1-2025

Liebe Leser*innen und Interessierte der Zeitschrift für Inklusion,

wir freuen uns, Ihnen hiermit die erste Ausgabe in 2025 als Doppelausgabe vorlegen zu können. Ein breites Spektrum der vorliegenden Beiträge befasst sich mit Aspekten schulischer Inklusion und Unterrichtsprozessen. Welches sind die typischen Spannungsfelder schulischer Inklusion? Timo Dexel, Katja Adl-Amini, Dieter Katzenbach und Bettina Reiss-Semmler diskutieren und systematisieren die Ergebnisse einer Literaturanalyse, die als Grundlage und Denkanstoß dienen soll für weitere theoretische und empirische Analysen. Es werden insgesamt 17 Spannungsfelder auf fünf verschiedenen Ebenen (Theoriekonstruktion, Gesellschaft, Organisation, Unterricht und Subjekt) beschrieben und anhand von Zitaten aus der Literaturrecherche konkretisiert. Abschließend werden die Erkenntnisse diskutiert und Grenzen sowie Möglichkeiten der Systematisierung typischer Spannungsfelder schulischer Inklusion aufgezeigt.

Enya Kohlwage und Martin Remmele befassen sich in einer Interviewstudie mit der schulischen Situation diabetischer Schüler*innen als häufigstes Beispiel einer chronischen Stoffwechselerkrankung in inklusionsorientierten Settings, wobei insbesondere die Beziehungsgestaltung zwischen Schüler*innen, Lehrkräften und Schulleitungen sowie die dadurch gesetzten strukturellen Rahmenbedingungen in den Blick genommen werden. Da Heranwachsende mit Diabetes zumeist Regelschulen besuchen, ergeben sich von verschiedenen Seiten und auf verschiedenen Ebenen Ansprüche, Herausforderungen und Bedürfnisse an inklusionsorientierte Verhältnisse, denen hier aus den Perspektiven der jeweiligen Zielgruppen nachgegangen wird. Basis der sich an den Anforderungen der UN-BRK orientierenden Studie sind 49 leitfadengestütze Interviews mit diabetischen Schüler*innen, Lehrkräften sowie Schulleitungen der Primar- und Sekundarstufe. Es zeigen sich dabei die Bedingungen gelingender Teilhabe, aber auch ihre beobachtbaren Grenzen. Maßgeblich scheint die Haltungsebene der Lehrkräfte zu sein sowie die Praxis des Umgangs mit der Frage nach der letztlichen Verantwortung für das Krankheitsmanagement.

Die Differenz(re)produktion im Unterricht mit inklusivem Anspruch bildet das Erkenntnisinteresse von Miklas Schulz und Marian Laubner. Aus einer normalismustheoretischen Perspektive wird förderdiagnostischen Ausweitungen und Tendenzen zur entgrenzten Flexibilisierung im schulischen Behinderungsdiskurs nachgegangen. Im Rahmen der Lehramtsausbildung werden Studierende von Anfang an in professionsbezogene Wissensordnungen einbezogen und beginnen, sich im Rahmen derselben zu orientieren und zu positionieren. Lernprozesse sind dabei stets auch mit der Reproduktion ungleichheitsrelevanter Aspekte verbunden. Die Autoren verweisen auf ein zu beobachtendes komplexes Zusammenspiel von schulischen Ordnungsprinzipien, standardisierten Leistungsanforderungen und -bemessungen sowie differenzverstärkend wirkender (sonder-)pädagogischer Adressierungen.

Das Thema der differenztheoretisch informierten Unterrichtspraxis weiterverfolgt wird von Andrea Kehrer. Die Studie nimmt in den Blick, wie Lehrkräfte an inklusionsorientierten Grundschulen Differenz von Schüler*innen wahrnehmen. Der Beitrag zielt auf Schlussfolgerungen für die weitere Professionalisierung einer handlungspraktisch wirksamen inklusionsorientierten Kooperation von Lehrkräften. Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass Zusammenarbeit in inklusionsorientierter Absicht von Lehrkräften durchaus gewünscht und geschätzt wird. Eine strukturierte und professionelle Organisation der Zusammenarbeit ist jedoch keine Selbstverständlichkeit, sondert erfordert eine gezielte Professionalisierung unter Berücksichtigung von Heterogenität, die schon in der Lehramtsausbildung ihren Anfang nehmen sollte.

Im Rahmen einer Fallstudie untersuchen Julia Kadel*, Florian Cristóbal Klenk*, Katja Adl-Amini, Julia Gasterstädt und Anna Kistner Feststellungsverfahren sonderpädagogischen Förderbedarfs im Schwerpunkt Lernen als Subjektivierungsfaktor der Grundschule. Die Basis bilden qualitative Interviews, die in Anlehnung an die Grounded Theory und unter Berücksichtigung poststrukturalistischer Subjekttheorien ausgewertet werden. Die Fallstudie zeigt, wie mit der Fokussierung auf sonderpädagogischen Förderbedarf der Preis einer ableistischen Differenzsetzung als deviantes Subjekt des Lernens verbunden ist. Diese Mechanismen Differenzsetzungen haben ihre Auswirkungen auf defizitäre Selbstbilder und entfalten ambivalente Wirkungen - diagnostizierte Lernschwierigkeiten werden als eigene Defizite erlebt und das Verfahren wird zugleich als Form der Hilfe gedeutet, die jedoch die vergleichenden Leistungsnormen nicht hinterfragt. So schwankt am Ende die Verantwortung für den eigenen Lernerfolg zwischen Selbst- und Fremdzuschreibungen.

Jörg Mußmann beleuchtet die Rolle von Humor im Kontext schulischer und gesellschaftlicher Inklusion. Ausgehend von einer differenzierten Begriffsbestimmung von Humor, Ironie, Sarkasmus und Zynismus werden deren kommunikative und soziale Wirkungen analysiert. Der Text legt nahe, dass Humor sowohl als inklusionsförderndes Mittel dienen als auch zur Ausgrenzung beitragen kann – eine Ambivalenz, die erfordert, pädagogische Situationen als Machtverhältnisse zu deuten. Auf Basis einer hermeneutisch-analytischen Methodik und eines interdisziplinären Theoriezugangs wird diskutiert, wie humorvolles Sprachhandeln beziehungsstärkend, bildungswirksam und inklusiv gestaltet werden kann. Besonderes Augenmerk gilt der Sprachpraxis von Lehrkräften und der Funktion von Humor als Ausdruck pädagogischer Haltung.

Die beiden abschließenden Beiträge verlassen den schulischen Handlungskontext im engeren Sinne. Maximilian Schöner und Silke Trumpa betrachten das berufliche Übergangssystem und werfen einen analytischen Blick auf die Bedingungen didaktischer Diagnostik. Didaktische Diagnostik wird hierbei verstanden als Erkenntnistätigkeit des alltäglichen Lehrer*innenhandelns im Unterricht. Die inhaltsanalytischen Auswertungen zeigen, dass sich die Bedingungen nicht auf die Handlungsebene des Unterrichts begrenzen, sondern dass auch Bedingungen der Meso- und Makroebene des Bildungssystems einbezogen werden müssen. Es wird vorgeschlagen, didaktische Diagnostik als Thema der (inklusionsorientierten) Schulentwicklung zu betrachten. Hierzu werden Überlegungen entwickelt, mit denen sich Reflexions- und Entwicklungsprozesse für die Etablierung didaktischer Diagnostik anstoßen lassen, die auch eine eine Entlastungsfunktion einnehmen kann. Die Rolle von Peer-Projekten in sozialen und medizinischen Diensten untersuchen Florian Ohnmacht, Michael Rasell und David Furtschegger. Sie können als Baustein zur Demokratisierung dieser Dienste dienen. In Befragungen von Nutzer:innen wurden Peer-Formate bislang überwiegend positiv bewertet. Jedoch fehlt es an Forschung, die die Perspektive von Erfahrungsexpert:innen auf Peer-Arbeit untersucht. Die vorliegende Studie zu Partizipation in sozialen Diensten wirkt dem entgegen. Es zeigte sich, dass die befragten Erfahrungsexpert:innen umfangreichere Vorstellungen von Peer-Arbeit haben, die mit Forderungen nach der Demokratisierung sozialer und medizinischer Dienste verbunden sind. Die Interviewteilnehmer:innen betrachteten Peer-Arbeit als einen Baustein zur Demokratisierung sozialer Dienste und des sozialen Sektors und identifizierten dabei drei Dimensionen der Demokratisierung durch Peer-Arbeit: Peer-Arbeit wurde das Potenzial zugeschrieben, den Zugang zu sozialen Diensten zu verbessern, zu einer Demokratisierung des Wissens beizutragen und durch „Peer-Ownership“ Machtgefälle abzubauen.

Carmen Dorrance und Clemens Dannenbeck wünschen i. A. des gesamten Redaktionsteams eine informative, anregende und interessante Lektüre.

Veröffentlicht: 27.06.2025