sonderpädagogischen oder explizit inklusiven Interpretation spricht sich der Autor für eine verstärkte Hinwendung zur empirischen Untersuchung des Umgangs mit Leistungsdifferenzen in der Lehre aus, die im Sinne eines Forschungsprogramms auch zur reflexiven Evaluierung des fachlichen Handelns beitragen kann. 

    Einen Blick auf politische Bildung im inklusionsorientierten Unterricht werfen Jennifer Bloise und Michael Schön. Dies wirft die Frage auf, in welchem Wechselverhältnis politische Bildung und inklusionsorientierter Unterricht stehen (können oder sollen). Dem wird am Beispiel des Sozialkundeunterrichts nachgegangen. Der Beitrag entwickelt beispielhafte methodisch-didaktische Gestaltungsmöglichkeiten, die inklusionsorientierten Unterricht in der und für die politische Bildung gelingen lassen kann. Besondere Bedeutung erhalten hier Konzepte Leichter Sprache, da die Vermittlung politischer Bildung traditionell sehr sprachzentriert erfolgt und damit in einem grundsätzlichen Spannungsverhältnis steht, insbesondere in Bezug auf Schüler*innen mit unterstellten oder diagnostizierten kognitiven Beeinträchtigungen. Letztlich erweist sich das Ziel, Inklusion und politische Bildung miteinander zu vereinen, als eine notwendige Bedingung für gelingende Erziehung zur Mündigkeit unter Berücksichtigung der Anwendung der UN-BRK im Sinne eines uneingeschränkten auch demokratisch verbürgten Rechts auf (auch politische) Teilhabe.

    Selbstbestimmtes Wohnen als Konsequenz eines menschenrechtlich begründeten Rechts auf uneingeschränkte gesellschaftliche und soziale Teilhabe ist gerade für Menschen mit zugeschriebenen kognitiven Beeinträchtigungen auch über 10 Jahre nach Ratifizierung der UN-BRK noch alles andere als selbstverständlich. Eine zentrale Bedeutung beim Versuch, dies Bedingungen für selbstbestimmtes Wohnen zu verbessern, individuell angepasste Formen zu finden, die zu Selbstbestimmung ermutigen und Perspektiven aufzeigen, stellen Beratungen dar, die von Menschen mit und ohne Behinderung geleistet werden. Die Qualität der Beratung hängt dabei nicht nur von der objektiven Sachlage oder individueller Fachqualifizierung ab, sondern ist mitentscheidend bei der Frage nach den Bedingungen einer gelingenden inklusionsorientierten Praxis. Henrike Kopmann stellt eine Studie vor, in der sechs Peer-Berater*innen mit einer sogenannten geistigen Beeinträchtigung und drei als nicht behindert geltenden Berater*innen interviewt wurden. Dabei kommen nicht nur die spezifischen Herausforderungen im Zuge des Beratungsprozesses zur Sprache, sondern auch unterschiedliche subjektive Vorstellungen über die Beratungsrolle selbst. Deutlich werden die Vorteile, die Team- und Tandem-Beratungen dann spielen, wenn dabei biografisches und professionelles Erfahrungswissen in den Beratungsprozess reflexiv einfließen kann.

    Annette Korntheuer untersucht am Beispiel der Entwicklung in München den Schnittpunkt Flucht (Migration) und Behinderung. Interessant ist dabei, dass hier eine in Ansätzen intersektionale Perspektive kommunale Anwendung gefunden hat. Ihr sind zum einen empirische Erkenntnisse, zum anderen auch spezifische Bedarfslagen und eine Beurteilungsgrundlage der vorhandenen Angebotslandschaft zu verdanken. Zugleich wird aufgedeckt, dass die parallelen und größtenteils voneinander unabhängigen Systeme von Behindertenhilfe und Migrationsarbeit eine wesentliche strukturelle Bedingung für multiple Exklusionsmechanismen und -prozesse darstellt. Diese können nur mit einer konsequent intersektional ausgerichteten Perspektive wirksam angegangen werden. Der Beitrag arbeitet heraus, was hier noch erforderlich wäre, um eine solche Ausrichtung der kommunalen Handlungspraxis umzusetzen.

    Die folgende, dieses Jahr abschließende Ausgabe von Inklusion-Online wird die interdisziplinär und intersektional ausgerichtete Perspektive auf aktuelle Entwicklung inklusionsorientierter Forschung fortsetzen.
    Eine anregende und interessante Lektüre wünschen
    für das Redaktionsteam
    Carmen Dorrance und Clemens Dannenbeck

     

    Zukünftige Ausgaben:

    Inklusion in beruflicher Bildung und Arbeitsmarkt
    Abgabe für Beiträge: 4.10.2020 / Erscheinungstermin 2020 / 4

    Inklusion Interdisziplinär
    Abgabe für Beiträge: 15.01.2021 / Erscheinungstermin 2021 / 1

    Inklusions- und Exklusionsprozesse im Kontext der Corona-Pandemie
    Abgabe für Beiträge: 31.03.2021 / Erscheinungstermin 2021 / 2

     

  • 2-2020

    Annette Textor, Meike Penkwitt & Nina Kolleck:

    Editorial zur Ausgabe „Anerkennung und Beziehungen. Didaktische Umsetzungen“

    Anerkennung in Beziehungen zu erfahren, gilt als Voraussetzung für die Identitätsentwicklung. Dies schließt positive Selbstbezüge ein (vgl. Honneth, 1990; 1992). Bereits klassische pädagogische Schriften widmen sich Anerkennung in Beziehungen und verbinden diese Thematik beispielsweise mit Grundfragen zur gesellschaftlichen Integration und den pädagogischen Selbstverhältnissen (vgl. Prengel, 2013).

    Während wir in Ausgabe 1/2020 der Inklusion Online den Schwerpunkt auf theoretische Entwürfe zu Anerkennung in sozialen Beziehungen sowie zum wertschätzenden Umgang mit Beziehungen (insbesondere im schulischen Bereich) vorgestellt haben, widmen wir uns in dieser Ausgabe der didaktischen Umsetzung entsprechender Konzepte: Wie, wo und in welcher Form findet im schulischen Alltag im Rahmen von Inklusion Anerkennung in Beziehungen statt? Wie können diese Beziehungen so gestaltet werden, dass sie für die Schülerinnen und Schüler hilfreich und entwicklungsförderlich sind und möglichst wenige Elemente von Missachtung enthalten?

    In der Regel wird dabei unter dem Begriff ‚Inklusion‘ „die gleichrangige gesellschaftliche Partizipation aller Menschen einschließlich derjenigen mit Behinderungen unter Gewährung dafür notwendiger Hilfen“ (Kullmann u.a., 2014a, S. 90) verstanden. ‚Inklusion‘ ist dabei, wie an dieser Stelle noch einmal betont werden soll, kein wissenschaftlich-beschreibender Begriff, sondern, ähnlich wie z.B. auch der Begriff ‚Nachhaltigkeit‘, ein politisch geprägter (vgl. Balz, Benz & Kuhlmann, 2012) und damit auf eine normativ-ethische Zielsetzung bezogen. In die Wissenschaft wurde er als ein solcher bewusst eingeführt, um ein politisches Ziel – die Möglichkeit für alle Schüler*innen, eine Regelschule zu besuchen – benennen und gegen Versuche der Relativierung verteidigen zu können (z.B. bei Hinz, 2004; Wocken, 2010). Inzwischen ist der Bedeutungshorizont des Begriffs ‚Inklusion‘ allerdings auch im deutschen Sprachraum zunehmend diffus geworden: Ähnlich wie bereits 2004 für den angelsächsischen Sprachraum festgestellt (vgl. Sander, 2004, S. 11; Hinz, 2004), reicht er vom Synonym für ‚Integration‘ (englisch ‚mainstreaming‘) bis hin zu einer Verwendung für eine ‚optimierte und erweiterte Integration‘ (vgl. Textor, 2015, S. 37; Wocken, 2010). Ein grundsätzliches Merkmal des Inklusionsbegriffes besteht jedoch darin, alle für die gesellschaftliche Partizipation relevanten Heterogenitätsdimensionen einzuschließen: In der Regel sind dies die Dimensionen Ability, Class, Race und Gender. Hinzu kommen die Wechselwirkungen, in denen diese Dimensionen miteinander stehen, die mittlerweile vielfach empirisch belegt sind (zur Wechselwirkung von Race und Class siehe z.B. Stanat, 2006, S. 112 f.; Konsortium Bildungsberichterstattung, 2006, S. 151 ff.; Stanat, Rauch & Segeritz, 2010, S. 222 ff.) und neuerdings unter dem Terminus ‚Intersektionalität‘ diskutiert werden (vgl. u.a. Powell & Wagner, 2014, Wansing & Westphal, 2014 und Bräu & Schlickum, 2015).

    Mit Intersektionalita?t beziehen wir uns hier auf das Zusammenwirken verschiedener Dimensionen von Ungleichheit und Diskriminierung. Ein prominent diskutiertes Beispiel wäre, wenn ein Migrationshintergrund mit der Kategorie „gering qualifiziertes Elternhaus“ und einer finanziell schwierigen Lage zusammentrifft (Kolleck, 2020).

    Soll Schule inklusive Prozesse unterstützen, braucht sie nicht explizit auf den Unterricht mit Kindern mit unterschiedlichen Förderschwerpunkten (oder auch dem Bezug zu unterschiedlichen Differenzlinien) einzugehen. Notwendig ist es jedoch, sowohl individuelle Differenzen als auch Prozesse von gruppenspezifischen Marginalisierungen im Auge zu behalten, ohne jedoch mit ihnen auch nur implizit eine Hierarchie zu begründen (vgl. Sander, 2004; Löser & Werning, 2013, S. 22).

    Mit Inklusion ist darum untrennbar eine Grundhaltung verbunden, die zum Ziel hat, niemanden aufgrund einer Gruppenzugehörigkeit zu diskriminieren. Die Umsetzung von Inklusion setzt dabei voraus, dass die beteiligten Akteure Unterschieden gegenüber positiv – oder jedenfalls zumindest nicht negativ – eingestellt und in der Lage sind, entsprechend zu handeln. Dies gilt insbesondere für Lehrkräfte im Unterricht (vgl. Textor, 2015; Kron, 2009), aber auch für andere Akteur*innen wie z.B. Schulleiter*innen (Kullmann u.a., 2014 b): Zentral für gelingenden inklusiven Unterricht ist es, durch die Art der Unterrichtsgestaltung und die Gestaltung der sozialen Beziehungen in Unterricht und Schulleben inklusive Prozesse in der Lerngruppe zu unterstützen. In der vorliegenden Ausgabe wird dies verdeutlicht.

    Wie kann Organisations-, Unterrichts- oder Personalentwicklung in Schulen nun gezielt dazu beitragen, die Beziehungen zwischen Schüler*innen anzubahnen, zu fördern und zu stabilisieren? Wie können unterstützende, entwicklungsoffene Prozesse von Anerkennung und Identitätsbildung gefördert werden?

    Aus einer didaktischen Perspektive kann die Unterstützung der sozialen Beziehungen der Schüler*innen untereinander durch gemeinsames Lernen im Unterricht als Gegenpol zum stark individualisierten Lernen aufgefasst werden – sei es durch die Arbeit an einem ‚gemeinsamen Gegenstand‘ (vgl. Feuser, 1989; 2011), das Herauskristallisieren des ‚Kerns der Sache‘ aus der Sicht des Kindes (ausgehend von geöffneten Lernsituationen) (vgl. Seitz, 2006) und durch das gezielte Arrangieren unterschiedlicher gemeinsamer Lernsituationen (Wocken, 1998) oder auch durch kooperative Lernformen (vgl. Boban & Hinz, 2007). ‚Gemeinsamkeit‘ und ‚Individualisierung‘ bilden dabei keineswegs zwingend unvereinbare Gegensätze, vielmehr können diese beiden Pole dialektisch zusammengeführt werden: Individualisiertes Lernen kann am gemeinsamen Gegenstand stattfinden – auch wenn dies in der Praxis nicht immer erreichbar und möglicherweise auch nicht immer sinnvoll ist (vgl. Wocken, 1998; 2011). Eine zumindest zeitweise Arbeit am gemeinsamen Gegenstand wird in didaktischen Ansätzen, die für inklusive Lerngruppen konzipiert sind, jedoch als zentral angesehen, um Interaktion zwischen den Schüler*innen zu fördern und damit zwei wesentliche Ziele von Bildung – Mitbestimmungsfähigkeit und Solidaritätsfähigkeit (Klafki, 1991/2007, u.a. S. 52) – in den Blick zu nehmen. Somit fokussieren solche didaktischen Ansätze die Beziehungen der Schüler*innen untereinander und versuchen sie zu unterstützen. Welche Prozesse von Anerkennung finden jedoch statt? Und wie kann Schule wertschätzende Beziehungen und entwicklungsoffene Anerkennungsprozesse fördern?

    In dieser Ausgabe soll der Ertrag der unterschiedlichen Perspektiven zu Anerkennung in Beziehungen für eine Didaktik, die sich auf die Spezifika inklusiver Lerngruppen bezieht, entwickelt und reflektiert werden.

    Die ersten beiden Aufsätze der vorliegenden Ausgabe nähern sich dem Thema Anerkennung und Beziehungen aus empirischer Perspektive:

    In ihrem Beitrag „Anerkennung und Beziehungen. Didaktische Umsetzungen? Anfragen ausgehend von theoretischen und empirischen Analysen zum Zusammenhang von Menschen- bzw. Schülerbild, Anerkennungshandeln und Lehrerhabitus“ nimmt Kathrin te Poel die Spannungen von Didaktik und Beziehungen in den Blick. Auf der Basis theoretischer Analysen und empirischer Rekonstruktionen der Schüler*innenbilder von Lehramtsanwärter*innen formuliert sie Konsequenzen und Ansatzpunkte für die (Aus)Bildung angehender Lehrkräfte. Dabei zeigt die Autorin, dass Empathie seitens der Lehrer*innen als Voraussetzung für das Sich-Einlassen der Schüler*innen auf die pädagogische Beziehung fungiert und als grundlegend für die pädagogische Beziehung gewertet werden kann. Die Autorin zieht den Schluss, dass eine Sensibilisierung angehender Lehrkräfte in Bezug auf pädagogische Beziehungen zu den Schüler*innen der Methodenlehre vorausgehen müsse. Demnach sollten bereits angehende Lehrkräfte mit Herausforderungen der Gestaltung pädagogischer Beziehungen konfrontiert werden. Konkret könne dies erreicht werden, indem bspw. im Kontext einer konfrontativen Fallarbeit dazu angeleitet wird, Situationen aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten und sich in die Sichtweise der gegenüberstehenden Person hineinzuversetzen.

    Nicole Freke stellt am Beispiel der Laborschule vor dem theoretischen Hintergrund des relationalen Ansatzes von Annedore Prengel (vgl. Prengel, 2013, 2020) vor, wie sowohl die räumlichen als auch die zeitlichen Strukturen der – erstaunlicherweise bisher nur wenig beforschten – offenen Morgenzeit, also der Zeit zwischen dem Ankommen der Schülerinnen und Schüler und dem Unterrichtsbeginn z.B. im Morgenkreis, u.a. dazu beitragen, die Beziehungen zu den Schülerinnen und Schülern zu gestalten. Aus ihren ethnografischen Studien leitet sie vier Faktoren ab, die zu einer wertschätzenden, entwicklungsförderlichen Beziehungsgestaltung beitragen können: Eine zeitliche Strukturierung, die (auch) Freiräume für Gespräche und spontane gemeinsame Tätigkeiten lässt, einen Raum, der flexibel ist und verschiedene Möglichkeiten bietet, eine Beständigkeit der pädagogischen Beziehungen und das Wahrnehmen von und Eingehen auf die individuellen Bedürfnisse der Kinder.

    Die Aufsätze von Kerstin Ziemen und Simone Seitz stellen jeweils ein Modell einer inklusiven Didaktik vor.

    Kerstin Ziemen wendet sich in ihrem Beitrag mit dem Titel „Die Mehrdimensionale Reflexive Didaktik – Über Beziehung, Dialog und Emotion in der Pädagogik und Didaktik“ den Widersprüchen der Umsetzung von Inklusion in deutschen Schulsystemen zu.

    Die Autorin argumentiert, dass die in vielen Schulen praktizierten Tendenzen der Ökonomisierung, der Nützlichkeits- und Effizienzsteigerungen sowie des Fokus auf Verwertbarkeit und Leistungskontrolle zu exkludierenden Strukturen führe. Zudem weist sie auf grundlegende Probleme der Vereinbarkeit dieser Zielsetzungen mit der Würde aller Kinder und Jugendlichen hin. Als Vorschlag zur Reaktion auf dieses Dilemma schlägt sie ein fünfdimensionales Modell einer inklusiven Pädagogik und Didaktik vor[1], das die zurzeit dominierenden Widersprüche in konkreten didaktisch-methodischen Planungen reflektiert, per se aber kein Kind und keine*n Jugendliche*n ausschließt und Elemente wie u.a. die sozialen Beziehungen, Wertschätzung und Respekt, Dialog, Emotionen, Verantwortung, Resonanz, Zuwendung und Kooperation in den Mittelpunkt stellt.

    Vor dem Hintergrund einer Reflexion der aktuellen Lage des deutschen Schulsystems, die sie als ‚zerrissen‘ charakterisiert, und einer pointierten Darstellung der bisherigen Diskussion um eine inklusive Didaktik sowie der empirischen Forschung zu Inklusion (fokussiert auf den Gesichtspunkt Anerkennung), schlägt Simone Seitz „eine Struktur dreier miteinander verschränkter Dimensionen des Unterrichts“ als Grundlage für eine Reflexion der Unterrichtgestaltung vor. Diese biete zudem Anknüpfungspunkte für die Professionalisierungsforschung: Bei der Dimension ‚Anerkennung von Personalität‘ gehe es vor allem darum, „jedes Kind in der spezifischen Lebenssituation zu ‚sehen‘“, bei der ‚Anerkennung von Sozialität‘ um den unterstützenden Umgang mit der Angewiesenheit der Kinder auf intersubjektive Anerkennung und soziale Zugehörigkeit und bei der ‚Anerkennung von Komplexität‘ schließlich um „Verknüpfung komplexer Fragestellungen mit personal bedeutungsvollen Erfahrungen“ der Kinder, anstatt die Lerninhalte als Lehrperson zu reduzieren, zu banalisieren und zu simplifizieren. „Die Anerkennung von Kindern als Person und als auf intersubjektive Anerkennung angewiesene Subjekte der Bildung“, so Seitz, „bedeute(t) somit, Weltdeutungsprozesse kommunikativ zu gestalten, ohne die generationale Verantwortung hierfür zu negieren.“ Abschließend hebt Seitz hervor, dass sie ihren Ansatz einer inklusiven Didaktik nicht etwa als eine weitere „Spezialdidaktik“ verstehe und es sich auch nicht um eine spezifische Methodensammlung handele. Vielmehr beinhalte ihr Vorschlag– im Sinne von Gruschkas „Hefe für den ganzen Teig“ – transformatorisches Potential für das Schulsystem als Ganzes.

    Lisa Rosen, Lucia Sehnbruch und Bünyamin Werker, die gemeinsam die wissenschaftliche Leitung der Heliosschulen (das sind die inklusiven Universitätsschulen der Stadt Köln[2]) innehaben, verstehen ihren Text als eine Spurensuche: Zunächst arbeiten sie die Aspekte Anerkennung und Beziehungen, wie sie in der didaktischen Grundlegung der Heliosschule[3] zu finden sind, heraus. Diese basiert auf Kersten Reichs zehn Bausteinen einer inklusiven Didaktik sowie zehn Grundlinien, die Reich zusammen mit verschiedenen Akteur*innen aus Wissenschaft und pädagogischer Praxis – ausgehend von den Bausteinen – erarbeitet hat. Ihren Fokus legen die Autor*innen dabei besonders auf die Bausteine „Beziehungen und Teams“ sowie „Demokratische und chancengerechte Schule“ und die Leitlinien „Beziehungs- und Teamschule“ und „Partizipation, Demokratie und offene Schule“. Die didaktische Grundlegung der Heliosschule setzen sie im Anschluss in Beziehung zu dem Konzept der ‚Neuen Autorität‘ von Haim Omer, zu dem die Schulleiter*innen der beiden Schulen 2019 eine gemeinsame Fortbildungsveranstaltung für beide Kollegien organisiert und durchgeführt haben. Rosen, Sehnbruch und Werker fragen nach Übereinstimmungen, aber auch nach Differenzen oder sogar Widersprüchen, der Konzeptionierung von Anerkennung und Beziehungen in den beiden zuvor vorgestellten Konzepten (von Reich und Omer). Den Abschluss des Artikels bilden Überlegungen zu möglichen weiteren Forschungsvorhaben, die an die dargestellten Befunde anschließen könnten.

    Der letzte Aufsatz in diesem Heft wendet sich einer fachdidaktischen Perspektive zu:

    Das Potenzial der literarischen und sprachlichen Bildung für die Persönlichkeitsbildung im Kontext von Inklusion wird in dem Artikel von Anna-Lena Demi und Petra Anders zu „Anerkennung im Kontext eines symmedialen inklusiven Deutschunterrichts“ aufgegriffen. Ausgehend von der Annahme, dass Anerkennung als Voraussetzung für eine positive Persönlichkeitsbildung fungiert, wird der Beitrag eines vielfältigen Medieneinsatzes sowie barrierefreier Zugänge zu Lerngegenständen thematisiert und in den Kontext von Diversität und der Förderung individueller Kompetenzen gestellt. Die Autorinnen argumentieren, dass eine mediendidaktische Sensibilisierung für inklusive Konzepte sowie für den bewussten Einsatz von Medien und die barrierefreie Gestaltung von Lerngegenständen in die Ausbildung angehender Lehrkräfte mit einfließen sollte, u.a. um der Individuation, Sozialisation und Enkulturation der Schüler*innen in einer inklusiven Gesellschaft gerecht zu werden.

    Insgesamt wenden sich die in diesem Heft präsentierten Beiträge einer hoch relevanten Thematik zu, die in der erziehungs- und bildungswissenschaftlichen Forschung bisher zu wenig Aufmerksamkeit erlangte. Die Autor*innen beleuchten unterschiedliche didaktische Aspekte der Anerkennung in sozialen Beziehungen und präsentieren Ergebnisse innovativer methodischer Designs. Sie tragen damit zu einer grundlegenden Weiterentwicklung der fachwissenschaftlichen Forschung bei und bringen die Diskussion um Anerkennung in sozialen Beziehungen im pädagogischen Kontext ein gutes Stückchen voran.

    An dieser Stelle danken wir den Autor*innen, die mit ihren Artikeln zum Gelingen dieser Ausgabe beigetragen haben. Die vorliegende Ausgabe hat darüber hinaus durch die wertvollen (anonymen) Anregungen und Hinweise der Peer-Gutachter*innen an Qualität gewonnen. Ihr Engagement wissen wir ebenfalls sehr zu schätzen. Danken möchten wir schließlich dem Team der Zeitschrift Inklusion Online, das diese Ausgabe ermöglicht hat.

    Zukünftige Ausgaben:

    Inklusion in beruflicher Bildung und Arbeitsmarkt
    Abgabe für Beiträge: 4.10.2020 / Erscheinungstermin 2020 / 4

    Inklusion Interdisziplinär
    Abgabe für Beiträge: 15.01.2021 / Erscheinungstermin 2021 / 1

    Inklusions- und Exklusionsprozesse im Kontext der Corona-Pandemie
    Abgabe für Beiträge: 31.03.2021 / Erscheinungstermin 2021 / 2

     

    Literatur

    Balz, H.-J., Benz, B. & Kuhlmann, C. (2012). (Soziale) Inklusion – Zugänge und paradigmatische Differenzen. In H.-J. Balz, B. Benz & C. Kuhlmann (Hrsg.), Soziale Inklusion. Grundlagen, Strategien und Projekte in der sozialen Arbeit (S. 1–9). Wiesbaden: Springer.

    Boban, I. & Hinz, A. (2007). Orchestrating Learning!?! Der Index für Inklusion fragt – Kooperatives Lernen hat Antworten. In I. Demmer-Dieckmann & A. Textor (Hrsg.), Integrationsforschung und Bildungspolitik im Dialog (S. 117–125). Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

    Bräu, K. & Schlickum C. (Hrsg.) (2015). Soziale Konstruktionen in Schule und Unterricht. Zu den Kategorien Leistung, Migration, Geschlecht, Behinderung, Soziale Herkunft und deren Interdependenzen. Opladen, Berlin, Toronto.

    Feuser, G. (1989). Allgemeine integrative Pädagogik und entwicklungslogische Didaktik. Behindertenpädagogik, 28 (1), 4–48.

    Feuser, G. (2011). Entwicklungslogische Didaktik. In A. Kaiser, D. Schmetz, P. Wachtel & B. Werner (Hrsg.), Didaktik und Unterricht (S. 86–100). Stuttgart: Kohlhammer.

    Hinz, A. (2004). Vom sonderpädagogischen Verständnis der Integration zum integrationspädagogischen Verständnis der Inklusion!? In I. Schnell & A. Sander (Hrsg.), Inklusive Pädagogik (S. 41–74). Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

    Honneth, A. (1990). Integrität und Missachtung. Grundmotive einer Moral der Anerkennung. Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, 44 (7), 1043–1045.

    Honneth, A. (1992). Widerstand durch Anerkennung. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

    Klafki, W. (1991/2007). Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Zeitgemäße Allgemeinbildung und kritisch-konstruktive Didaktik (6. Aufl.). Weinheim: Beltz.

    Kolleck, N. (2020). Was uns zusammenhält: Wie erreichen wir mehr Teilhabechancen in unseren Schulen? Bonn: Friedrich-Ebert-Stiftung.

    Konsortium Bildungsberichterstattung (2006). Bildung in Deutschland. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Bildung und Migration. Zugriff am 09.10.2014. Verfügbar unter http://www.bildungsbericht.de/daten/gesamtbericht.pdf.

    Kron, M. (2009). Gemeinsame Erziehung von Kindern mit und ohne Behinderung im Elementarbereich. Theorieansätze und Praxiserfahrungen. In H. Eberwein & S. Knauer (Hrsg)., Integrationspädagogik. Kinder mit und ohne Beeinträchtigung lernen gemeinsam. Ein Handbuch (7. Aufl.) (S. 178–190). Weinheim: Beltz.

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    Ziemen, K (2018): Didaktik und Inklusion. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht.

     

    [1] Eine ausführliche Darstellung des Modells bietet Kapitel 4 „Mehrdimensionale reflexive Didaktik“ in Ziemen 2018.

    [2] Der Plural verweist darauf, dass dieser Name eine Grund- und eine Gesamtschule zusammenfasst, die zwar durch ein gemeinsames Konzept verbunden sind, sich aber bis zur Fertigstellung des Schulhauses noch in zwei Gebäuden befinden, die zudem in unterschiedlichen Stadtteilen liegen.

    [3] Den Singular verwenden die Autor*innen, wenn sie sich auf das verbindende Konzept und nicht die pädagogische Praxis beider Schulen beziehen, die ursprünglich als eine Schule des gemeinsamen Lernens geplant war.

  • 1-2020

    Meike Penkwitt, Annette Textor, Sina-Mareen Köhler:

    Editorial zur Ausgabe „Anerkennung in Beziehungen – Didaktische Perspektiven“

    "Handlungsfähige Subjekte verdanken der Erfahrung der wechselseitigen Anerkennung die Möglichkeit, eine positive Selbstbeziehung auszubilden; ihr praktisches Ich ist, weil es nur aus der Perspektive der zustimmenden Reaktionspartner sich selber zu vertrauen und zu achten lernt, auf intersubjektive Beziehungen angewiesen, in denen es Anerkennung zu erfahren vermag." (Honneth 1990, 1044.)
    "Das Selbst existiert nur in seinen und durch seine Beziehungen zu den anderen." (Todorov 1995, 170)

    Anerkennung in Beziehungen zu erfahren, gilt als Voraussetzung für die gelungene Identitätsentwicklung inklusive positiver Selbstbezüge (vgl. u.a. Honneth 1990; 1992). Bereits klassische pädagogische Schriften widmen sich dieser Thematik und verbinden diese beispielsweise mit Grundfragen zur gesellschaftlichen Integration und den pädagogischen Selbstverhältnissen (vgl. Prengel 2013b).
    Vor dem Hintergrund der zunehmenden Auseinandersetzung mit schulischer Inklusion und bezogen auf diese werden anerkennungstheoretische Ansätze und damit verbundene Fragestellungen in den Erziehungswissenschaften seit fast zwei Jahrzehnten verstärkt aufgegriffen und weiterentwickelt (z.B. von Katzenbach 2010 oder Prengel 2013b). Einen zentralen Bezugspunkt in dieser Debatte stellt die Anerkennungstheorie Honneths dar, die u.a. unter Rückgriff auf das Frühwerk Hegels, den symbolischen Interaktionismus Meads und die psychoanalytische Objektbeziehungstheorie Winnicots reziproke Akte der Anerkennung als Voraussetzung einer gelungenen Identitätsentwicklung in den Fokus rückt. Daneben können auch gesellschaftliche Dynamiken anerkennungstheoretisch erklärt werden, nämlich als „Kämpfe“ um Anerkennung, die auf Erfahrungen der Missachtung gründen (vgl. Honneth, 1990, 1052 ff.).
    Honneth unterscheidet drei Formen von Anerkennung und darauf bezogen auch drei Missachtungsformen, denen im Laufe der Sozialisation Bedeutung zukommt: zunächst die emotionale Zuwendung, affektive Zustimmung oder auch 'Liebe' im Rahmen von Primärbeziehungen (Familie; später z.B. aber auch Freundschaften und Paarbeziehungen) (1); kognitive Achtung im Rahmen von Rechtsverhältnissen (2) und schließlich Solidarität oder auch soziale Wertschätzung, insbesondere in Bezug auf individuelle Beiträge zum Gemeinwohl einer Wertegemeinschaft (3) (vgl. Honneth 1990, 1992). Mit diesen drei Anerkennungsweisen korrespondieren wie folgt spezifische Missachtungsformen: mit der emotionalen Zuwendung Misshandlungen, Vergewaltigung und Folter, mit der kognitiven Achtung Entrechtung und Ausschließung und mit der sozialen Wertschätzung schließlich Entwürdigung und Beleidigung. Im Laufe der Individuation resultieren aus den unterschiedlichen Formen von Anerkennung zudem drei unterschiedliche Formen praktischer Selbstbeziehung bzw. positiver Selbstverhältnisse: Selbstvertrauen, Selbstachtung und Selbstschätzung bzw. Selbstverwirklichung.
    Daneben gibt es – u.a. im Anschluss an Butler – Entwürfe, in denen Anerkennung nicht als affirmativ-bejahend und damit unterstützend verstanden wird, sondern umfassender als eine Adressierung im Sinne von Althussers Konzept der Anrufung/Interpellation. Da diese Adressierung unter Bezugnahme auf normative Diskurse erfolgt (Balzer/Ricken 2010), werden in solchen Ansätzen auch negative, weil festschreibende (oder auch 'verdinglichende') Aspekte eines 'Anerkennens als' herausgearbeitet (vgl. z.B. Mecheril 2005, Bedorf 2010 und Balzer 2014). Andere Ansätze stellen diesem festschreibenden 'Anerkennen als' ein entwicklungsoffeneres Anerkennen gegenüber, das so z.B. die im Laufe des Heranwachsens von Kindern jeweils erst noch zu erreichende Autonomie antizipiert (Stojanov 2006; 2011). Unter dem Titel Verkennende Anerkennung weist Bedorf (im Anschluss an Derrida und Lévinas) darüber hinaus darauf hin, dass jedes Anerkennen zugleich auch schon ein Verkennen impliziere, indem es den Anderen nie wirklich 'angemessen' in seiner Andersheit entsprechen könne.
    Humanistische Ansätze arbeiten demgegenüber weniger mit dem Begriff 'Anerkennung', es lassen sich aber Bezugspunkte und Parallelen finden: So definiert beispielsweise Rogers 'Akzeptanz' als eine nicht an Bedingungen geknüpfte positive Wertschätzung – d.h. eine spezifische Form von Anerkennung – in Verbindung mit Empathie und Kongruenz als eine wesentliche Grundlage insbesondere professioneller Beziehungen (z.B. Rogers, 1989, S. 35; Rogers, 1994, S. 481f., Tausch und Tausch, 1998, S. 118 ff., vgl. auch Graf und Iwers in dieser Ausgabe).
    'Anerkennung' stellt, so wird deutlich, „kein[en] monolithische[n] Begriff" (Bedorf 2010, 97) dar. Einen Einblick in die Bedeutungsvielfalt des Anerkennungsbegriffs gibt Bedorf in seiner Studie Verkennende Anerkennung (2010) oder auch Balzer in Spuren der Anerkennung (2014). Unterschiedliche Einteilungsversuche wurden vorgeschlagen, um die vielfältigen und teilweise auch widersprüchlichen Anerkennungsansätze zu systematisieren. Einen solchen stellt die Unterteilung in ontologische, in deskriptive (d.h. lediglich beschreibende) und in ethische Herangehensweisen (Ikäheimo 2009) dar. Diese ist jedoch nicht kritiklos geblieben (Balzer 2014, 577): Zwar ist z.B. Honneths Anerkennungsansatz insofern (primär) als ethisch zu betrachten, als dass Honneth ähnlich wie auch Taylor Anerkennung als „'etwas' auffasst, das das Leben menschlicher Wesen verbessert" (Balzer 2014, 576). Gleichzeitig ist er aber auch ontologisch, denn zugrunde liegt dieser Auffassung der Entwurf eines ontologischen Modells, in dem die reziproke Anerkennung als eine allgemeine gesellschaftliche Infrastruktur beschrieben wird, die im Laufe der Individuation die Entwicklung positiver Selbstbeziehungen ermögliche (ebd.). Ähnliche Schwierigkeiten ergeben sich für die Einordnung des Ansatzes von Butler, die ausgehend von ihrer ontologischen Beschreibung der Subjektivierung durch Adressierung und Re-Adressierung durchaus auch ethische Argumentationen aus differenz- und alteritätstheoretischer Perspektive thematisiert (vgl. Balzer 2014, 577). Als tragfähiger erscheint demgegenüber eine Unterscheidung, die auf Bedorf zurückgeht: Er unterscheidet zwischen intersubjektiven, interkulturellen und subjektivierenden Anerkennungsansätzen. Erstere fokussieren im Sinne von Honneth auf die Herausbildung personeller Integrität durch die soziale Infrastruktur wechselseitiger Anerkennung. Als interkulturell bezeichnet Bedorf Ansätze, in denen es, wie z.B. bei Taylor und Fanon, um das Miteinander unterschiedlicher Kulturen (und den Erhalt deren jeweiliger Authentizität) geht. Subjektivierende Anerkennungsansätze, wie sie z.B. Butler (vgl. u.a. Butler 1993/1997) und im Anschluss an diese u.a. Balzer und Ricken (Balzer/Ricken 2010) vertreten, gehen davon aus, dass nicht bereits bestehende Subjekte sich gegenseitig (oder auch einseitig) Anerkennung entgegenbringen oder auch nicht, sondern, dass die Subjekte durch einen lediglich adressierenden (und nicht unbedingt wertschätzenden) Akt der Anerkennung überhaupt erst konstituiert werden. In diesem Sinne unterscheidet Balzer eine konstativ bestätigende von einer performativ stiftenden Seite von Anerkennung (Balzer 2014, 589).
    Im Bereich der Pädagogik lassen sich zudem grundsätzlich zwei unterschiedliche Arten von Ansätzen unterscheiden, in denen das Konzept der Anerkennung im Zentrum steht: Im Kontext unterschiedlicher Differenzpädagogiken spielt Anerkennung insofern eine zentrale Rolle, als dass die (jeweils) Anderen nicht nur als gleichberechtigt geachtet werden, sondern auch in ihrer jeweiligen Andersheit anerkannt und darum nicht zur Angleichung verpflichtet, also nicht normalisiert werden. Einen solchen Zugang hat z.B. Prengel (1993a) in ihrer Auseinandersetzung mit der integrativen, der feministischen und der interkulturellen Pädagogik herausgearbeitet. In der Pädagogik der Anerkennung (u.a. Scherr und andere) geht es hingegen darum, dass Anerkennung in allen pädagogischen Kontexten und Beziehungen eine tragende Rolle zugesprochen bekommt (vgl. u.a. Hafeneger, Henkenborg, Scherr 2013).
    Als auch interdisziplinärer gültiger Minimalkonsens lässt sich herausarbeiten, dass Anerkennung „als etwas thematisiert und verstanden wird, das mit der Genese und/oder der Aufrechterhaltung von Subjektivität und Identität eng verbunden und für diese unverzichtbar ist“ (Balzer 2014, 276), als ein Akt, „... in dem eine/ein Adressierende/r einer/einem Anderen 'anzeigt' oder 'spiegelt', wer diese/r 'in seinen Augen' – im Verhältnis zu sich und/oder Anderen und/oder Normen sowie zu Anderem (einer Sache) – 'ist, so dass Anerkennung auch als eine (evaluativ spezifische oder unspezifische) 'Bedeutungsanzeige' qua Adressierung zu begreifen wäre“ (Balzer 2014, 584). Grundlegend ist also, dass Menschen in ihrer Identität und Subjektivität nicht als voneinander unabhängig oder auch autonom gedacht werden.
    Eine solche Sichtweise, „die das Selbst als ein in einem Netz von Beziehungen mit anderen eingebettetes Wesen begreift" (Benhabib 1989, 456), wurde interessanterweise auch von feministischen Theoretiker*innen der späten 1980er- und frühen 1990er-Jahre vertreten. Im Rahmen der Debatte um unterschiedliche Ansätze einer feministischen Ethik im Anschluss an Carol Gilligan (Gilligan 1982/1988) setzten diese der 'patriarchalen' Ethik der Gerechtigkeit bzw. der Rechte eine 'feministische' Ethik der Fürsorge und Verantwortung entgegen (Nagl-Docekal und Pauer Studer 1993). Kritisierte wurde dabei insbesondere eine Vorstellung vom Menschen als primär autonom und beziehungslos, wie sie insbesondere für herkömmliche Sozialvertragstheorien charakteristisch ist. Die Kritikerinnen wendeten sich gegen die Vorstellung, dass Menschen erst durch einen freiwilligen Abschluss eines Gesellschaftsvertrages, der den 'Krieg aller gegen alle' (Hobbes – 1588-1679) verhindern solle, miteinander in Beziehung träten. Sehr bildlich veranschaulicht Benhabib die Absurdität dieser Vorstellung ausgehend von einer (ebenfalls von Hobbes stammenden) Beschreibung des 'Naturzustandes', der dem Abschluss des Gesellschaftsvertrages vorausgehe. Sie zitiert Hobbes: "Betrachten wir die Menschen (men) ... als ob sie eben jetzt aus der Erde gesprießt und gleich Pilzen plötzlich ohne irgendeine Beziehung zueinander gereift wären." (Hobbes 1966, 109, zit, nach Benhabib 1989, 464) Dieser Vergleich von Menschen (oder auch Männern) mit Pilzen[1] stellt, wie Benhabib ausführt, „ein vollendetes Bild der Autonomie" (ebd.) dar, das die Mutter durch die Erde ersetze und nicht nur das Geborenwerden, sondern auch die Abhängigkeit leugne, die insbesondere für die Zeit des Heranwachsens so charakteristisch ist. Honneth hat auf die Parallele in der feministischen Moraldiskussion immerhin in einer Fußnote bereits hingewiesen, ist ihr aber nicht weiter nachgegangen (Honneth 1994, 9). Umgekehrt spricht Young von Honneths anerkennungstheoretischen Ausführungen als "Axel Honneths Feminism" (2010). Zusammenhänge mit der späteren Gender-Theoriebildung sind darüber schon alleine durch die Bezugnahme auf die für die Gender und Queer Studies zentrale Theoretikerin Butler offensichtlich. Darüber hinaus lässt sich Anerkennung im Sinne subjektivierender Anerkennungsansätze auch als interaktives und performatives Doing im Sinne der ebenfalls für den Genderkontext wichtigen, ethnomethodologisch fundierten Konzepte des doing gender (Zimmermann und West 1987) und doing difference (Fenstermaker und West 1995) charakterisieren.
    Anerkennung findet in Beziehungen statt und ist Teil von Beziehungen. Mit 'Beziehungen' sind in dieser Ausgabe 'soziale', 'zwischenmenschliche‘ oder 'persönliche' Relationen gemeint (vgl. Lenz und Nestmann 2009). Die Verbindungen zwischen organisationalen Einheiten, wie sie bspw. im Kontext der Etablierung der UN-Behindertenrechtskonvention auf globaler und nationaler Ebene analysiert werden (bspw. Schuster, Kolleck und Jörgens 2019), spielen zwar ebenfalls eine zentrale Rolle, bilden aber nicht den Schwerpunkt dieser Ausgabe. Die enorme Breite des Spektrums von Ansätzen, die sich zwischenmenschlichen Beziehungen widmen, führt Prengel in ihrer 2013 erschienenen Studie Pädagogische Beziehungen zwischen Anerkennung, Verletzung und Ambivalenz (Prengel 2013b) vor Augen. Sie geht dabei sowohl auf unterschiedliche relationentheoretische Ansätze innerhalb der Erziehungswissenschaften ein, blickt vor allem aber auch über den Tellerrand hinaus und stellt beziehungstheoretische Ansätze aus der Philosophie, der Sozialphilosophie, den Sozialwissenschaften, der Sozialpsychologie, der Psychoanalyse, der Entwicklungspsychologie sowie bedürfnistheoretische und salutogenetische Herangehensweisen vor und macht deutlich, dass diese wichtige Bezugspunkte für die Erziehungswissenschaften darstellen können. Dass es ebenfalls ein sehr breites Spektrum gibt, was die Qualität oder auch Förderlichkeit von Beziehungen betrifft, macht sie dabei mit dem Titel des Buches deutlich.
    Deutlich normativer sind didaktische Ansätze: Eine nicht an Bedingungen geknüpfte positive Wertschätzung aller Schülerinnen und Schüler sowie ein achtsamer Umgang mit sozialen Beziehungen zählen beispielsweise zu den zentralen Leitlinien einer inklusiven Didaktik (vgl. Kullmann u.a. 2014; Textor 2015a). Dies gilt auch für eine nicht spezifisch auf Inklusion ausgerichtete Didaktik (vgl. z.B. Textor 2015b, 121). Im Kontext der 'Pädagogik der Vielfalt' (Prengel 1993) wird Anerkennung als konstitutive Komponente 'egalitärer Differenz' und 'guten Unterrichts' (vgl. u.a. Meyer 2013) konzipiert, was wiederum die Beziehungen in den Fokus rückt – sowohl die Beziehungen zwischen der Lehrkraft und den Schüler*innen als auch die Beziehungen zwischen den Schüler*innen untereinander.
    In dieser Ausgabe werden unterschiedliche theoretische Perspektiven auf Anerkennung in sozialen Beziehungen im schulischen Unterricht vorgestellt und diskutiert. In der zweiten von uns herausgegebenen Ausgabe zum Thema 'Anerkennung und Beziehungen' wird dann der Ertrag dieser Perspektiven für eine Didaktik, die sich auf die Spezifika inklusiver Lerngruppen bezieht, entwickelt und reflektiert.
    In Auseinandersetzung mit unterschiedlichen relationentheoretischen Ansätzen innerhalb der Pädagogik arbeitet Annedore Prengel die "existentielle Bedeutung der Qualität pädagogischer Beziehungen für Entwicklung, Lernen und Sozialisation" heraus. Im Anschluss an eine Sondierung einer Reihe ausgewählter pädagogisch-professioneller Ethikkodizes auf die Berücksichtigung ethisch fundierten pädagogischen Konzeptionen führt sie vor Augen, dass hier bisher noch ein erheblicher Mangel zu konstatieren ist. Vor diesem Hintergrund stellt Prengel die Reckahner Reflektionen vor, die sich ganz gezielt diesem Desidarat zuwenden. Von empirischen Beobachtungen ausgehend formulierten hier Expert*innen aus Bildungspraxis, -verwaltung, -politik und -wissenschaft zehn Leitlinien mit dem Ziel einer Verbesserung pädagogischer Beziehungen. Abschließend verdeutlich sie deren Relevanz insbesondere auch für inklusionspädagogische Kontexte im Sinne der Pädagogik der Vielfalt.
    Der Beitrag von Kersten Reich verweist dezidiert auf die Notwendigkeit einer konstruktiven Vermittlung der Inhalts- mit der Beziehungsseite in schulischen Lehr-Lernprozessen. Würde der Beziehungsseite mehr Raum gegeben, so wäre ein lernförderliches Arbeitsklima in Schule und Unterricht gut möglich. In drei Kapiteln wird aus einer gesellschaftskritischen Perspektive mit vorrangigem Bezug auf das deutsche Schul- und Bildungssystem die Trennung der Inhalts- und Beziehungsseite umfassend nachgezeichnet. Dabei wird verdeutlicht, dass – historisch gewachsen – die emotionale Grundbildung an die primäre familiale Sozialisation gebunden ist und der schulischen Sozialisation, letztendlich auch durch die organisatorische Verfasstheit von Schule, die vorrangige Vermittlung disziplinär gebundener Inhalte obliegt. Davon ausgehend bildet das vierte Kapitel eine deutliche Kritik der Lehramtsausbildung selbst, die das Schwergewicht auf die fachwissenschaftlichen Inhalte lege und die pädagogische Beziehung vernachlässige. Für Kersten Reich sind Partizipation, Kommunikation und Kooperation die entscheidenden Säulen für gelungene schulische Lern- und Bildungsprozesse in einer modernen von Verschiedenheit geprägten Gesellschaft.
    Ebenfalls eine kritische Perspektive entwickelt Nicole Balzer. In ihrem Beitrag wendet sie sich gegen ein Verständnis von Heterogenität, das die individuell verschiedenen Lern- und Leistungsdispositionen diagnostiziert und davon ausgehend die Unterrichtsgestaltung vornimmt. Dem entgegen setzt sie im Anschluss an Stojanov die Notwendigkeit einer Anerkennung gleicher Entwicklungs-, Bildungs- und Autonomisierungsfähigkeit und rückt die Wandelbarbeit als Bezugspunkt für pädagogische Anerkennungsbeziehungen in den Vordergrund. Vorbereitet werden die einzelnen Argumentationslinien durch eine systematische Nachzeichnung der Diskurse um Anerkennung von Heterogenität in der pädagogischen Beziehung. Dabei arbeitet Balzer sowohl den Bedeutungsgehalt der Anerkennung von Heterogenität als auch der Anerkennung von Gleichheit heraus. Bezugspunkte bilden dabei Anerkennungspostulate, die u.a. im Rahmen von Ansätzen zur individuellen Förderung oder einer Pädagogik der Vielfalt formuliert werden.
    Sowohl Markus Dederichals auchMai-Anh Bogeranalysieren die Ambivalenz von Anerkennungsprozessen. Markus Dederich fragt nach Implikationen eines normativ bzw. ethisch orientierten Begriffs von Anerkennung. Dabei setzt er unter Bezugnahme auf Butler den Begriff der Vulnerabilität zentral und untersucht, inwiefern unterschiedliche Konzepte von Vulnerabilität mit Prozessen von Anerkennung in Wechselwirkung stehen. Diese Überlegungen werden mit Bezug auf Levinas ergänzt durch Ausführungen zu Subjektivierung und ethischer Gewalt; hier wird die Relevanz von Beziehungen zu Anderen in Anerkennungsprozessen deutlich. Schließlich werden Schlussfolgerungen für die Inklusion abgeleitet und dabei betont, dass Anerkennung „keineswegs ausschließlich als soziales, pädagogisches und politisches Antidot zu Verletzungserfahrungen zu sehen ist“, sondern vielmehr auch ein erhebliches Verletzungspotenzial birgt.
    Im Zentrum des Beitrages von Mai-Anh Boger stehen drei Praxisbeispiele für das Aporetische und Riskante von Anerkennung in pädagogischen Handlungszusammenhängen. Ausgewählt wurden Beispiele, die sich zum einen auf die drei Achsen der Theorie der trilemmatischen Inklusion beziehen und zum anderen auf die Differenzkategorien gender, race und disablity. Anhand der einzelnen Praxisbeispiele wird vor dem Hintergrund des gabentheoretischen Verständnisses von Anerkennung nach Bedorf das Spannungsverhältnis wechselseitiger Anerkennung in ihrer (riskanten) Bedeutungsvielfalt aufgezeigt. Gleichfalls wird deutlich, dass niemals alle drei Pole des Trilemmas – Empowerment, Dekonstruktion und Normalisierung – gleichzeitig berücksichtigt werden können. Somit grenzt sich Boger stringent von einer zweistelligen Figur der (Ent)Dramatisierung von Anerkennungsprozessen ab. Ihre Argumentation schließt mit einer kritischen Einschätzung der Verwendbarkeit anerkennungstheoretischer Ansätze für die pädagogische Theoriebildung und Praxis und tritt konsequent dafür ein, die Perspektive derjenigen, für die ein Begehren nach Anerkennung postuliert wird, als argumentativen Ausgangspunkt für pädagogisches Handeln zu setzen.
    Ulrike Graf und Telse Iwers gehen dem Thema 'Anerkennung und Wertschätzung' innerhalb unterschiedlicher Traditionslinien der Humanistischen Pädagogik nach. So zeigen sie die Bedeutung von Anerkennung und Wertschätzung im Rahmen der dialogischen Philosophie Martin Bubers, in der Themenzentrierten Interaktion Ruth Cohns sowie in der auf Carl Rogers beruhenden personenzentrierten Psychologie auf. Darüber hinaus reflektieren sie die Rolle von Wertschätzung und Anerkennung in Thomas Gordons theoretischem Modell der Selbstkonzeptentwicklung (bekannt sind diesbezüglich vor allem die Konzepte 'Lehrer-Schüler-'  und 'Familienkonferenz') sowie im Rahmen des Gestaltansatzes von Fritz Perls (mit dem zentralen Konzept 'Awareness') und schließlich im Kontext von Achtsamkeitsansätzen, die aktuell stark en vogue sind. Letztere bezeichnen Graf und Iwers zwar als eine eigenständige Herangehensweise, weshalb sie ihnen auch ein eigenes Kapitel widmen. Diese wurzele aber in den zuvor bereits dargestellten Ansätzen, woraus auch deren Anschlussfähigkeit an die Humanistische Pädagogik resultiert. Als gemeinsamen Kern aller vorgestellten Herangehensweisen arbeiten die Autorinnen erstens die – nicht nur für den Aufsatz zentrale – Kategorie 'Wertschätzung'  (d.h. ein normativ orientiertes Verständnis von 'Anerkennung') sowie zweitens eine Orientierung an der gesamten Person, einschließlich deren Leiblichkeit und damit verbunden an der Achtsamkeit allem Lebendigen gegenüber und am Hier und Jetzt heraus. Im Anschluss gehen Graf und Iwers der Frage nach, was die Humanistische Pädagogik zur Gestaltung der aktuellen Entwicklungen oder auch Herausforderungen von Migration und Digitalisierung beizutragen vermag.
    Mit diesen sechs Beiträgen werden pädagogische Anerkennungsbeziehungen – unter Bezugnahme auf unterschiedliche Gegenstände und Grundlagentheorien thematisiert. Gleichwohl zeigen sich übergreifende Thematisierungslinien, z.B. Anerkennung als spannungsreiches Beziehungselement oder als Ausgangspunkt von Bildung im Sinne der autonomen Subjektentwicklung.
    Wir danken den Autor*innen und Gutachter*innen für die angenehme und produktive Zusammenarbeit im Rahmen unserer Herausgeberinnenschaft und auch für ihre Geduld angesichts der leichten Verzögerung des Erscheinens dieser Ausgabe. Unser Dank gilt darüber hinaus Dieter Katzenbach, insbesondere auch für sein Vertrauen, uns die Herausgeberinnenschaft zu übertragen, sowie dem Redaktionsteam der Zeitschrift für Inklusion online.net – ganz besonders Herrn Frank J. Müller, der die Texte für das Einstellen im Netz finalisiert hat. Und schließlich danken wir Burak Sen, der für alle Texte gewissenhaft die Schlusskorrektur übernommen hat.

     

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    Schuster, J., Kolleck, N. und Jörgens, H. (2019). Social Network Analysis to study social relations in the UNCRPD. SAGE Research Methods Cases.
    Seitz, S. (2009). Inklusive Didaktik: Die Frage nach dem ’Kern der Sache’. Zeitschrift Für Inklusion 1 (1). Online unter: https://www.inklusion-online.net/index.php/inklusion-online/article/view/184
    Stojanov, K. (2006). Bildung und Anerkennung: Soziale Voraussetzungen von Selbst-Entwicklung und Welt-Erschließung. Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften.
    Stojanov, K. (2011). Bildungsgerechtigkeit. Rekonstruktionen eines umkämpften Begriffs. Wiesbaden: Springer VS.
    Tausch, R. und Tausch, A. (1998). Erziehungspsychologie. Begegnung von Person zu Person. 11. überarb. Aufl. Göttingen: Hogrefe.
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    Textor, A. (2015b). Einführung in die Inklusionspädagogik. Unter Mitarbeit von Daniela Niestradt, Benjamin Filitz, Jessica Matis, Aukje Rüting und Hannah Zingler. Bad Heilbrunn: Klinkhardt/ UTB.
    Todorov, T.. Abenteuer des Zusammenlebens. Versuch einer allgemeinen Anthropologie, aus dem Französischen von Wolfgang Kaiser. Berlin: Verlag Walgenbach, Originalveröffentlichung 1995 Paris: Editions du Seuil.
    West, C. und Fenstermaker, (1995). Doing Difference. Gender and Society 9 (1), 8-37.
    West, C. und Zimmermann D. H. (1987): Doing Gender. Gender and Society 1 (2), 125-151.
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    Young, I. M. (2007). Recognition of Love’s Labor: Considering Axel Honneth's Feminism. In B. van den Brink und D. Owen (Hrsg.), Recognition and Power. Axel Honneth and the Tradition of Critical Social Theory (189-212). Cambridge u.a..


    [1] Biologisch gesehen ist das Bild mit den Pilzen ohnehin nicht korrekt: Bei den z.B. oberhalb der Erdoberfläche sichtbaren ‚Pilzen‘ handelt es sich lediglich um die Fruchtkörper eines viel größeren Organismus. Der Pilz selbst besteht im Wesentlichen aus dem Myzel, das sich z.B. in der Erde befindet und häufig mit anderen Pilzmyzelen vernetzt ist. Einige Pilze leben auch in Symbiose mit Pflanzen. Die Vorstellung, dass es sich bei den 'Pilzen'  um autonome, quasi aus dem Nichts entsprungene Organismen handele, ist also biologisch grundlegend falsch, ähnlich wie die Vorstellung von der vermeintlichen Autonomie der Männer/Menschen. Letztlich passt das Bild der Männer/Menschen als Pilzen darum dann vielleicht gerade deshalb doch: nicht jedoch zur Veranschaulichung von deren Autonomie, sondern stattdessen vielmehr von deren tatsächlicher Abhängigkeit oder auch für die Verdeutlichung der Illusion von Autonomie bei einer tatsächlichen Abhängigkeit.
  • 4-2019

    Wir freuen uns, Ihnen zum Jahreswechsel die Ausgabe 4/2019 vorlegen zu können. Dabei handelt es sich um die Zusammenfassung von Beiträgen, die im Rahmen des Forschungs- und Praxisverbunds Inklusion an Hochschulen für ein barrierefreies Bayern verfasst wurden. Insgesamt waren die Universitäten Bayreuth und Würzburg sowie die Hochschulen für angewandte Wissenschaften Ansbach, Deggendorf, Landshut und München beteiligt. Ziel des Forschungs- und Praxisverbunds war es, Prozesse, die durch die Hochschulen angestoßen wurden, zusammen zu führen und wissenschaftlich zu begleiten. Dabei sollten inklusionsorientierte Forschungsansätze vorangetrieben, neue Lehrformen entwickelt, Netzwerke gebildet und Handlungsempfehlungen formuliert werden. Von den Impulsen sollte neben ihrer Bedeutung für das Handlungsfeld Hochschule auch eine Signalwirkung für ein barrierefreieres Bayern ausgehen. Der Forschungs- und Praxisverbund steht im Kontext der Initiative Bayern barrierefrei 2023 und der Verabschiedung des Konzepts „Inklusive Hochschule“ durch die bayerische Staatsregierung im Jahre 2012. Bezüglich der Gestaltung eines barrierefreien Studien- und Arbeitsumfelds im Hochschulbereich bestehen weiterhin vielfältige Handlungsbedarfe. Die Herausforderungen, denen sich bayerische Bildungs- und Kultureinrichtungen in diesem Zusammenhang stellen müssen, sind nach wie vor groß, und sie betreffen nicht nur baulich-architektonische Fragen, sondern beispielsweise auch didaktische Aspekte der Lehre und der Studienorganisation.

    „Öffentliche Räume vermitteln Wissen, Kompetenz, Sinn, Gemeinschaft und Gesellschaft - diese Inhalte müssen barrierefrei, also für alle zugänglich und inklusiv sein. Unter diesem Paradigma, welches öffentlichen Raum nicht allein als bauliche Struktur versteht, sondern als Raum für Austausch, Studium, Lernen und Begegnung, soll im Forschungs- und Praxisverbund „Inklusive Hochschule und barrierefreies Bayern“ erforscht und erprobt werden, wie inklusive Hochschulbildung, kulturelles Leben und aktive Teilhabe selbstverständlich werden. Accessability im Sinne eines barrierefreien Bayern mit für alle zugänglichen Bildungs- und Kultureinrichtungen kann nur Wirklichkeit werden, wenn die vorhandenen Expertisen und Kompetenzen an den bayerischen Universitäten und Hochschulen für angewandte Wissenschaften systematisch zusammengeführt, ausgebaut und stärker in die Praxis überführt werden. Genau dies strebt der Forschungs- und Praxisverbund „Inklusion an Hochschulen und barrierefreies Bayern“ an. Die Aktivitäten des Verbundes umfassen die anwendungsnahe Forschung ebenso wie die Implementierungen der Ergebnisse; sie zielen auf die Verbesserung der Studiensituation wie der baulichen Gegebenheiten, bilden Fachkräfte aus und bieten Entwürfe für eine inklusive Studien- und Lebenswelt.“ (Mölter, Sandra, In: Gemeinsam Leben 4/2019, 206f)

    Aufgrund ihrer Expertise waren die Beteiligten am Projektverbund in der Lage, zentrale Forschungsfragen interdisziplinär anzugehen. So haben sich die Forschungsarbeiten an der Universität Würzburg den Gelingensbedingungen inklusiver Hochschulbildung und den Gelingensbedingungen der Arbeit der örtlichen Schwerbehindertenvertretungen im Bereich Wissenschaft und Kunst sowie Unterricht und Kultus der beiden jeweiligen Bayerischen Staatsministerien gewidmet, während an der Hochschule Landshut die Erfahrungen gehörloser Menschen im akademischen Betrieb erkundet wurden. Die Universität Bayreuth weitete die Perspektive über Hochschulen hinaus auf die Zugänglichkeit von Kultureinrichtungen. An der Hochschule Ansbach wird ein barrierefreies multimediales Leitsystem entwickelt, das nicht nur an Hochschulen, sondern auch für andere öffentliche Gebäude genutzt werden kann. Um die Fachkräfte von morgen für Fragen der Barrierefreiheit und Inklusion zu sensibilisieren, entwickelte die Fakultät für Architektur der Hochschule München ein Format zu Grundlagen der Inklusion für ihr Lehrangebot.

    Die Projekte setzten sich ebenfalls als Ziel, aus praktischen Erfahrungen und Forschungsergebnissen gespeiste Empfehlungen und Leitlinien zu entwickeln.

    All dies konnte und sollte nicht ohne den Einbezug von Menschen, die sich als behindert adressiert sehen, geschehen. Deshalb wurden Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen im Verbundprojekt von Anfang an in den Forschungsprozess und die Entwicklung der Handlungsempfehlungen eingebunden.

    Der Forschungs- und Praxisverbund „Inklusion an Hochschulen und barrierefreies Bayern“ wurde an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg durch die Kontakt- und Informationsstelle für Studierende mit Behinderung und chronischer Erkrankung (KIS) koordiniert.

    Olaf Hoos, Julia Loose und Laura Bünner (Würzburg) fokussieren die Identifizierung zentraler Gelingensbedingungen inklusiver Hochschulbildung für Studierende mit Behinderung und chronischer Erkrankung in Bayern. Hierzu wurden anhand eines Mixed-Methods-Ansatzes themenspezifisches Wissen und Einstellungen von Lehrenden sowie Beauftragten an bayerischen Hochschulen mittels problemzentrierter Interviews sowie einer validierten Übersetzung eines themenspezifischen internationalen Befragungsinstruments erhoben.

    Im Rahmen eines 2. Teilprojekts in Würzburg beschäftigte sich Bernd Mölter im seinem Beitrag mit dem Einfluss von Vorkenntnissen auf die Arbeit von Schwerbehindertenvertretungen in Bayern. Außerdem widmete man sich der Qualifizierung der örtlichen Schwerbehindertenvertretungen in den Bereichen „Wissenschaft und Kunst“ sowie „Unterricht und Kultus“ durch Weiterbildungen zu inklusionsspezifischen Themen mit dem Ziel die örtlichen Schwerbehindertenvertretung in den entsprechenden Bereich besser zu vernetzen, die Beschäftigtenquote schwerbehinderter Menschen im Wissenschaftsressort durch bessere Kompetenz der örtlichen Schwerbehindertenvertretungen zu erhöhen und die Beratung und Unterstützung der Dienststellen in Schwerbehindertenfragen durch kompetente Schwerbehindertenvertretungen zu verbessern.

    Katharina Fink vom Team BayFink (Bayerische Forschungs- und Informationsstelle Inklusive Hochschulen und Kultureinrichtungen) befasste sich mit der barrierefreien Zugänglichkeit von Kultureinrichtungen. Der Ort für das explorative Arbeiten ist das Iwalewahaus, ein Ort der Produktion und Präsentation diskursorientierter, zeitgenössischer Kunst. Durch Ausstellungen, universitäre Forschung und Lehre, Sammlungen, Archiv, Künstlerresidenzen und Veranstaltungen wurden die jüngsten Entwicklungen in der zeitgenössischen Kultur Afrikas vorgestellt und in Kooperationen mit Künstlerinnen und Künstlern und Institutionen aktiv weiterentwickelt. Inklusion als ästhetisches, utopisches Projekt zu verstehen und gemeinsam mit internationalen Partnerinnen und Partnern zu entwickeln steht im Zentrum der vielfältigen Aktivitäten.

    Carmen Böhm, Uta Benner und Clemens Dannenbeck (Landshut) zeichneten für das Projekt „Gehörlos studieren in Bayern - Exploration des Forschungsfeldes aus Sicht inklusionsorientierter Hochschule“ verantwortlich. Dabei wurden vierzehn schwerhörige, gehörlose und spätertaubte Personen sowie Cochlea Implantat Träger*innen in Form qualitativer Interviews befragt, um die spezifische Studiensituation sich als gehörlos verstehender Studierender in Bayern zu eruieren. Die Ergebnisse der biographisch-narrativen Interviews verweisen dabei deutlich auf einen Zusammenhang zwischen der Gehörlosigkeit und den Bildungserfahrungen der befragten Personen. Als wesentliche Ergebnisse sind die größtenteils erstmalige Auseinandersetzung mit eigenen kommunikativen Bedarfen in hörenden Settings ohne adäquate Beratungsangebote sowie die Erarbeitung hierzu passender Lern- und Kommunikationsstrategien der Befragten zu nennen. Der organisatorische Mehraufwand, den gehörlose Studierende bei der Beantragung, Organisation und Finanzierung kommunikativer Hilfen im Studium zu bewältigen haben ist ein weiterer Faktor, der die Zielgruppe der vorliegenden Studie auszeichnet. Zudem erleben sich die Befragten als abhängig vom Wohlwollen ihrer KommilitonInnen und Dozent*innen, was Unterstützung bei der Teilhabe an Lehrveranstaltungen und sozialen Aktivitäten sowie der Aufbereitung des Lehrstoffes betrifft. Auf Basis der Ergebnisse wurden Informationsmaterialen erarbeitet, die bayerischen Hochschulen und Universitäten kostenfrei zur Verfügung gestellt werden und zur Verbesserung kommunikativer Barrierefreiheit für hörbehinderte Studierende beitragen soll.

    Markus Paul und Dunja Zöller entwickeln im Rahmen des Projektes Der Campus-Lotse ein barrierefreies Indoorleitsystem für öffentliche Gebäude, das in mehreren Stufen aufeinander aufbaut. Zunächst wurde und wird ein digitales, smartphone-gestütztes Leitsystems auf App-Basis konzeptioniert und entwickelt. In einem zweiten Schritt soll das System zu einer Art multimedialen mobilen Gebäudekompass erweitert werden können. Die installierte Technologie könnte sinnvoll mit analogen Elementen eines taktilen Leitsystems für Blinde und Sehbehinderte komplettiert werden, um eine Orientierung innerhalb eines Gebäudekomplexes zu ermöglichen. Blinde und sehbehinderte Personen bildeten die Basiszielgruppen des Projektes.

    Andrea Benze vom Projekt der Hochschule München „Städtebau und Stadtstruktur“ siedelte das Thema im Bereich Städtebau an. Eine Begeisterung der Studierenden für Inklusion und eine nachhaltige Einsicht in die Wichtigkeit dieses Themas war möglich, indem Inklusion als gesellschaftliches Konzept betrachtet wurde und nicht auf das Erlernen bestehender Regeln für barrierefreies Bauen eingegrenzt wurde. Stadt wurde unter dem Aspekt der Inklusion neu gelesen und verstanden mit dem Ziel, Herzstück war ein Reallabor, ein Format, in dem Lehrveranstaltungen im Städtebau im direkten Austausch mit der Stadtentwicklung durchgeführt wurden. Seminare zur Recherche und Analyse sowie Entwurfsprojekte zum „Research by Design“ konnten in die Arbeit des Reallabors einbezogen werden. Im zweiten Jahr des Projektes stand zusätzlich die Planung einer Reihe öffentlicher Werkstattgespräche „Inklusionsmaschine STADT“ sowie die Konzeption einer Publikation der Ergebnisse aus den Werkstattgesprächen im Mittelpunkt der Aktivitäten.

    Der Verbund hat in der bayerischen Hochschullandschaft die Sensibilisierung für den Themenbereich verstärkt und eine Dynamik angestoßen, die über die aktuell beteiligten Verbundpartner und den angestrebten Förderzeitraum hinausgreift. Die Herausforderungen, die sich auf dem Weg zu einem barrierefreien Bayern im öffentlichen wie im privatwirtschaftlichen Sektor stellen, verlangen nun nach einer breiteren Erschließung in Forschung, Lehre und Wissensvermittlung.

     

    Sandra Mölter, Clemens Dannenbeck (Gastherausgeberschaft)

  • 3-2019

    Sehr geehrte Leserinnen und Leser,

    wir freuen uns, Ihnen mit dieser dritten Ausgabe von Inklusion-Online im Jahr 2019 wieder ein breites Spektrum frei eingereichter Beiträge vorstellen zu dürfen, die ein Licht auf aktuelle Forschungsaktivitäten und unterschiedliche Themenfelder werfen, die gegenwärtig mit inklusiven Entwicklungen und Bemühungen verbunden werden. Inklusionsorientierte Entwicklung als gesamtgesellschaftliche Gestaltungsaufgabe zu verstehen, ruft die Kommunen auf den Plan. Der Beitrag von Lena Bertelmann erinnert daran, dass die Etablierung einer inklusionsorientierten Praxis als Konsequenz aus dem gesetzlichen Rahmen, den die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung (UN-BRK) darstellt, noch keineswegs überall als Gestaltungsaufgabe erkannt ist. Vor allem auf kommunaler Ebene spiegelt sich dies in dem Maße, in dem die verantwortlich handelnden Akteure hier engagiert sind und sich die Gestaltung eines inklusionsorientierten Gemeinwesens als ihre Aufgabe zu eigen machen. Der vorliegende Beitrag arbeitet die Bedeutsamkeit der Gemeinde und des Ortsbezirks hinsichtlich der Frage nach den Teilhabemöglichkeiten für Menschen mit Behinderung heraus und verdeutlicht die Rolle der Gemeinde und der Ortsbeiräte bei der Planung von Teilhabeprozessen. Grundlage der Argumentation bilden Befunde von Erhebungen auf kommunaler Ebene in kreisangehörigen Städten und Gemeinden sowie ihren Ortsbezirken. Inklusion als Querschnittsthema in den Verwaltungen ist vielerorts erst noch zu etablieren, was breit angelegte Sensibilisierung und Bewusstseinsbildung erfordert. Es fehlt häufig sowohl an Kenntnissen über die Bedarfslagen von Menschen mit Behinderung als auch an Artikulations- und Partizipationsoptionen für gesellschaftliche Teilgruppen.

    Matthias Kempf und Albrecht Rohrmann hinterfragen, inwiefern und inwieweit Ansätze integrierter Sozialplanung sich dem Anliegen der Inklusion verpflichtet fühlen. Insofern steht auch in diesem Beitrag die kommunale Ebene im Fokus der Betrachtung, wenn es darum geht, einen Blick darauf zu werfen, auf welche Bedingungen die Anwendung der UN-BRK in Deutschland trifft. Konkret wird betrachtet, wie Inklusion als Bestandteil des Planungsansatzes zur Entwicklung einer an Vielfalt und Beteiligung ausgerichteten Sozialplanung aufgegriffen wird und unter welchen fachlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen dies geschieht. Dabei warnen die Autoren einerseits von einem eher pflichtgemäß demonstrativen Aufgreifen der Thematik im Rahmen bestehender Vorstellungen seitens der Sozialplanung durch Kommunen, andererseits bergen restriktive Vorgaben die Gefahr eines überstürzten und fehlerhaften Aktivismus, der die örtlichen Spezifika tendenziell unberücksichtigt lassen könnte.
    Anschließend verfolgen Ines Boban und Andreas Hinz weiter ihr Programm, die theoretischen und praktischen Schnittstellen zwischen Inklusionspädagogik und Ansätzen Demokratischer Bildung zu untersuchen und deren Bezüge fruchtbar werden zu lassen für ein inklusionsorientiert verändertes pädagogisches Handeln, das dem menschenrechtlichen Begründungszusammenhang der UN-BRK gerecht zu werden vermag. Diese Perspektive ist nicht zuletzt von dem Befund geleitet, dass der Inklusions-Diskurs immer unverkennbare Züge einer – theoretischen wie praktischen und vor allem auch politischen – Verflachung an sich trägt, der nach einer kritischen Wendung verlangt und wohl auch neuer theoretischer Impulse bedarf. In diesem Zusammenhang ermutigt der vorliegende Beitrag dazu, die Kritische Pädagogik Paulo Freires aufzugreifen und darauf aufbauende Weiterentwicklungen der Critical Literacy und Critical Mathemacy zu rezipieren. Beispielhaft wird gezeigt, welche Potenziale ‚Kritisches Lernen‘ im Kontext eines inklusionstheoretisch ausgerichteten und den demokratischen Prinzipien verpflichteten Unterrichts entfalten könnte.

    Folke Brodersen und Kien Tran analysieren Freundschaftsbeziehungen zwischen Jugendlichen mit Behinderung auf der empirischen Basis egozentrierter Netzwerkanalysen. Damit betreten sie ein weithin unbearbeitetes Forschungsgebiet der Jugendforschung, die trotz repräsentativer Aussagen immer noch größtenteils Jugendliche mit Behinderung systematisch übersieht und infolgedessen bislang in hohem Maße einen Nachholbedarf an Diversitätsorientierung aufweist. So weiß man relativ wenig über Sozialbeziehungen von Jugendlichen mit Behinderung, was nicht zuletzt auch mit methodischen und methodologischen Problemen der Datenerhebung und gewählten Zugänge zusammenhängt. Der Beitrag prüft, welche Entwicklungs- und Anwendungspotenziale in egozentrierten Netzwerkanalysen für die beschriebene defizitäre Situation liegen und diskutiert, welche Erkenntnisgewinne durch ihre Anwendung zu erwarten wären.

    Jürgen Budde, Nina Blasse, Georg Rißler und Victoria Wesemann gehen der Frage nach, welche Wirkungen von praktizierter ‚Inklusion‘ im Unterricht auf das Handeln und die Zusammenarbeit zwischen den unterschiedlichen am Geschehen beteiligten Professionellen ausgeht. Anforderungen an fachliche Kooperation muss dabei nicht auf einer geteilten Interpretation von Inklusionsorientierung beruhen, sondern kann sich in der wechselseitigen Delegation von Verantwortung für Schüler*innen mit und ohne Behinderung erschöpfen. Die Autor*innen erkennen in dieser doppelten Delegation einen eklatanten Widerspruch zu „normativen Semantiken einer ‚Kooperation auf Augenhöhe‘, eines ‚Unterrichts für alle‘ oder auch zur Annahme, dass Inklusion ‚eine Frage der Haltung“ sei. Vielmehr liegt in diesem Professionalisierungsdilemma ein Grund für die qualitativ unzureichende integrative Praxis, die weder als Einlösung des inklusiven Anspruchs gelten kann, noch wirklich volle Teilhabe für alle bedeutet. Der Beitrag illustriert auf Basis ethnografischer Unterrichtsbeobachtungen an Gemeinschaftsschulen in Schleswig-Holstein exkludierende und differenzverstärkende Praxen. Dem wirksam zu begegnen, so das Plädoyer, setzt ein Problembewusstsein voraus, das Inklusion als gesamtgesellschaftliche Herausforderung begreift, die über eine professionelle Selbstreflexion schulischer Praxis hinausgreift.

    Ausgehend von der Frage, wie Kognitionen von Lehrkräften handlungsbestimmend für die Unterrichtspraxis sind und welche Folgen dieser Zusammenhang für den Bildungserfolg spezifischer Schüler*innengruppen hat, untersucht der Beitrag von Toni Simon empirisch inwiefern sich bei angehenden Lehrkräften eine Fokussierung auf bestimmte Heterogenitätsdimensionen feststellen lässt, inwiefern die heterogenitätsbezogenen Einstellungen sich als belastungs- und normbezogen negativ oder differenzbezogen positiv beschreiben lassen und inwiefern ausgewählte Variablen diese Einstellungen zu beeinflussen vermögen. Empirische Grundlage bildet ein Teilsample der INSL-Studie (Inklusion aus Sicht angehender Sachunterrichts-Lehrkräfte). „Die Ergebnisse deuten auf ambivalente Einstellungen im Spannungsfeld von Differenzanerkennung und normierendem Homogenisierungsdenken hin, die dem Anspruch einer inklusionsorientierten individuellen Förderung im Unterricht entgegenstehen können.“ Sabine Weiß, Adina Küchler, Magdalena Muckenthaler, Ulrich Heimlich und Ewald Kiel fragen nach der tatsächlichen Belastung von Lehrkräften in inklusionsorientierten Schulen in Bayern vor dem Hintergrund der häufig kolportierten Unterstellung, individuelle Förderung und Konfrontation mit komplexer Vielfalt würde zu einer systematischen Überforderung führen. Der Beitrag wendet sich insgesamt 49 Schulen in Bayern zu, die im Besitz des ‚Schulprofils Inklusion‘ sind, also ausgewiesenermaßen sich den Herausforderungen einer inklusionsorientierten Qualitäts- und Organisationsentwicklung stellen. Die 485 in die Untersuchung einbezogenen Lehrkräfte sind damit mit ihren Erfahrungen in bildungspolitisch als ‚inklusiv‘ definierten Settings positioniert. Im Kontext des inklusionsorientierten Agierens werden Anforderungen wie eine adaptive Unterrichtsgestaltung, multiprofessionelle Kooperation oder auch konzeptionelle Anforderungen dabei nicht als besondere Belastungsfaktoren genannt. Maßnahmen, die davon ausgehen, dass inklusive Settings primär als belastend zu interpretieren wären, erscheinen damit wenig angebracht, vielmehr führt kein Weg daran vorbei, unterstützende Maßnahmen möglichst kontextspezifisch und individuell an der Situation des konkreten Einzelfalls auszurichten. Sarah Maaß berichtet aus einem DFG-Forschungsprojekt an der Universität Duisburg-Essen, das die deutschsprachige Literaturpreislandschaft quantitativ und qualitativ untersucht. Der vorliegende Beitrag thematisiert dabei die kleine Gruppe von sechs Literaturpreisen in Deutschland und Österreich, die einen Inklusionsbezug aufweisen. Diese befassen sich mit Literatur von oder auch für Menschen mit so genannter geistiger Behinderung. Damit signalisieren diese Preise einen Zusammenhang zwischen literarischer Praxis und der kultur- und bildungspolitischen Verpflichtung zu einem spezifischen Wertekanon, der sich an Vielfalt, Partizipation und ‚Inklusion‘ orientiert. Das Profil der genannten Preise sowie die Praxis der Preisvergabe werden diskursanalytisch sowie literatur- und kulturwissenschaftlich fundiert analysiert. „Besondere Aufmerksamkeit wird dabei auf die Art und Weise gelegt werden, wie sich ‚Identifikationsregime‘ (Jacques Rancière) und Wertordnungen von Behinderung und Literatur (etwa Konzepte literarischen Schreibens, literarischen Werts und Autorschaft) verzahnen und wie das Potential zur Störung symbolischer und sozialer Ordnungen, das der Inklusion als Haltung eignet, ‚reterritorialisiert‘ (Gilles Deleuze) wird“.

    Bettina Streese und Jacquelin Kluge zeichnen die Situation der Förderschulen in Niedersachsen nach und thematisieren den Veränderungsdruck, dem sie sich ausgesetzt sehen, aber auch das Beharrungsvermögen, das infolge der bildungspolitischen Rahmenbedingungen in struktureller und institutioneller Hinsicht fortbesteht. Die einerseits durch die Vorgabe des Geltungsanspruchs der UN-BRK, andererseits durch bildungspolitische Entscheidungen, strategisch an den existierenden Parallelsystemen festzuhalten, entstehenden Spannungsfelder bestimmen die Perspektiven für die Zukunft der Förderschulen. Die Autorinnen vermissen für Niedersachsen ein Gesamtkonzept zur Realisierung eines inklusionsorientierten Bildungssystems, das den Anforderungen und dem Anspruch der UN-BRK gerecht wird. Eine politische Steuerung, die zwar rhetorisch die Parallelstrukturen hinterfrage, sie jedoch praktisch bislang nicht systematisch in eine inklusionsorientierte Gesamtentwicklung einbezogen hat, sondern im Gegenteil in vorhandene exkludierende Strukturen weiter investiert, wird ihr Ziel verfehlen.

    Als Themenschwerpunkt der folgenden Ausgabe ist geplant:
    4/2019 Befunde des Forschungs- und Praxisverbunds Inklusion an Hochschulen und barrierefreies Bayern

    Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre.

    Carmen Dorrance und Clemens Dannenbeck
    für die Redaktion von Inklusion-Online

  • 2-2019

    Einleitung
    Die Beiträge der vorliegenden Ausgabe „Norm, Behinderung, Gerechtigkeit“ der Zeitschrift für Inklusion (2/2019) gehen zurück auf die Tagung „Erziehungswissenschaftliche Inklusionsforschung. Norm – Behinderung – Gerechtigkeit.“ der AG Inklusionsforschung der DGfE am 28. und 29.06.2018 an der Europa-Universita?t Flensburg.[1] Konkret handelt es sich bei den hier versammelten Beiträgen um solche aus sogenannten „Impulsrunden“, in denen Expert*innen mit den Begriffen Norm, Behinderung und Gerechtigkeit drei Schlu?sselbegriffe der deutschsprachigen Inklusionsdebatte aus unterschiedlichen theoretischen Positionen heraus diskutiert haben. Das diskursive Format eines Impulses sollte bei der Schriftfassung für diese Ausgabe der Zeitschrift für Inklusion ausdrücklich erhalten bleiben. Die Bestimmung dieser drei Begriffe als „Schlüsselbegriffe“ ist als eine vorläufige Setzung zu verstehen, mit der anderen, ebenfalls zentralen Begrifflichkeiten des aktuellen Inklusionsdiskurses wie z.B. Teilhabe, Bildung, Leistung und Ko?rperlichkeit keine geringere Bedeutung zugewiesen werden soll. Im call for papers der Tagung waren diese zusätzlichen Begriffe daher ausdrücklich genannt und in „Themenforen“ diskutiert worden. Dennoch möchten wir an dieser Stelle begründen, warum wir Norm, Behinderung und Gerechtigkeit mit diesem Themenheft erneut in den Vordergrund rücken.
    Der Überlegung, eine vertiefte Auseinandersetzung um theoretische Begriffe des Inklusionsdiskurses anzuregen, sind die folgenden Beobachtungen vorausgegangen. Inklusion ist im vergangenen Jahrzehnt im Zuge bildungs- und sozialpolitischer Reformen zu einem zentralen Themenfeld der deutschsprachigen Erziehungswissenschaft in Theoriebildung, empirischer Forschung und universitärer Lehre avanciert. Entsprechende Professuren, bildungspolitische Programme, erziehungswissenschaftliche Studien und Publikationen manifestieren die gewachsene Bedeutung der Inklusionsforschung. Bei genauerer Betrachtung der Forschungen zu Inklusion dra?ngt sich allerdings der Eindruck auf, dass in den letzten Jahren zwar zahlreiche empirische, politische sowie praktisch-pa?dagogische Aktivita?ten entfaltet worden sind, die theoretische Fundierung allerdings nicht in gleichem Maße entwickelt wurde. Um dieses Ungleichgewicht aufzugreifen und zu bearbeiten, ist explizit die Auseinandersetzung mit zentralen Begriffen und ihrer theoretischen Verfasstheit ins Zentrum gestellt worden. Die Wahl ist auf die Begriffe Norm, Behinderung und Gerechtigkeit gefallen, da die Forschung zu Inklusion und Exklusion Fragen nach Bildungsprozessen sowie Behinderungen und Benachteiligungen innerhalb von Bildungs- und Erziehungsorganisationen in den Fokus rückt. Diese sind eng verbunden mit Diskussionen zu Normen bzw. Normalität und Normierungen, da das Verhältnis von Norm und Abweichung als gegenseitiges Konstitutionsverha?ltnis ein zentrales Spannungsfeld sowohl für Forschung als auch für Bildungs- und Erziehungspraxis darstellt. Jede Konstruktion einer Norm – sei es etwa in Bezug auf Bildungs- und Erziehungsziele, Kompetenzen, Körper oder Werte – impliziert gleichermaßen die Konstruktion dessen, was als abweichend betrachtet und gelabelt wird. Diese Annahme gilt selbstredend auch in umgekehrter Richtung. Forschung zu Inklusion und Exklusion greift aber auch Fragen von Gerechtigkeit auf, schließt hier Debatten um soziale Ungleichheiten und Leistungskonzepte an und diskutiert Prozesse gesellschaftlicher Anerkennung von Differenz sowie die Vor- und Nachteile von (De-)Kategorisierungen im jeweiligen gesellschaftlichen Kontext. Diese Begriffe bzw. Konzepte sind nicht nur in sich spannungsreich, sondern sie stehen ebenfalls in spannungsvollen Verha?ltnissen zu anderen erziehungswissenschaftlichen und pa?dagogischen Begriffen, was eine versta?rkte Auseinandersetzung mit theoretischen Positionen umso notwendiger erscheinen la?sst. Auch ist zu fragen, inwieweit und in welcher Form erziehungswissenschaftliche Kernbegriffe und Konzepte vor dem Hintergrund des Diskurses zu Inklusion erneut zu reflektieren sind und inwiefern die Auseinandersetzung mit Inklusion neue Zuga?nge zu ihnen ero?ffnet oder sie in spezifischer Weise konturiert. Es geht also über die Erarbeitung und ‚Vermessung’ von analytischen Begriffen, die dem Gegenstand Inklusion angemessenen sind, hinaus.
    Zu den Beiträgen im Einzelnen:

    Andrea Platte diskutiert anhand von vier „Beobachtungen“ die Verwendung des Normbegriffs in den Diskursen und Debatten um Inklusion sowie in der „Inklusionsforschung“: Erstens habe der Normbegriff in der inklusionsbezogenen Forschung Konjunktur. Zweitens werde er in der inklusiven Pädagogik meist im Sinne der Anerkennung eines breiten Spektrums von menschlichen Entwicklungen und Eigenkomplexitäten als Normalität verwendet. Drittens habe „Inklusion“ in den letzten Jahren verschiedene Normverschiebungen – z.B. von einer kritisch-normativen zu einer affirmativ-normativen Interpretation innerhalb des selektiven Schulsystems – hervorgebracht. Und viertens zeige sich die Verwendung des Inklusions- und des Normbegriffs als vielfältig, aber v.a. auch als widersprüchlich. Im Fazit dringt Platte auf Wachsamkeit der „Inklusionsforschung“ hinsichtlich Normen und Normierungen.

    Der Beitrag „Inklusion und Norm – Inklusion als Norm?“ von Julie A. Panagiotopoulou analysiert die reziproke Verfasstheit der Begriffe Inklusion und Norm. Auf der einen Seite wird – mit etymologischen Bezügen zur sprachhistorischen Herkunft – der Begriff der Norm relational zu Abweichung skizziert. Beispielhaft wird hier die ‚sprachliche Herkunft‘ als abweichend konstruiertes Merkmal in Bildungskontexten angeführt, wodurch Exklusionspotenziale entstehen.  Auf der anderen Seite wird der Inklusionsdiskurs kritisch in den Blick genommen, der sich derzeit stark an der in der UN-Behindertenrechtskonvention gesetzten, menschenrechtlichen Norm orientiere und Gefahr laufe, sich so programmatisch als eigenständige Norm zu entfalten, die inhärente Exklusionsmechanismen aufbaue.

    Daniel Wrana beleuchtet in seinem Essay die „Normativität der Inklusion“ und unterscheidet dazu in einem ersten Schritt idealtypisch zwei relational miteinander verbundene Verständnisse von Behinderung: ein essentialistisches und ein sozialwissenschaftliches Behinderungsverständnis – letzteres gehe eine Allianz mit der UN-Behindertenrechtskonvention ein. Wrana weist hier u.a. auf die Ambivalenz der (temporären) Deautonomisierung hin und fragt – an Figuren der System- und Gouvernementalitätstheorie angelehnt –, ob die pädagogische Inklusion unter Umständen „als ein Phänomen im Bereich jener Grenze zu verstehen ist, an der die klassische Inklusionsleistung der gesellschaftlichen Teilsysteme neuerlich in die Krise gerät“. Die Grenzen der Pädagogik vermessend arbeitet er heraus, dass Inklusion „Anlass für ein kritisch-transformatives Projekt“ sein könne, dies aber ein gesellschaftliches Projekt sein müsse, in dem  „die Rolle von Bildung in modernen Gesellschaften als Ganze in Frage“ und „auf eine andere Grundlage“ gestellt wird, als dies zurzeit „mit Leistungssteigerung und Aktivierung“ gefordert werde.

    Thorsten Merl und Petra Herzmann stellen in ihrem Beitrag zu „Inklusion und dis/ability“ Überlegungen aus der Perspektive einer differenztheoretischen Unterrichtsforschung an. Ausgehend von ihrem Forschungsinteresse nach der Funktion, die Differenzierungen entlang der Unterscheidung von fähig/behindert in einem gegenwärtig von schulischen Akteur*innen und Bildungspolitik als inklusiv bezeichneten Unterricht zukommt, nehmen sie eine methodologische Grundlegung vor. Einen zentralen Bezugspunkt bilden dabei Studien ethnographischer Unterrichtsforschung, die diskursive Praktiken des Differenzierens und Normalisierens rekonstruieren und eine kulturtheoretische Modellierung von Behinderung vornehmen. Entlang von ausgewählten Befunden dieser Forschungsrichtung, die Thorsten Merl und Petra Herzmann entlang von drei Foki systematisieren, erörtern sie, welche Erkenntnisse sich aus den Untersuchungen ergeben hinsichtlich der funktionalen Unterscheidung dis/ability für die Aufrechterhaltung und Legitimierung einer unterrichtlichen Leistungsordnung.

    Krassimir Stojanov geht der Frage nach, inwiefern Inklusion ein Imperativ von (Bildungs-) Gerechtigkeit ist. Dabei unterscheidet er zwei Gerechtigkeitsparadigmen in ihrer Bedeutung für die moralische Bewertung von schulischer Inklusion: einerseits die Leistungsgerechtigkeit, bei der es um die gerechte Verteilung von Gütern und Ressourcen geht, und andererseits die Anerkennungsgerechtigkeit, bei der die Wertschätzung aller Menschen im Vordergrund steht. Während die Leistungsgerechtigkeit im meritokratischen Sinn nicht zwingend schulische Inklusion impliziere, seien schulische Segregation und Exklusion unter dem Gesichtspunkt von Anerkennungsgerechtigkeit hochgradig ungerecht. Denn die Kultivierung von Leistungsfähigkeit der Schüler*innen sei eine zentrale Aufgabe der Schule und setze Anerkennung als Empathie, Respekt und soziale Wertschätzung voraus, die nur in einem inklusiven Schulsystem für alle verwirklicht werden könne.

    In seinem Beitrag „Norm, Behinderung und Gerechtigkeit“ nimmt Erich Otto Graf abschließend die drei dem Themenheft zugrundeliegenden Kernbegriffe auf und skizziert diskursive Verbindungslinien. Nach einer behinderungsbiographischen Einführung entfaltet er zunächst relationale Bezüge zwischen den Begriffen Norm und Behinderung, indem er sie als kulturelle Konstrukte und kulturell stabilisierende Setzungen definiert, durch die gesellschaftliche Vorstellungen manifestiert und machtvoll abgesichert würden. Mit der Frage nach Normen ist also verbunden, wer sie setzen darf. In Relation dazu entwickelt Graf ein Verständnis von Behinderung, das anti-essentialistisch und als politisch verankerte Setzung nicht erfüllter Erwartungen gebunden an Personen zu verstehen sei. Hierdurch werde Behinderung sozusagen zum sozialen Problem, das sich aus „Diskrepanzen zwischen Wahrnehmung einer Situation und Erwartung, wie die Situation sein sollte“ speist und die Frage aufwirft, wie gerecht diese in Bildungsorganisationen bearbeitet bzw. inwiefern diese hervorgerufen werden.

    Karin Bräu (Mainz), Jürgen Budde (Flensburg), Andreas Köpfer (Freiburg) und Lisa Rosen (Köln) im Juli 2019.

     

    Die kommenden Themenhefte werden durch Gastherausgeber_innnenschaften gestaltet, weitere Beiträge können aber jederzeit über die Plattform eingereicht werden.

     

     

    [1] Nach der Vorjahrestagung an der Universität zu Köln, die von den Initiator*innen der AG Inklusionsforschung in der DGfE organisiert wurde (siehe https://www.dgfe.de/sektionen-kommissionen/arbeitsgemeinschaft-inklusionsforschung.html), wurde diese zweite Arbeitstagung von einem erweiterten Kreis von Erziehungswissenschaftler*innen unterschiedlicher Subdisziplinen vorbereitet und durchgeführt. Dies waren im Einzelnen: Prof. Dr. Karin Bra?u (Universität Mainz), Manfred Bo?ge (CAU Kiel), Prof. Dr. Ju?rgen Budde (Universita?t Flensburg), Jun.-Prof. Dr. Andreas Ko?pfer (PH Freiburg), Adina Ku?chler (LMU Mu?nchen), Prof. Dr. Andrea Platte (TH Ko?ln), Prof. Dr. Lisa Rosen (Universität zu Ko?ln), Prof. Dr. Tanja Sturm (Universität Mu?nster) sowie Dr. Nadja Thoma (Universität Wien).

  • 1-2019

    Sehr geehrte Leserinnen und Leser,

    Sie erhalten hiermit Zugang zur ersten Ausgabe von Inklusion-Online im Jahr 2019. wir haben uns diesmal entschieden, einen neugierigen Blick auf die Fragen zu werfen, die sich jungen Wissenschaftler*innen im Kontext der Inklusionsforschung aktuell stellen und den Nachwuchs gebeten, aus seinen Forschungszusammenhängen zu berichten – auch vor dem Hintergrund des Eindrucks, dass den empirischen Befunden und wissenschaftlichen Erkenntnissen der Inklusionsforschung seitens der Akteure in Politik und Praxis bisweilen zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Einen Schwerpunkt bildet dabei der analytische Blick auf spezifische Verhältnisse im kanadischen Schulsystem.

    Lukas Doleschal und Anne Welslau stellen eine Studie an kanadischen Schulen vor. Dabei geht es um Möglichkeiten der Prävention und Intervention von Bullying (Mobbing) in schulischen Kontexten. Die Befunde verweisen auf den Zusammen-hang zwischen dem Phänomen und den strukturell-organisatorisch vorgegebenen Verhältnissen in Unterricht, Schule und sozialer Lebenswelt. Daraus können gegebenenfalls Schlüsse zu einer inklusionsorientierten und demokratischen Schulgestaltung, auch mit Blick auf die Verhältnisse in Deutschland, gezogen werden. Die Autor*innen entwickeln zunächst einen theoretischen Bezugsrahmen für das Phänomen Bullying als „soziales Interaktionsgefüge in der (Zwangs)Gemein-schaft Schulklasse“ unter Rahmenbedingungen, die durch spezifische Kontexte vor Ort bis auf die Ebene der Gemeinde und Nachbarschaft geprägt sind. Befragt wurden kanadische Lehrkräfte zu den auf Bullying bezogenen und an den Schulen etablierten Methoden und Programmen. Die vielfältige Tradition in Kanada, Bullying präventiv zu begegnen wird anhand zweier Schulen  vorgestellt.

    Johanna Ingenerf und Julian Zimmermann behalten den Blick auf kanadische Verhältnisse bei und analysieren interdisziplinäre Kommunikation im Unterricht auf Basis von Analysen in einer Schule in New Brunswicks. Gedanklicher Ausgangspunkt ist die Überzeugung, dass die Bereitschaft und Fähigkeit zur transprofessionellen Zusammenarbeit eine unverzichtbare Voraussetzung gelingende schulische Inklusion ist. In ihrem Beitrag nehmen die Autor*innen das Schulsystem der kanadischen Provinz New Brunswick unter Einbezug der Educational Governance Forschung in den Fokus, das bereits häufiger im international vergleichenden Inklusionsdiskurs zum Gegenstand der Betrachtung und Auseinandersetzung wurde. Mit der professionellen Zusammenarbeit ist dort keine getrennte Zuständigkeit für unterschiedliche Schüler*innen verbunden, was der sonderpädagogischen Expertise eine im Vergleich zum Bildungssystem in Deutschland völlig unterschiedliche Funktion und Bedeutung zukommen lässt. Die Provinz New Brunswick zeichnet sich durch ein Schulsystem aus, in dem auf schulische Aussonderung jeglicher Art konsequent verzichtet wird. Wie dies in der Praxis des Unterrichtsalltags zu professionellen Herausforderungen führt und wie diesen durch die professionell handelnden und miteinander interagierenden Akteure begegnet wird, darüber geben die Befunde zweier Expertinneninterviews Auskunft.

     

    Auch Marie-Sophie Röder und Iris Schweizer haben kanadische Verhältnisse im Auge. Sie berichten von Beobachtungen, die sie auf einer 2wöchigen studentischen Exkursion nach Toronto und in die Provinz New Brunswick machen konnten. Dabei ging es nicht in erster Linie um Fragen der Vergleichbarkeit und Übertragbarkeit von strukturell-organisatorischen oder praktischen Verhältnissen auf ein selektierendes Schulsystem, wie es nach wie vor in den deutschen Bundesländern überwiegt, sondern um eine kritisch-reflektierende und produktiv-irritierende Beobachtung. Aus studentischer Sicht stehen dabei die Möglichkeiten und Grenzen der Erkenntnisgewinnung im Vordergrund sowie Erfahrungen, theoretische Zielsetzungen, bildungspolitische Rahmenbedingungen und pädagogische Praxis vor Augen geführt zu bekommen und aufeinander beziehen zu können. Dabei nutzt dieser Beitrag die Systematik des Index für Inklusion und geht speziell auf Beobachtungen rund um inklusive Kulturen, Strukturen und Praktiken ein, welche die Autorinnen während und nach der Exkursion als Irritationen und Frageanlässe beschäftigten.

    Jacquelin Kluge von der Universität Bielefeld stellt die Befunde ihrer Masterarbeit vor. Im Zentrum steht die Frage, was es für gegenwärtig und zukünftig Studierende bedeutet, wenn sich Rolle und Funktion der Profession Sonderpädagogik angesichts eines sich inklusionsorientiert verändernden Schul- und Unterrichtssettings verändern und weiterentwickeln. Inwiefern provozieren die veränderten Rahmenbedingungen und bildungspolitischen Zielsetzungen das Professionsverständnis von Studierenden der Sonderpädagogik? Die qualitative Studie der Frage nach, welches Verständnis Studierende des Studiengangs „Integrierte Sonderpädagogik“ an der Universität Bielefeld von der Rolle sowie den Aufgaben der Sonderpädagogik in inklusiven Settings haben. Die Ergebnisse der Befragung von fünf Studierenden werden vorgestellt sowie im Hinblick auf die Professionalisierung in der universitären Lehrer*innenausbildung diskutiert. Unter inklusiven Settings werden Schulen oder Schulklassen verstanden, in welchen alle Kinder gemeinsam unterrichtet werden. Somit liegt der Studie ein weiter Inklusionsbegriff zugrunde, der unterschiedliche Heterogenitätsdimensionen im Blick behält.  
    Auch Alina Quante analysiert im Rahmen ihrer Masterarbeit an der Universität Bielefeld exemplarisch, wie eine Lehrkraft Gemeinsamen Unterricht bei bestehendem Unterstützungsbedarf im Bereich emotionaler und sozialer Entwicklung gestaltet. Die Herausforderungen (Bedenken und Vorbehalte) sind in diesem Feld nach Aussagen von Lehrkräften besonders groß. Unter Bezugnahme auf theoretische sowie empirische Erkenntnisse sollen daraus praxisnah umsetzbare konzeptionelle und didaktische Handlungsempfehlungen abgeleitet werden. Grundlage ist die strukturierte Unterrichtsbeobachtung einer Grundschulklasse mit einem Schüler, der Unterstützungsbedarf in der emotionalen und sozialen Entwicklung attestiert bekommen hat.

    Abschließend befasst sich Mirko Moll mit den unterschiedlichen Diskursen, in denen das Cochlea-Implantat jeweils unterschiedlich verhandelt wird. Dabei lassen sich widersprüchliche, irritierende und provozierende Effekte feststellen, die Wirkungsweisen und Funktion von Cochlea-Implantaten aus einer inklusionstheoretischen Sicht auf den Prüfstand stellen. Cochlea-Implantate erscheinen so nicht ohne Weiteres als technischer Beitrag zur (Wieder)Herstellung oder Ermöglichung gesellschaftlicher Teilhabe, vielmehr ist das Versprechen einer Normalisierung verbunden mit der stillschweigenden Hinnahme bestehender Inklusions-Exklusionsbedingungen. Mirko Moll fragt in seiner Abschlussarbeit aus einer techniksoziologischen Perspektive  nach den materiellen und diskursiven Rahmungen, in denen CI-Hören situiert ist und die zu ungewissen Wirkungen und vielfältigen Nutzungsweisen auf Seiten der Träger*innen führen.

     

    Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre

    Carmen Dorrance und Clemens Dannenbeck

    für die Redaktion von Inklusion-Online

  • 4-2018

    Sehr geehrte Leserinnen und Leser,

    wir freuen uns rechtzeitig zum Ende des Jahres 2018 die vierte Ausgabe von Inklusion-Online vorlegen zu können. Inklusive Entwicklungen sind in vielerlei Hinsicht inzwischen in schweres Fahrwasser geraten. Politisch gesehen kamen die Bemühungen im Bildungsbereich weitgehend zum Stillstand und werden inzwischen von anderen Zielsetzungen überlagert und auch in großen Teilen des Fachdiskurses bekommt man den Eindruck, dass sich der Wind gedreht haben könnte, gibt es doch immer mehr nicht eigentlich kritische Debatten als vielmehr ideologisch gefärbte Einlassungen, die inklusive Ansprüche pauschal als gescheitert, widerlegt oder auch überzogen halten. Dem sollte eine qualifizierte Inklusionsforschung etwas entgegensetzen und sich möglichst nicht beirren lassen von Debatten, die zumeist auf einer Interpretation von Inklusion basieren, die die Herausforderungen des bestehenden rechtlichen Rahmens, der u.a. durch die UN-BRK repräsentiert wird, weitgehend ignorieren oder in Frage stellen.

    Matthias Windisch und Philine Zölls-Kaser betrachten in ihrem Beitrag den Effekt sogenannter inklusiver Sportangebote von Sportvereinen für die Teilhabe im Gemeinwesen. Bezugspunkt sind die Evaluationsergebnisse eines Modellprojekts, die sich aus der Befragung der Nutzer*innen ergaben. Während keine Unterschiede zwischen Teilnehmenden mit und ohne Behinderung hinsichtlich der Teilnahemotivation festgestellt werden konnten, zeigten sich Partizipationsmöglichkeiten und Einflüsse auf die Beziehung zwischen Nutzer*Innen und Übungsleitung sowie Auswirkungen auf die wechselseitige Wahrnehmung. Trotz der modellhaften Angebotsstruktur wird somit ein positives Resümee gezogen, was die Resonanz in die Region anbelangt. Die Autoren sprechen sich für eine Professionalisierung der inklusionsorientierten Angebote aus, um diese langfristig, nachhaltig und kontinuierlich etablieren zu können.

    Martina Hehn-Oldiges, Ulrike Sell und Patrik Widmer-Wolf geht es um Folgerungen, für die Aus- und Weiterbildung der Lehrer*innenbildung, die sich aus einer Inklusionsorientierung ergeben. Die Autor*innen nehmen dabei Bezug auf den Index für Inklusion, das Profil für inklusionspädagogisch tätige Lerhkräfte der European Agency for Development in Special Needs Education sowie die Reckahner Reflexionen zur Ethik in pädagogischen Beziehungen zwischen Lehrpersonen und Schüler*innen. Inklusionssensibilität pädagogischer Beziehungen bewährt sich dabei auf den Ebenen der Partizipation, des Feedbacks seitens der Lehrenden, der Normierungsprozesse, der Etikettierungs- und Zuschreibungen sowie des subjektiven Umgangs mit der eigenen emotionalen Befindlichkeit. Interaktionen von Lehrpersonen in ihrer eigenen Aus- und Weiterbildung können dabei für die eigene zukünftige Lehrpraxis genutzt werden, da sie Erfahrungsräume für die Reflexion guter oder problematischer Lehrpraxen der Dozierenden, Aus-oder Weiterbilder*innen bieten.

    Kathrin Lemmer interessiert sich für Vorstellungen und Erfahrungen bezüglich pädagogischer professioneller Kooperation im Kontext von inklusionsorientierter Unterrichtspraxis. Aus der Auswertung von Gruppendiskussionen mit Hilfe der Grounded Theory werden vier Typen von Kooperationsvorstellungen angehender Lehrkräfte rekonstruiert. Inklusion wird dabei kontrovers diskutiert, insofern Lehrkräfte theoretische Anforderungen und schulpraktische Umsetzungen sowie eigene Erfahrungen nur schwer auf einen gemeinsamen Nenner bringen können. Didaktisch und methodisch wird den ambivalenten Einstellungen und Erfahrungen auf Unterrichtsebene mit Differenzierung begegnet, wobei die “Figur der Sonderpädagog*innen als Differenzierungskraft wahrgenommen wird, „welche durch eine ambivalente Charakterisierung als Vehikel zu Inklusion und durch gleichzeitige professionsbedingte Exklusionsmechanismen benannt wird“. Mangelnde Vorstellungen seitens der Regelschullehramtsstudierenden von der sonderpädagogischen Fachlichkeit in inklusionsorientierten Kontexten führt zu einer Vorstellung von Kooperation, die der Sonderpädagogik die Zuständigkeit für Schüler*innen mit Förderbedarf zuweist. Teamteaching auf Basis symmetrischer Beziehungen sind bislang kaum im Bewusstsein der Studierenden. Die Autor*innen sprechen sich für Forschungsaktivitäten aus, die den aufgeworfenen Fragen weiter lehramtsspezifisch nachgehen, zudem besteht ein Kenntnisbedarf über die Vorstellungen von Sonderpädagog*innen. Durch eine Erweiterung der Perspektive auf die zweite Ausbildungsphase könnten Implementationen für die Lehrer*innenbildung umfassender konzipiert werden und der Fokus darüber hinaus auch auf die Fort- und Weiterbildung von Lehrkräften erweitert werden.

     

    Anna Maria Loffredo und Robert Schneider-Reisinger bleiben gewissermaßen beim Thema und legen einen provokanten Essay vor, der die Chancen und Risiken für den Lehrberuf angesichts der beobachtbaren Veränderungen in Richtung Inklusion mit sich bringt. Die Situation der österreichischen wie der deutschen Lehrerbildung im Blick, beziehen die Autor*innen ihre disziplinspezifischen allgemeinpädagogischen und kunstdidaktischen Sichtweisen dialogisch aufeinander. Es geht auch um die Frage nach der Eignung für einen Lehrberuf angesichts der Herausforderung, im Sinne der UN-BRK eine barrierefreie Lehre für alle zu gestalten. Bestehende Anforderungen müssen vor dem Hintergrund inklusiver Schulstrukturen reflektiert und ggf. verändert werden (Stichwort: Teamteaching).

     

    Robert Schneider führt in seinen Reflexionen zur Rolle und Bedeutung der Kategorie Fremdheit in inklusiver Pädagogik die bildungstheoretischen und –philosophischen Überlegungen fort, die zu einer Überwindung dichotomen Denkens und Wahrnehmens in pädagogischen Handlungskontexten führen sollen. Unter Bezugnahme auf Karl Marx und Georg Simmel wird die Denkfigur ‚Fremdheit‘ in ihrer Bedeutung für (Identitäts)Bildung thematisiert. Fremdheit verliert im Zuge der Diskussion ihren unterstellten Charakter als Eigenschaftsbeschreibung und erweist sich vielmehr als „Verortung eines Verhältnisses“.

    Kerstin Merz-Atalik führt in ihrem abschließenden Beitrag die unregelmäßige Reihe der Länderbetrachtungen in Inklusion-Online fort. Auf Basis aktueller Daten zur schulischen Inklusion in Baden-Württemberg wird eine kritische Analyse der Effekte politischer Maßnahmen und Strategien (insbesondere reformierte Schulgesetzgebung und Einführung eines Elternwahlrechts) vorgelegt, die im Kontext der Anwendung der UN-BRK eingeschlagen wurden. Dabei steht Baden-Württemberg beispielhaft für die Tatsache, dass sich im Berichtszeitraum Förderquoten ebenso wie Segregationsquoten erhöhen. Das bedeutet im Ergebnis, dass sich Integration und Segregation nicht als Nullsummenspiel erweisen, sondern sich wechselseitig sogar bedingen können, was die praktizierte Governance ‚inklusiv’ genannter Schulentwicklung vor dem Hintergrund der Aufgabenstellung, die sich aus der UN-BRK ergibt, in Frage stellt.

     

    Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre und ein entschleunigtes Jahresende.

     

    Carmen Dorrance und Clemens Dannenbeck

    für die Redaktion von Inklusion-Online

     

  • 3-2018

    Sehr geehrte Leserinnen und Leser,
    die nunmehr vorliegende dritte Ausgabe von Inklusion-Online in 2018 befasst sich schwerpunktmäßig mit dem Zusammenhang zwischen der Tradition des institutionalisierungskritischen Diskurses der Antipsychiatrie auf der einen und Inklusion als gesamtgesellschaftliche Herausforderung für ein menschenrechtskonformes Zusammenleben und soziale Kohäsion auf der anderen Seite.

    Oliver Koenig stellt gleich zu Beginn die grundlegende These in den Raum, dass menschliche Entwicklung nur in Freiheit möglich ist. Am Beispiel der alltagsbezogenen Betreuungs- und Begleitungspraxis von und mit Menschen mit psychischen Erkrankungen eines Vereins in Österreich verdeutlicht er die Erfahrungen mit einer Praxis, die mit einer Beziehungsgestaltung einhergeht, welche von der Berücksichtigung von Selbstbestimmung und wechselseitigem Respekt voreinander gekennzeichnet ist. Im Wortsinne „hilfreiches“ professionelles Handeln, das konzeptionell auf das gestalttherapeutische Konzept der „Guten Form“ von Zinker zurückgreift, erhebt den Anspruch, die Beziehung zwischen Professionellen und ambulant begleiteten Erwachsenen mit psychischer Erkrankung theoretisch und erfahrungsbasiert weiterzuentwickeln. Die zugrundeliegende Studie analysiert zunächst die Forschungstradition, sowie das praktische Beziehungsverhältnis im Handlungsfeld und untersucht dann systematisch die Wirkungen und Faktoren, die die Beziehungsgestaltung zwischen professionellem Handeln und begleiteten Menschen mit psychischer Erkrankung prägen. Mit Blick auf die Inklusionspädagogik muss festgestellt werden, dass die hier verhandelte Thematik zur Lebens- und Unterstützungssituation von Erwachsenen mit psychischer Erkrankung bislang nur eine randständige Rolle spielt.

    Christiane Carri nimmt die Reformgeschichte der Psychiatrie in den Blick und fragt nach den Kontexten, in denen die beschreibbaren Prozesse jeweils eingebettet waren. Vor diesem Hintergrund verortet sie die Bedeutung des Inklusionsparadigmas in der heutigen reformierten Psychiatrie. Im Mittelpunkt steht dabei „Ex-In“, ein reformpsychiatrisches Projekt, das beispielhaft die These bestätigt, dass die traditionellen wesentlichen Grundsätze der psychiatrischen Ordnung bislang durch erfolgte strukturelle Veränderungen und kritische Debatten, kaum verändert wurden. Der Inklusionsdiskurs, so die Diagnose, hat für psychiatrische Patient*innen bislang kaum zu Statusverbesserungen geführt, im Gegenteil müssen menschenrechtsverletzende Praxen wie Zwangsbehandlungen, Zwangsmedikationen oder Freiheitsentzug immer noch zu deren erlebten Alltagserfahrungen gezählt werden. Demgegenüber bilden sozialpsychiatrische Projekte und Konzepte ein deutliches Gegengewicht. Besondere Würdigung findet hierbei der Begriff des Expertentums aus Erfahrung, der auf die Antipsychiatriebewegung zurückgeführt werden kann und mittlerweile in Konzepte sozialpsychiatrischer Versorgung Eingang gefunden hat.

    Mai-Anh Boger befasst sich unter Bezugnahme auf den Begriff der Depathologisierung mit dem Problem der Diagnostik emotionaler und sozialer Entwicklung in Handlungskontexten, die einen inklusiven Anspruch für sich erheben. Damit misst sie die Praxis im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung an einem Maßstab, der konsequenterweise über das Bemühen um Dekategorisierungen hinaus gehen muss und auf die Überwindung pathologisierenden Denkens gerichtet sein sollte. Während im Zuge der Rezeption der Disability Studies Konzepte sozialer oder kultureller Modelle von Behinderung begonnen haben, sonderpädagogisches Selbstverständnis einer kritischen Reflexion gegenüber zu öffnen, lassen sich solche Tendenzen in Diskursen um seelische Behinderungen und psychische Störungen bislang kaum beobachten. Der vorliegende Artikel skizziert, was eine notwendige und überfällige  kritische Betrachtung diagnostischer Systeme für den Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung konkret bedeuten würde. Dabei fragt Mai-Anh Boger, welche Konsequenzen eine Pathologisierungskritik für diagnostische Prozesse hat und was dies für die Ausbildung diagnostischer Kompetenz gerade auch in schulischen Kontexten bedeuten könnte.

    Ausgehend von einem erweiterten Inklusionsbegriff und dem Forderungsprogramm der antipsychiatrischen Bewegung gewinnt Maryam Laura Moazedi Maßstäbe für eine Dekonstruktion enthozentrischer Normalismen, die Grundlage und Voraussetzungen für eine als notwendig erachtete Entpathologisierung sind. Dabei wird der Diskurs der antipsychiatrischen Bewegung der 1960er Jahre auf aktuelle Inklusionsdebatten bezogen, was spannende gedankliche Anknüpfungspunkte zu Tage treten lässt. Die Autorin sieht dabei die Chance, „ethnozentrisch konstruierte Normen in der Psychiatrie und ihren Nachbardisziplinen Psychologie und Psychotherapie ins Bewusstsein zu rücken“. Beispielhaft aufgezeigt wird die Logik und Dynamik impliziter ethnozentrischer Konzepte in der Stichprobenzusammensetzung von Studien zu Somatisierung und Schizophrenie sowie in den Praxen der Gesprächsführung in den entsprechenden Handlungskontexten. Die Forderungen der Antipsychiatrie können dabei Kriterien liefern, tradierte binäre Norm- und Abweichungsvorstellungen zu hinterfragen.    

    Sophie C. Holtmann, Pierre-C. Link und Marie-Luise Fischer nehmen in der Rubrik Kontrovers gegenüber den übrigen Beiträgen in dieser Ausgabe eine Gegenposition ein und wenden sich gegen Dekategorisierungsbemühungen im Inklusionsdiskurs. Psychiatrien werden als notwendige temporäre Übergangsorte für besonders vulnerable Menschen angesehen, wobei ihr Status unter inklusionsorientierten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen variiert. Der Beitrag spricht sich ausdrücklich für den Erhalt von Termini wie psychische Krankheit, Verhaltensstörung oder Verhaltensauffälligkeit aus. Die darauf bezogene Diagnostik gründet, so die These, auf einem Verständnis der Menschenwürde als traditionelles Wertfundament der Psychiatrie. Es bedarf einer philosophisch und ethisch reflektierten Forschung, die der Psychiatrie in ihrer Funktion und hinsichtlich ihrer Potenziale in Bezug auf soziale und gesellschaftliche Teilhabe gerecht wird.

    Als weitere Themenschwerpunkte der folgenden Ausgaben sind geplant:

    4/2018 Inklusionsforschung im Spiegel akademischer Qualifizierungsarbeiten

    Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre.

    Carmen Dorrance und Clemens Dannenbeck
    für die Redaktion von Inklusion-Online

  • 2-2018

    Sehr geehrte Leserinnen und Leser,

    anbei präsentieren wir ihnen, wie angekündigt, den zweiten Teil unserer Zusammenstellung von frei eingereichten Beiträgen, die wir zunächst zu keinem der vorab geplanten Schwerpunktausgaben zuordnen konnten. Wie sich herausstellte, konnten die Beiträge jedoch unter dem Gesichtspunkt Schule und Unterricht auf der einen Seite und eher grundsatzfragenbezogenen Themenstellungen mit einem besonderen Blick auf die Handlungsfelder Wohnen und Arbeit auf de anderen Seite systematisiert werden. Deshalb freuen wir uns, Ihnen hiermit zeitnah die zweite Ausgabe von Inklusion-Online in diesem Jahr präsentieren zu können.  

    Karolina Goschiniak widmet sich der Bedeutung gruppendynamischer Prozesse für eine inklusionsorientierte pädagogische Praxis. Diese psychodynamische Betrachtung von Gruppenbildungsprozessen untersucht, wie pädagogische Situationen zu inkludierenden und/oder exkludierenden Verhältnissen beitragen können. Der Beitrag zielt darauf ab, entsprechend eines unter inklusiven Vorzeichen erforderlichen Paradigmenwechsels, veränderte Ansprüche an pädagogisches Handeln angesichts innerpsychischer Prozesse im Gruppenhandeln zu erheben. Haltungen von Fachkräften spielen dabei eine wichtige Rolle hinsichtlich ihres Effekts auf die Gruppe. „Für die pädagogischen Fachkräfte ergibt sich dadurch ein erweitertes Anforderungsprofil, das nicht nur aus den institutionellen Vorgaben und Normen besteht, sondern vielmehr durch entsprechende Fähigkeiten wie Selbstreflexion, Szenisches Verstehen oder die Wahrnehmung des kindlichen Erlebens geprägt ist, um so förderliche inklusive Maßnahmen abzuleiten. Durch die Berücksichtigung des Erlebens der Kinder, also einem Perspektivenwechsel, ist es oftmals erst möglich herauszufinden, ob eine Situation als ausgrenzend erlebt wird“.

    Nora Gaupp, Sandra Ebner, Sandra Schütz und Folke Brodersen nehmen den Stand der quantitativen Jugendforschung in den Blick, insoweit er sich mit Fragen der Inklusion und Jugendlichen mit Behinderung befasst. Dabei wird zunächst deutlich, dass in der traditionellen quantitativ orientierten Jugendforschung Jugendliche mit Behinderungen oder solchen in anderen besonderen Lebenslagen oftmals wenig Beachtung gefunden haben. Die Autor*innen überprüfen ihre These, dass die Jugendforschung von einer inklusiven Perspektive (noch) weit entfernt ist, durch eine Rekonstruktion des Stellenwerts und der Bedeutung, die Jugendliche mit Behinderung in zentralen Jugendstudien zukommt. Was müsste sich ändern, wenn die quantitative Jugendforschung dem Anspruch inklusiv(er) zu werden, entsprechen möchte? Der letzte Abschnitt des Textes diskutiert, welche Fortschritte, aber auch welche Grenzen und Widersprüchlichkeiten bei einer stärkeren inklusiven Ausrichtung der Jugendforschung zu erwarten sind.   

    Karin E. Sauer befasst sich mit Disability Studies im Handlungsfeld von Behinderung und Sexualität. Aus der Perspektive der Disability Studies werden Menschen mit ‚Behinderung‘ nicht mehr als Objekte, sondern als handlungsfähige Subjekte wahrzunehmen. Im Bereich der Sexualität trägt eine diversitätsbewusste Haltung dazu bei, die Differenzlinien Sexualität und Behinderung aus einer menschenrechtlichen Perspektive zu reflektieren. Der Autorin geht es darum, zu beschreiben, wie eine machtkritische Sensibilisierung zur Wahrnehmung von Bedürfnissen und Grenzen führen kann, auf deren Grundlage Präventionsmöglichkeiten von (sexueller) Gewalt bei Menschen mit Behinderungen abgeleitet werden können.  

    Hendrik Trescher arbeitet in seinem Beitrag heraus, inwiefern Versorgungsstrukturen des Behindertenhilfesystems in Deutschland als behindernde Praxen wirksam werden. Am Beispiel des Wohnens in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe verdeutlicht er, inwiefern sich in diesem Kontext Behinderungspraxen vollziehen, Behinderung sozial konstruiert und reproduziert wird. Ausgehend von diesem Verständnis von Behinderung als sich diskursiv vollziehende Praxis, wird ein Inklusionsmodell skizziert, das diesen Behinderungspraxen gegenläufig ist. „Inklusion ist in diesem Sinne die Dekonstruktion von Diskursteilhabebarrieren, welche immer auch kritisch ist, da sie auf eine Veränderung gesamtgesellschaftlicher Strukturen und Praxen abzielt“.  

    Schließlich begründet Hauke Behrendt inklusions- und wertetheoretisch die berufliche Qualifikation von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen durch technische Assistenzsysteme am Arbeitsplatz. Der Beitrag diskutiert die Chancen und den moralische Wert entsprechender technologischer Entwicklungen im Bereich der Mensch-Maschine-Interaktion zur beruflichen Inklusion mit Blick auf Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen. Die Autorin kommt zu dem Schluss, dass der mögliche Erfolg beruflicher Inklusion „einen ethisch hinreichenden Grund darstellt, diese Systeme am Arbeitsplatz einzusetzen beziehungsweise ihren Einsatz zu befürworten“.

     

    Als weitere Themenschwerpunkte der folgenden Ausgaben sind geplant:

    3/2018 Anti-Psychiatrie und Inklusion

    4/2018 Inklusionsforschung im Spiegel akademischer  Qualifizierungsarbeiten (Studentische Ausgabe)

     

    Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre.

     

    Carmen Dorrance und Clemens Dannenbeck

    für die Redaktion von Inklusion-Online

  • 1-2018

    Sehr geehrte Leserinnen und Leser,

    immer wieder erreichen uns interessante Beiträge zu inklusionsbezogenen Fragestellungen, die thematisch nicht in die aktuell angesetzten Schwerpunktsetzungen der Ausgaben passen oder auch den begrenzten Rahmen selbst einer Online-Ausgabe sprengen. Um diesen Beiträgen dennoch gerecht werden zu können, behalten wir uns in unregelmäßigen Abständen vor, Ausgaben von Inklusion-Online ohne eigenen spezifischen übergreifenden Schwerpunkt anzusetzen. Es sind so viele hochwertige Beiträge eingegangen, dass wir ihnen die beiden ersten Ausgaben in 2018 widmen werden.

    In der Ausgabe 2018/1, die wir Ihnen hiermit gerne präsentieren, finden Sie Aufsätze, die sich im Schwerpunkt mit Schule und Unterricht befassen. In der Ausgabe 2018/2 werden Beiträge gesammelt, die sich Grundlagenfragen sowie mit den Handlungsfeldern Wohnen und Arbeit auseinandersetzen.

     

    Anne Piezunka, Cornelia Gresch und Michael Wrase betrachten zunächst die Datenlage zur Umsetzung der UN-BRK in Deutschland im Bereich schulischer Inklusion und unterziehen sie einem kritischen Blick. Auch die Vielzahl empirischer Studien, die sich mit pädagogischen und schulorganisatorischen Fragen auseinandersetzen, ist jedoch auf bestimmte Regionen beschränkt, was bundesländerübergreifende Aussagen verunmöglicht. Zudem werden in der Regel nur Teilaspekte von Inklusion untersucht. Mit diesem Beitrag soll infolgedessen eine Brücke zwischen den in der UN-BRK formulierten Anforderungen und der empirischen Bildungsforschung geschlagen werden. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie sich die Umsetzung von Art. 24 BRK durch quantitative und qualitative Erhebungen überprüfen lassen könnte.

    Christopher Mihajlovic setzt sich mit der Rolle des sonderpädagogischen Fördersystems in Finnland auseinander. Gemeinhin gilt Finnland angesichts der internationalen PISA-Studien als Vorbild für ein institutionelles Inklusionsbemühen im Bildungsbereich. Dabei gilt es genau hinzusehen und aktuelle Veränderungen und Entwicklungen auf bildungspolitischer Ebene in Finnland zu berücksichtigen. Mit der Beschreibung der aktuellen Reformen im sonderpädagogischen Fördersystem in Finnland ist die Absicht verbunden, Anknüpfungspunkte für die Inklusionsdebatte im deutschsprachigen Raum zu finden. Den Hintergrund der Argumentation bilden teilnehmende Beobachtungen des finnischen Unterrichtsalltags durch den Autor, der dabei eine spezifische Förderkultur in Finnland unter die Lupe nehmen konnte.

    Ebenfallsüber den nationalen Tellerrand hinaus schaut Hans Karl Peterlini. Am Beispiel von Südtiroler Schulen reflektiert er über die gelebte Inklusionspraxis im italienischen Schulsystem. Ausgangspunkt der Untersuchung auf Basis von Unterrichtsbeobachtungen ist die 40jährige Erfahrung mit praktizierter Integration in einer Einheitsschule, wie sie in Italien existiert. Gleichwohl ist es wichtig, hier eine (selbst)kritische Bestandsaufnahme zu wagen und nach zukünftigen Potenzialen und Verbesserungen inklusiver Praxisstrategien zu suchen. Die Unterrichtsvignetten fangen exemplarisch Momente von Ein- und Ausschluss im Unterrichtsgeschehen ein und bieten die Möglichkeit der inklusionsorientierten Reflexion. „Phänomenologische Wahrnehmung wird als eine Forschungsperspektive vorgestellt, die anstelle normativer Setzungen die Normalität konkreter Lebenswirklichkeit als Ausgangspunkt nimmt und durch diese Anerkennung des Gegebenen zu Normalisierungsvollzügen beiträgt“.

    Carsten Bender und Birgit Drolshagen betrachten inklusionsorientierte Entwicklungen in der Neuausrichtung der Lehramtsausbildung im Rahmen des Forschungsprojektes DoProfiL an der TU Dortmund. Es geht ihnen dabei sowohl darum, spezifische Studien- und Lernsituationen von Studierenden mit Behinderung nicht zu übersehen, als auch darum, Inklusion nicht nur als optimierte Integration von Behinderung zu begreifen. Für eine zukunftsorientierte Lehramtsausbildung bedarf es nicht zuletzt sowohl einer inklusionsorientierten Hochschullehre als auch einer diversitätssensiblen Hochschulentwicklung insgesamt.

    Michaela Sindermann bezieht die Diskurse der soziologischen Ungleichheitsforschung (Bildungsungleichheit) und der Soziologie sozialer Probleme (Bildungsgerechtigkeit) auf den Kontext der Kunstpädagogik, um ein gemeinsames Begriffsverständnis inklusiver Pädagogik zu entwickeln. Auch die Kunstpädagogik blickt auf eine lange Tradition separierender Förderung einerseits (Bildungsungleichheit) und eine ungerechten Verteilung künstlerischer und ästhetischer Bildung andererseits (Bildungsgerechtigkeit) zurück. Als Orientierungsrahmen für eine inklusive Kunstpädagogik schlägt die Autorin ein Modell der Teilhabegerechtigkeit vor. Eine inklusionsorientierte und bildungsgerechte Kunstpädagogik bedarf einer Theorieperspektive, die auf die auf Ressourcenentfaltung der Lernenden zielt.

    Monika Musilek, Gordan Varelija und Monika Miller stellen ihr Entwicklungsprojekt HdMa (Haus der Mathematik) on tour zum entdeckenden Lernen mathematischer Problemstellungen mit hands-on exhibits vor, das sich an differenzierten Lernzugängen orientierte. Diese Lernzugänge sollten eine niedrigschwellige und dennoch entdeckende Herangehensweise für Kinder mit unterschiedlichen Lernvoraussetzungen ermöglichen und somit die Individuallage der Kinder berücksichtigen. Der Beitrag präsentiert die methodische Anlage und Weiterentwicklung der HdMa on tour und lässt die didaktische Systematik nachvollziehbar werden.

    Laura Rödel und Toni Simon thematisieren in ihrem Beitrag das Verhältnis von Sprachbildung und inklusionsorientierter (Schul-)Pädagogik. Die Autor*innen zeichnen Argumentationslinien in der aktuellen Forschungsliteratur aus dem Bereich der Sprachbildung nach, mit denen begründet wird, warum Sprachbildung als immanenter Teil von Inklusion verstanden werden kann bzw. sollte. Weiterhin wird ansatzweise der Frage nach dem möglichen Charakter einer inklusionsorientierten Sprachbildung nachgegangen. In Bezug auf deren Konstitution werden offene Fragen und Forschungsperspektiven formuliert.

    Als weitere Themenschwerpunkte der folgenden Ausgaben sind geplant:

    2/2018 Grundlagenfragen und Handlungsfelder Wohnen und Arbeit
    3/2018 Anti-Psychiatrie und Inklusion
    4/2018 Inklusionsforschung im Spiegel akademischer Qualifizierungsarbeiten

    Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre.

    Carmen Dorrance und Clemens Dannenbeck
    für die Redaktion von Inklusion-Online

     

  • 4-2017 Raum und Inklusion

    Sehr geehrte Leserinnen und Leser,

    wir freuen uns, Ihnen die vierte Ausgabe von Inklusion-Online in 2017 an die Hand geben zu können.

    Inwiefern ist Inklusion als theoretisches Konzept und/oder normative Handlungsorientierung aus raumtheoretischer und raumsoziologischer Sicht bedenkenswert? Und welche Auffassung von Raum und Räumlichkeit legt ein Inklusionsverständnis nahe, das sich der Anwendung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung (UN-BRK) verschreibt?

    Das Schwerpunktthema der vorliegenden Ausgabe geht zurück auf die „Freiburger Methodengespräche“ an der Pädagogischen Hochschule Freiburg, die sich im April 2017 mit „Raum und Räumlichkeit im Kontext von Heterogenität und Inklusion“ auseinandergesetzt haben. Andreas Köpfer und Georg Rißler, die auch beide in dieser Ausgabe mit eigenen Beiträgen vertreten sind, widmeten den Freiburger Fachtag den Raumbegriffen, in denen sich Inklusions- und Exklusionsordnungen häufig ausdrücken, und nach deren theoretischen wie methodischen Implikationen für inklusionsorientierte Erziehungswissenschaften. Dabei ist festzustellen, dass die Verflechtungen von Raum, Heterogenität und Inklusion in wissenschaftlicher Hinsicht bislang bestenfalls randständige Beachtung gefunden haben. Die Reden vom „Spatial Turn“ und von „Inklusion“ haben jeweils für sich Konjunktur, ohne jedoch bisher differenziert und systematisch aufeinander bezogen worden zu sein. In Anknüpfung an diese Fragen und den genannten Fachtag vereint die vorliegende Ausgabe Beiträge, die erste theoretische Klärungen, empirisch grundierte Interpretationen und diskutierbare Positionen vornehmen möchten.

    Jürgen Budde und Georg Rißler beobachten, dass schulische Transformationsprozesse im Zeichen inklusiver Bemühungen mit einer nicht zuletzt räumlichen Pluralisierung von Unterricht einhergehen. Über das althergebrachte Klassenzimmer hinaus findet inklusionsorientierter Unterricht häufig an unterschiedlichen Orten in unterschiedlichen Formen statt. Die veränderte Bedeutung des Klassenraums für eine inklusionsorientierte Unterrichtsforschung erfordert die Unterscheidung von Raum und Räumlichkeit. Die Tendenzen der räumlichen Differenzierung und Pluralisierung von Unterricht in ‚größere‘ Konstellationen münden hierbei keineswegs notwendigerweise in einem ‚inklusiven gemeinsamen Unterricht’ für alle. Vielmehr setzen sie neue Differenzierungspraktiken in Gang. Der Beitrag stellt sich die Frage nach der unterrichtstheoretischen Bedeutung im Zusammenhang mit Inklusion/Exklusion.

    Andreas Köpfer sucht nach theoretischen Anknüpfungspunkten und Anschlussfähigkeiten der Diskurse um Inklusion, Behinderung und Raum und illustriert seinen Ansatz an einem empirischen Beispiel. Raumproduktion und Raumaneignung vollziehen sich unter inklusionsorientierten Vorzeichen etwa über professionelle Kooperationsprozesse. Aktuelle Schulentwicklungsprozesse mit einem inklusionsorientierten Anspruch verlangen dabei nach einer relationalen Auffassung von Behinderung. Auf Basis dieser Annahme werden mittels raumanalytischer Bezüge zu Raumproduktion und Raumaneignung beispielhaft kooperative Praktiken von Sonderpädagog*innen und Regelpädagog*innen in inklusionsorientierten Schulen in Baden-Württemberg analysiert.

    Hendrik Trescher und Teresa Hauck setzen ebenfalls an einem relationalen Raumverständnis an. Raum wird demnach in Aneignungspraxen durch Subjekte hervorgebracht, während diese ihrerseits in einem Verhältnis wechselseitiger Gleichzeitigkeit als ‚Aneignungssubjekte‘ subjektiviert werden. Menschen, die als ‚behindert‘ bezeichnet werden, haben häufig nur eingeschränkte Möglichkeiten zur Raumaneignung bzw. können sich Raum mitunter nur als ‚Territorium der Anderen‘ aneignen. Eine solche Aneignung erfolgt dann zumeist buchstäblich über Sonderwege. Im Beitrag wird sowohl theoretisch als auch anhand der Betrachtung von Fallbeispielen dargelegt, inwiefern eingeschränkte Aneignungsmöglichkeiten von Raum als Behinderungspraxen wirksam werden. Schlussendlich wird diskutiert, wie Raum und Inklusion relational zusammenhängen bzw. was für ein Verständnis von Inklusion notwendig ist, um Inklusion in Theorie und Praxis relational zu denken. Raumsoziologische Theorien können einen Beitrag leisten zur (Be)Deutung von Behinderung und deren Verschiebung. Raum ist dabei nicht vordergründig auf die Dimension seiner materiellen Ausdehnung zu reduzieren, sondern erweist sich als sozial, historisch und hierarchisch dimensioniertes Terrain, auf dem Bedeutungen machtvoll ausgehandelt werden.

    Anke Langner und Karin Mannewitz bestimmen mithilfe der Bezugstheorien von Pierre Bourdieu und Michel Foucault, Raum als Ergebnis von sozialen Aushandlungsprozessen, die von Machtverhältnissen durchzogen sind. Der Beitrag vertieft damit den Ansatz einer relationalen Interpretation von Räumlichkeit und widerspricht dem reduktionistischen Konzept des Raums als Container. Raum wird als soziales Konstrukt, welches durch Wissensordnungen und die Interaktionen von Menschen geprägt ist, entworfen. Vor diesem Hintergrund erscheint es den Autorinnen notwendig, bei der Herstellung von Raum stärker die subjektive Perspektive auf den Raum und deren Verstrickung mit den jeweils herrschenden Machtverhältnissen zu fokussieren.

    Die macht- und herrschaftskritische Perspektive setzt Tobias Buchner in seinem Beitrag auf Basis empirischer Materialien fort. Er entfaltet zunächst einen heuristischen Rahmen, der sich aus macht- und fähigkeitskritischen sowie raumtheoretischen Überlegungen zu Schule zusammensetzt. Diese Perspektive wird anschließend auf ein Forschungsprojekt an drei Schulen in Wien bezogen. Dabei wird anhand einer ethnographischen Collage nachgezeichnet, wie Schüler*innen die Subjektposition ‚Integrationskind’ konstruieren und auf welche pädagogischen Praktiken sie referieren. Verräumlichte Praktiken spielen hierbei über ableistische Grenzziehungen eine bedeutsame Rolle. Die Raumordnung des Unterrichts wird mit der des Pausenhofs verglichen, um zu analysieren, inwiefern sich die erwähnten Praktiken produktiv auf die Sozialität von Peers auswirken.

    Tobias Buchner vertieft anschließend die empirische Ausrichtung in einem weiteren Beitrag, in dem er das Zusammenspiel von Männlichkeit und Fähigkeit an einer Neuen Mittelschule in Wien untersucht. Dazu wird der Blick auf einen Schüler gerichtet, der durch spezifische Praktiken von Männlichkeit die marginalisierenden Effekte der inferioren Subjektposition ‚Integrationskind’ vermeiden und stattdessen sich einen Platz an der Spitze des sozialen Gefüges seiner Klasse erarbeiten kann. Dabei werden die Verhandlungen von Fähigkeit und Männlichkeit aus einer theoretischen Perspektive heraus betrachtet, die sich aus fähigkeitskritischen Konzepten aus den Disability Studies, dem Modell hegemonialer Männlichkeit sowie raumsoziologischen Überlegungen zusammensetzt.

    Martin Nugel bezieht sich bei seiner Betrachtung der dialektischen Verschränkung von Diskursen um Inklusion und Raum auf Jürgen Habermas. Das als konstitutiv für das Inklusionsparadigma postulierte Theorem der „Einbeziehung des Anderen“ wird als Herausforderung für die räumliche Organisation und Strukturierung von Bildungslandschaften beschrieben. Der Beitrag möchte den Blick für die „utopischen Überschüsse“ der Produktion und Aneignung inklusionsorientierter und heterogenitätssensibler Bildungsräume schärfen.

    Christian Timo Zenke arbeitet in seinem Beitrag die Aspekte der Flexibilität und Durchlässigkeit pädagogischer Räume als raumbezogene Rahmenbedingungen inklusiver Didaktik am Beispiel der Laborschule Bielefeld heraus. Diskutiert werden zunächst ausgewählte Schulraummodelle wie „Klassenraum plus“, „Cluster“ und „Offene Lernlandschaft“. Im Anschluss daran wird am Beispiel der Laborschule Bielefeld die konkrete Nutzung eines explizit als Lernlandschaft konzipierten Schulgebäudes untersucht. Inwieweit tragen die Räumlichkeiten sowohl zur Verwirklichung eines adaptiven und binnendifferenzierten Unterrichts bei als auch zur Umsetzung des betreffenden Unterrichts im Co-Teaching sowie zur Herstellung von Gemeinsamkeit sämtlicher Schülerinnen und Schüler im alltäglichen Schulleben?

    Silke Schreiber-Barsch rückt in ihrem Beitrag institutionalisierte Einrichtungen der Erwachsenenbildung unter den Aspekten von Planung und Organisation von Lehren und Lernen in den Mittelpunkt. Im Zentrum steht die Frage, wie die Räumlichkeit des Handelns von professionell Tätigen an institutionalisierten Lernorten auf das Ziel einer Gestaltung von inklusionsorientierten Settings wirkt. Die Ergebnisse einer explorativ-qualitativen Erhebung mit professionell Tätigen an Lernorten Erwachsener zeigen anschließend an eine relationale Raumtheorie die Varianz der erwachsenenpädagogischen Umsetzung dieser Agenda auf das Territorium eines Lernortes auf.

    Benjamin Wagener und Monika Wagner-Willi hinterfragen abschließend die Ansätze zur Umsetzung von Bildungsreformen in Schule und Unterricht, die auf Inklusion zielen. Sie schlagen vor, die Programmatik von der Praxis der Inklusion zu unterscheiden und das soziale Handeln in seinem performativen Vollzug selbst zu rekonstruieren. Vor dem Hintergrund raumtheoretischer Überlegungen kommt hierbei raum-bezogenen Praxen besondere Bedeutung zu. Der Beitrag geht dem Aspekt des Performativen im Rahmen der Methodologie einer praxeologischen Wissenssoziologie nach. Auf der Basis von kontrastierenden Unterrichtsvideografien zu Leistungslogiken in unterschiedlichen Schulformen wird dargelegt, wie mit der Zuschreibung von Leistungsdifferenzen eine differente Zuweisung und Nutzung von „Territorien“ im Goffmanschen Sinne einhergehen. Die eingespielten performativ-räumlichen Praxen sind mit Prozessen der Marginalisierung und der Privilegierung von Schülerinnen und Schülern verbunden und lassen zudem Machtstrukturen erkennen, die sich der Aushandlung entziehen.

    Eine anregende Lektüre wünschen Ihnen

    Carmen Dorrance und Clemens Dannenbeck

    für die Redaktion von Inklusion-Online

     

    Für 2018 sind bisher folgende Ausgaben geplant

    (Arbeitstitel, Änderungen vorbehalten):

    1/2018 Auswahl frei eingereichter Beiträge

    2/2018 Anti-Psychiatrie und Inklusion

    3/2018 Inklusionsforschung im Spiegel akademischer Qualifizierungsarbeiten

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