3-2019

Sehr geehrte Leserinnen und Leser,

wir freuen uns, Ihnen mit dieser dritten Ausgabe von Inklusion-Online im Jahr 2019 wieder ein breites Spektrum frei eingereichter Beiträge vorstellen zu dürfen, die ein Licht auf aktuelle Forschungsaktivitäten und unterschiedliche Themenfelder werfen, die gegenwärtig mit inklusiven Entwicklungen und Bemühungen verbunden werden. Inklusionsorientierte Entwicklung als gesamtgesellschaftliche Gestaltungsaufgabe zu verstehen, ruft die Kommunen auf den Plan. Der Beitrag von Lena Bertelmann erinnert daran, dass die Etablierung einer inklusionsorientierten Praxis als Konsequenz aus dem gesetzlichen Rahmen, den die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung (UN-BRK) darstellt, noch keineswegs überall als Gestaltungsaufgabe erkannt ist. Vor allem auf kommunaler Ebene spiegelt sich dies in dem Maße, in dem die verantwortlich handelnden Akteure hier engagiert sind und sich die Gestaltung eines inklusionsorientierten Gemeinwesens als ihre Aufgabe zu eigen machen. Der vorliegende Beitrag arbeitet die Bedeutsamkeit der Gemeinde und des Ortsbezirks hinsichtlich der Frage nach den Teilhabemöglichkeiten für Menschen mit Behinderung heraus und verdeutlicht die Rolle der Gemeinde und der Ortsbeiräte bei der Planung von Teilhabeprozessen. Grundlage der Argumentation bilden Befunde von Erhebungen auf kommunaler Ebene in kreisangehörigen Städten und Gemeinden sowie ihren Ortsbezirken. Inklusion als Querschnittsthema in den Verwaltungen ist vielerorts erst noch zu etablieren, was breit angelegte Sensibilisierung und Bewusstseinsbildung erfordert. Es fehlt häufig sowohl an Kenntnissen über die Bedarfslagen von Menschen mit Behinderung als auch an Artikulations- und Partizipationsoptionen für gesellschaftliche Teilgruppen.

Matthias Kempf und Albrecht Rohrmann hinterfragen, inwiefern und inwieweit Ansätze integrierter Sozialplanung sich dem Anliegen der Inklusion verpflichtet fühlen. Insofern steht auch in diesem Beitrag die kommunale Ebene im Fokus der Betrachtung, wenn es darum geht, einen Blick darauf zu werfen, auf welche Bedingungen die Anwendung der UN-BRK in Deutschland trifft. Konkret wird betrachtet, wie Inklusion als Bestandteil des Planungsansatzes zur Entwicklung einer an Vielfalt und Beteiligung ausgerichteten Sozialplanung aufgegriffen wird und unter welchen fachlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen dies geschieht. Dabei warnen die Autoren einerseits von einem eher pflichtgemäß demonstrativen Aufgreifen der Thematik im Rahmen bestehender Vorstellungen seitens der Sozialplanung durch Kommunen, andererseits bergen restriktive Vorgaben die Gefahr eines überstürzten und fehlerhaften Aktivismus, der die örtlichen Spezifika tendenziell unberücksichtigt lassen könnte.
Anschließend verfolgen Ines Boban und Andreas Hinz weiter ihr Programm, die theoretischen und praktischen Schnittstellen zwischen Inklusionspädagogik und Ansätzen Demokratischer Bildung zu untersuchen und deren Bezüge fruchtbar werden zu lassen für ein inklusionsorientiert verändertes pädagogisches Handeln, das dem menschenrechtlichen Begründungszusammenhang der UN-BRK gerecht zu werden vermag. Diese Perspektive ist nicht zuletzt von dem Befund geleitet, dass der Inklusions-Diskurs immer unverkennbare Züge einer – theoretischen wie praktischen und vor allem auch politischen – Verflachung an sich trägt, der nach einer kritischen Wendung verlangt und wohl auch neuer theoretischer Impulse bedarf. In diesem Zusammenhang ermutigt der vorliegende Beitrag dazu, die Kritische Pädagogik Paulo Freires aufzugreifen und darauf aufbauende Weiterentwicklungen der Critical Literacy und Critical Mathemacy zu rezipieren. Beispielhaft wird gezeigt, welche Potenziale ‚Kritisches Lernen‘ im Kontext eines inklusionstheoretisch ausgerichteten und den demokratischen Prinzipien verpflichteten Unterrichts entfalten könnte.

Folke Brodersen und Kien Tran analysieren Freundschaftsbeziehungen zwischen Jugendlichen mit Behinderung auf der empirischen Basis egozentrierter Netzwerkanalysen. Damit betreten sie ein weithin unbearbeitetes Forschungsgebiet der Jugendforschung, die trotz repräsentativer Aussagen immer noch größtenteils Jugendliche mit Behinderung systematisch übersieht und infolgedessen bislang in hohem Maße einen Nachholbedarf an Diversitätsorientierung aufweist. So weiß man relativ wenig über Sozialbeziehungen von Jugendlichen mit Behinderung, was nicht zuletzt auch mit methodischen und methodologischen Problemen der Datenerhebung und gewählten Zugänge zusammenhängt. Der Beitrag prüft, welche Entwicklungs- und Anwendungspotenziale in egozentrierten Netzwerkanalysen für die beschriebene defizitäre Situation liegen und diskutiert, welche Erkenntnisgewinne durch ihre Anwendung zu erwarten wären.

Jürgen Budde, Nina Blasse, Georg Rißler und Victoria Wesemann gehen der Frage nach, welche Wirkungen von praktizierter ‚Inklusion‘ im Unterricht auf das Handeln und die Zusammenarbeit zwischen den unterschiedlichen am Geschehen beteiligten Professionellen ausgeht. Anforderungen an fachliche Kooperation muss dabei nicht auf einer geteilten Interpretation von Inklusionsorientierung beruhen, sondern kann sich in der wechselseitigen Delegation von Verantwortung für Schüler*innen mit und ohne Behinderung erschöpfen. Die Autor*innen erkennen in dieser doppelten Delegation einen eklatanten Widerspruch zu „normativen Semantiken einer ‚Kooperation auf Augenhöhe‘, eines ‚Unterrichts für alle‘ oder auch zur Annahme, dass Inklusion ‚eine Frage der Haltung“ sei. Vielmehr liegt in diesem Professionalisierungsdilemma ein Grund für die qualitativ unzureichende integrative Praxis, die weder als Einlösung des inklusiven Anspruchs gelten kann, noch wirklich volle Teilhabe für alle bedeutet. Der Beitrag illustriert auf Basis ethnografischer Unterrichtsbeobachtungen an Gemeinschaftsschulen in Schleswig-Holstein exkludierende und differenzverstärkende Praxen. Dem wirksam zu begegnen, so das Plädoyer, setzt ein Problembewusstsein voraus, das Inklusion als gesamtgesellschaftliche Herausforderung begreift, die über eine professionelle Selbstreflexion schulischer Praxis hinausgreift.

Ausgehend von der Frage, wie Kognitionen von Lehrkräften handlungsbestimmend für die Unterrichtspraxis sind und welche Folgen dieser Zusammenhang für den Bildungserfolg spezifischer Schüler*innengruppen hat, untersucht der Beitrag von Toni Simon empirisch inwiefern sich bei angehenden Lehrkräften eine Fokussierung auf bestimmte Heterogenitätsdimensionen feststellen lässt, inwiefern die heterogenitätsbezogenen Einstellungen sich als belastungs- und normbezogen negativ oder differenzbezogen positiv beschreiben lassen und inwiefern ausgewählte Variablen diese Einstellungen zu beeinflussen vermögen. Empirische Grundlage bildet ein Teilsample der INSL-Studie (Inklusion aus Sicht angehender Sachunterrichts-Lehrkräfte). „Die Ergebnisse deuten auf ambivalente Einstellungen im Spannungsfeld von Differenzanerkennung und normierendem Homogenisierungsdenken hin, die dem Anspruch einer inklusionsorientierten individuellen Förderung im Unterricht entgegenstehen können.“ Sabine Weiß, Adina Küchler, Magdalena Muckenthaler, Ulrich Heimlich und Ewald Kiel fragen nach der tatsächlichen Belastung von Lehrkräften in inklusionsorientierten Schulen in Bayern vor dem Hintergrund der häufig kolportierten Unterstellung, individuelle Förderung und Konfrontation mit komplexer Vielfalt würde zu einer systematischen Überforderung führen. Der Beitrag wendet sich insgesamt 49 Schulen in Bayern zu, die im Besitz des ‚Schulprofils Inklusion‘ sind, also ausgewiesenermaßen sich den Herausforderungen einer inklusionsorientierten Qualitäts- und Organisationsentwicklung stellen. Die 485 in die Untersuchung einbezogenen Lehrkräfte sind damit mit ihren Erfahrungen in bildungspolitisch als ‚inklusiv‘ definierten Settings positioniert. Im Kontext des inklusionsorientierten Agierens werden Anforderungen wie eine adaptive Unterrichtsgestaltung, multiprofessionelle Kooperation oder auch konzeptionelle Anforderungen dabei nicht als besondere Belastungsfaktoren genannt. Maßnahmen, die davon ausgehen, dass inklusive Settings primär als belastend zu interpretieren wären, erscheinen damit wenig angebracht, vielmehr führt kein Weg daran vorbei, unterstützende Maßnahmen möglichst kontextspezifisch und individuell an der Situation des konkreten Einzelfalls auszurichten. Sarah Maaß berichtet aus einem DFG-Forschungsprojekt an der Universität Duisburg-Essen, das die deutschsprachige Literaturpreislandschaft quantitativ und qualitativ untersucht. Der vorliegende Beitrag thematisiert dabei die kleine Gruppe von sechs Literaturpreisen in Deutschland und Österreich, die einen Inklusionsbezug aufweisen. Diese befassen sich mit Literatur von oder auch für Menschen mit so genannter geistiger Behinderung. Damit signalisieren diese Preise einen Zusammenhang zwischen literarischer Praxis und der kultur- und bildungspolitischen Verpflichtung zu einem spezifischen Wertekanon, der sich an Vielfalt, Partizipation und ‚Inklusion‘ orientiert. Das Profil der genannten Preise sowie die Praxis der Preisvergabe werden diskursanalytisch sowie literatur- und kulturwissenschaftlich fundiert analysiert. „Besondere Aufmerksamkeit wird dabei auf die Art und Weise gelegt werden, wie sich ‚Identifikationsregime‘ (Jacques Rancière) und Wertordnungen von Behinderung und Literatur (etwa Konzepte literarischen Schreibens, literarischen Werts und Autorschaft) verzahnen und wie das Potential zur Störung symbolischer und sozialer Ordnungen, das der Inklusion als Haltung eignet, ‚reterritorialisiert‘ (Gilles Deleuze) wird“.

Bettina Streese und Jacquelin Kluge zeichnen die Situation der Förderschulen in Niedersachsen nach und thematisieren den Veränderungsdruck, dem sie sich ausgesetzt sehen, aber auch das Beharrungsvermögen, das infolge der bildungspolitischen Rahmenbedingungen in struktureller und institutioneller Hinsicht fortbesteht. Die einerseits durch die Vorgabe des Geltungsanspruchs der UN-BRK, andererseits durch bildungspolitische Entscheidungen, strategisch an den existierenden Parallelsystemen festzuhalten, entstehenden Spannungsfelder bestimmen die Perspektiven für die Zukunft der Förderschulen. Die Autorinnen vermissen für Niedersachsen ein Gesamtkonzept zur Realisierung eines inklusionsorientierten Bildungssystems, das den Anforderungen und dem Anspruch der UN-BRK gerecht wird. Eine politische Steuerung, die zwar rhetorisch die Parallelstrukturen hinterfrage, sie jedoch praktisch bislang nicht systematisch in eine inklusionsorientierte Gesamtentwicklung einbezogen hat, sondern im Gegenteil in vorhandene exkludierende Strukturen weiter investiert, wird ihr Ziel verfehlen.

Als Themenschwerpunkt der folgenden Ausgabe ist geplant:
4/2019 Befunde des Forschungs- und Praxisverbunds Inklusion an Hochschulen und barrierefreies Bayern

Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre.

Carmen Dorrance und Clemens Dannenbeck
für die Redaktion von Inklusion-Online

Veröffentlicht: 19.09.2019

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