3-2018

Sehr geehrte Leserinnen und Leser,
die nunmehr vorliegende dritte Ausgabe von Inklusion-Online in 2018 befasst sich schwerpunktmäßig mit dem Zusammenhang zwischen der Tradition des institutionalisierungskritischen Diskurses der Antipsychiatrie auf der einen und Inklusion als gesamtgesellschaftliche Herausforderung für ein menschenrechtskonformes Zusammenleben und soziale Kohäsion auf der anderen Seite.

Oliver Koenig stellt gleich zu Beginn die grundlegende These in den Raum, dass menschliche Entwicklung nur in Freiheit möglich ist. Am Beispiel der alltagsbezogenen Betreuungs- und Begleitungspraxis von und mit Menschen mit psychischen Erkrankungen eines Vereins in Österreich verdeutlicht er die Erfahrungen mit einer Praxis, die mit einer Beziehungsgestaltung einhergeht, welche von der Berücksichtigung von Selbstbestimmung und wechselseitigem Respekt voreinander gekennzeichnet ist. Im Wortsinne „hilfreiches“ professionelles Handeln, das konzeptionell auf das gestalttherapeutische Konzept der „Guten Form“ von Zinker zurückgreift, erhebt den Anspruch, die Beziehung zwischen Professionellen und ambulant begleiteten Erwachsenen mit psychischer Erkrankung theoretisch und erfahrungsbasiert weiterzuentwickeln. Die zugrundeliegende Studie analysiert zunächst die Forschungstradition, sowie das praktische Beziehungsverhältnis im Handlungsfeld und untersucht dann systematisch die Wirkungen und Faktoren, die die Beziehungsgestaltung zwischen professionellem Handeln und begleiteten Menschen mit psychischer Erkrankung prägen. Mit Blick auf die Inklusionspädagogik muss festgestellt werden, dass die hier verhandelte Thematik zur Lebens- und Unterstützungssituation von Erwachsenen mit psychischer Erkrankung bislang nur eine randständige Rolle spielt.

Christiane Carri nimmt die Reformgeschichte der Psychiatrie in den Blick und fragt nach den Kontexten, in denen die beschreibbaren Prozesse jeweils eingebettet waren. Vor diesem Hintergrund verortet sie die Bedeutung des Inklusionsparadigmas in der heutigen reformierten Psychiatrie. Im Mittelpunkt steht dabei „Ex-In“, ein reformpsychiatrisches Projekt, das beispielhaft die These bestätigt, dass die traditionellen wesentlichen Grundsätze der psychiatrischen Ordnung bislang durch erfolgte strukturelle Veränderungen und kritische Debatten, kaum verändert wurden. Der Inklusionsdiskurs, so die Diagnose, hat für psychiatrische Patient*innen bislang kaum zu Statusverbesserungen geführt, im Gegenteil müssen menschenrechtsverletzende Praxen wie Zwangsbehandlungen, Zwangsmedikationen oder Freiheitsentzug immer noch zu deren erlebten Alltagserfahrungen gezählt werden. Demgegenüber bilden sozialpsychiatrische Projekte und Konzepte ein deutliches Gegengewicht. Besondere Würdigung findet hierbei der Begriff des Expertentums aus Erfahrung, der auf die Antipsychiatriebewegung zurückgeführt werden kann und mittlerweile in Konzepte sozialpsychiatrischer Versorgung Eingang gefunden hat.

Mai-Anh Boger befasst sich unter Bezugnahme auf den Begriff der Depathologisierung mit dem Problem der Diagnostik emotionaler und sozialer Entwicklung in Handlungskontexten, die einen inklusiven Anspruch für sich erheben. Damit misst sie die Praxis im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung an einem Maßstab, der konsequenterweise über das Bemühen um Dekategorisierungen hinaus gehen muss und auf die Überwindung pathologisierenden Denkens gerichtet sein sollte. Während im Zuge der Rezeption der Disability Studies Konzepte sozialer oder kultureller Modelle von Behinderung begonnen haben, sonderpädagogisches Selbstverständnis einer kritischen Reflexion gegenüber zu öffnen, lassen sich solche Tendenzen in Diskursen um seelische Behinderungen und psychische Störungen bislang kaum beobachten. Der vorliegende Artikel skizziert, was eine notwendige und überfällige  kritische Betrachtung diagnostischer Systeme für den Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung konkret bedeuten würde. Dabei fragt Mai-Anh Boger, welche Konsequenzen eine Pathologisierungskritik für diagnostische Prozesse hat und was dies für die Ausbildung diagnostischer Kompetenz gerade auch in schulischen Kontexten bedeuten könnte.

Ausgehend von einem erweiterten Inklusionsbegriff und dem Forderungsprogramm der antipsychiatrischen Bewegung gewinnt Maryam Laura Moazedi Maßstäbe für eine Dekonstruktion enthozentrischer Normalismen, die Grundlage und Voraussetzungen für eine als notwendig erachtete Entpathologisierung sind. Dabei wird der Diskurs der antipsychiatrischen Bewegung der 1960er Jahre auf aktuelle Inklusionsdebatten bezogen, was spannende gedankliche Anknüpfungspunkte zu Tage treten lässt. Die Autorin sieht dabei die Chance, „ethnozentrisch konstruierte Normen in der Psychiatrie und ihren Nachbardisziplinen Psychologie und Psychotherapie ins Bewusstsein zu rücken“. Beispielhaft aufgezeigt wird die Logik und Dynamik impliziter ethnozentrischer Konzepte in der Stichprobenzusammensetzung von Studien zu Somatisierung und Schizophrenie sowie in den Praxen der Gesprächsführung in den entsprechenden Handlungskontexten. Die Forderungen der Antipsychiatrie können dabei Kriterien liefern, tradierte binäre Norm- und Abweichungsvorstellungen zu hinterfragen.    

Sophie C. Holtmann, Pierre-C. Link und Marie-Luise Fischer nehmen in der Rubrik Kontrovers gegenüber den übrigen Beiträgen in dieser Ausgabe eine Gegenposition ein und wenden sich gegen Dekategorisierungsbemühungen im Inklusionsdiskurs. Psychiatrien werden als notwendige temporäre Übergangsorte für besonders vulnerable Menschen angesehen, wobei ihr Status unter inklusionsorientierten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen variiert. Der Beitrag spricht sich ausdrücklich für den Erhalt von Termini wie psychische Krankheit, Verhaltensstörung oder Verhaltensauffälligkeit aus. Die darauf bezogene Diagnostik gründet, so die These, auf einem Verständnis der Menschenwürde als traditionelles Wertfundament der Psychiatrie. Es bedarf einer philosophisch und ethisch reflektierten Forschung, die der Psychiatrie in ihrer Funktion und hinsichtlich ihrer Potenziale in Bezug auf soziale und gesellschaftliche Teilhabe gerecht wird.

Als weitere Themenschwerpunkte der folgenden Ausgaben sind geplant:

4/2018 Inklusionsforschung im Spiegel akademischer Qualifizierungsarbeiten

Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre.

Carmen Dorrance und Clemens Dannenbeck
für die Redaktion von Inklusion-Online

Veröffentlicht: 11.11.2018