4-2023

Partizipationsprozesse in Hochschulprojekten (im Kontext kultureller Bildung) – Zeitschrift für Inklusion 4/2023

Liebe Leser*innen von Inklusion-Online,
dieses Themenheft nimmt sich die Überlegung zum Ausgangspunkt, wie Studienfächer und Hochschulstrukturen gestaltet sein müssen, damit inklusive Bildung zum gelebten Gegenstand von Pädagogik-Studiengängen (Lehrer*innenbildung ebenso wie außerschulische Pädagogik) wird. Der Blick in die aktuelle Bildungslandschaft zeigt, dass es eine Reihe von Projekten und Erfahrungen in Hochschulprojekten gibt, die im Kern die Zusammenarbeit von Personen mit und ohne Behinderungserfahrung und damit die Frage nach der Gestaltung von Partizipationsräumen in Hochschulen ins Zentrum inklusionsorientierter Bildung rücken. Einen Teil dieser Projekte wollen wir in dieser Ausgabe versammeln und hinsichtlich der in ihren Kontexten stattfindenden Partizipationsprozesse beleuchten.
Die Heterogenität von Lerngruppen (mit und ohne Hochschulzugangsberechtigung, Heterogenität von Sprach- und Kulturräumen, Heterogenität von Bildungs- und Kommunikationserfahrungen, Heterogenität von beruflicher bzw. professionsbezogener Identität, Heterogenität von biographischen Erfahrungen usw.) in der Hochschullehre zu erhöhen, erscheint mit Blick auf die Zielsetzung von Inklusion notwendig und unhintergehbar, bedarf aber systematischer Reflexion und konzeptioneller Weiterentwicklung. Die Beiträge in diesem Heft blicken vor allem auf Projekte, in denen Menschen mit und ohne zugeschriebene Lernschwierigkeiten/so genannte geistige Behinderung zusammenkommen. Dennoch zeigt sich, dass die Frage der Partizipation sich häufig nicht an der Differenzlinie „Lernschwierigkeit“ ausmachen lässt, sondern Teilhabe und Ausschluss oftmals über andere Differenzierungen (z.B. Sprache, Bildungserfahrung, Alter) hervorgebracht werden. Es wäre zu überprüfen, ob dies in anderen Settings gemeinsamen Lernens (und Forschens) in ähnlicher Weise zu beobachten ist.
Deutlich wird in den Beiträgen auch, dass Partizipation und Teilhabe sich nicht nur auf strukturelle und gesellschaftliche Bedingungen, wie z.B. Barrierefreiheit von Gebäuden oder Beteiligung an gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen (Rambausek, 2017) beziehen, sondern auf der Ebene der Interaktion wirksam werden (Antaki et al., 2008; Dobslaw & Pfab, 2015). Dadurch wird ein mikroanalytischer Blick auf Interaktionssituationen notwendig, in denen Partizipationsmöglichkeiten (oder auch Ausschluss) entstehen können. Partizipation wird so nicht als statische Einheit, sondern als Kontinuum (Pfister et al., 2018) analysierbar.
Während ein solcher mikroanalytischer Blick auf Praktiken der Partizipation in schulischen Kontexten in den letzten Jahren verstärkt beforscht wird (u.a. Rabenstein und Reh, 2013; Merl, 2019; Lindmeier und Ehrenberg, 2020; Sturm, 2021), bildet die Auseinandersetzung mit Interaktionssituationen in heterogenen Gruppen in der Hochschullehre weiterhin ein Desiderat. Das Heft 4-2019 der Inklusion Online richtete den Blick insbesondere auf Hochschulstrukturen und die Studiensituation von Studierenden mit Behinderung und chronischer Erkrankung. Mit dieser Ausgabe möchten wir den Fokus auf Partizipationsprozesse in Hochschulprojekten erweitern.
Das vorliegende Heft versammelt Beiträge aus der Hochschullehre und partizipativen Forschung an der Schnittstelle zu inklusionsorientierter, kultureller Bildung. Kulturelle Bildung stellt einen Bildungsgegenstand dar, dem einerseits immer wieder eine besondere „Inklusionstauglichkeit“ unterstellt wird, der aber zugleich eine eigentümliche Leerstelle darstellt, wenn es darum geht, diese auch fachdidaktisch zu begründen (siehe Heft 2-2023) oder auch die Wirkungsmechanismen zu untersuchen, die in gemeinsamen Lernprozessen inklusiver kultureller Bildung Teilhabe ermöglichen oder behindern. Potentiale und Herausforderungen inklusionsorientierter kultureller Bildung in der Hochschullehre von Pädagogik-Studiengängen bleiben bislang weitgehend unbeleuchtet (Gerland und Niediek 2019).
Die in den Beiträgen des Heftes untersuchten Begegnungen von Lehrenden und Lernenden mit Ausdruckformen der Musik, der Literatur, der bildenden Kunst oder dem Schauspiel werfen die Frage auf, inwiefern und unter welchen Bedingungen Gegenstände der kulturellen Bildung geeignet sein können, gemeinsame Lernprozesse von Menschen mit und ohne Behinderungserfahrung (Henning, Sauter und Witte, 2019) zu initiieren. Im Zentrum der Beiträge steht also ein analytisch-reflexiver Blick auf Praktiken und Prozesse der Partizipation sowie Ausschlussprozessen, weniger die Formulierung normativer Ansprüche.
Eine lediglich punktuelle Öffnung von Hochschulen in Form singulärer partizipativer Lehr- und Forschungsprojekte stellt allerdings eher einen Anfangspunkt, keinesfalls einen Zielpunkt für Inklusion dar. Daher stellt sich auch die Frage nach Konzepten für Strukturentwicklung in Richtung einer inklusiven Hochschule.
Schließlich stellt sich auch die Frage nach einer theoriegeleiteten Reflexion von ableistischen Grundannahmen in der inklusiven wie auch kulturellen Bildung, um über die Gegenwart hinaus reichende Ideen für die Weiterentwicklung in der Zusammenarbeit von Kultureinrichtungen und Hochschulen gewinnen zu können.
Mit unterschiedlichen Zugängen gehen Beiträge also verschiedenen Dimensionen einer gelebten Praxis in Hochschulprojekten nach, in denen gemeinsame Bildungsprozesse von Menschen mit und ohne Behinderungserfahrung sichtbar werden. Dabei stehen in einigen Beiträgen die Erfahrungen von angehenden Lehrkräften und Pädagog*innen im Vordergrund, denn sie sind Promotor*innen einer künftigen inklusiven Bildungslandschaft. Genauso zentral sind allerdings auch die Erfahrungen von Personen, die erst durch die jeweiligen Projekte einen Zugang zur Hochschule gefunden haben. Sie kommen in unterschiedlicher Weise, direkt oder indirekt in den Beiträgen zu Wort – hier wird viel Gemeinsamkeit sichtbar, aber auch differente Perspektiven werden so zum Ausdruck gebracht. Einzelne Beiträge bilden zudem auf der sprachlichen Ebene die Suche nach Gemeinsamkeit ab. Es geht dabei um das Ringen nach einer Sprache, die allen zugänglich ist und auch von Personen ohne akademische Bildungserfahrung verstanden werden kann oder dem Anspruch ästhetischer oder künstlerischer Auseinandersetzung gerecht zu werden. Wir freuen uns sehr über einen Beitrag von Kolleg*innen aus Schweden, der daher in englischer Sprache vorliegt.
Mit den folgenden Kurzvorstellungen der Beiträge möchten wir die Leser*innen neugierig machen und zum Lesen einladen:

  • Katharina Silter und Wiebke Curdt eröffnen mit ihrem Beitrag zur „Partizipation und Interaktion in einer Partizipativen Forschungswerkstatt: Teil der Professionalisierung Studierender“ das Heft. Sie geben eine theoriegeleitete Begründung für die Notwendigkeit gemeinsamer Lernerfahrungen von Menschen mit und ohne Behinderungserfahrung in erziehungswissenschaftlichen Studiengängen. Am Beispiel eines Forschungsprojektes zu „numeralen Praktiken“ zeigen die Autor*innen auf, wie theoretische Wissensbestände, individuelle Erfahrungen und praktische Handlungsvollzüge in partizipativen Lehr-Forschungsprojekten miteinander verschränkt werden können und den Studierenden eine Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle ermöglichen. Die von den Studierenden wahrgenommenen und beschriebenen Irritationen und erforderlichen Aushandlungsprozesse im Prozess des gemeinsamen Forschens eröffnen insbesondere (aber nicht nur) den Studierenden einen Lernraum, der Professionalisierungsprozesse in Gang setzt.
  • An diese Befunde knüpft der Beitrag von Dorothee Meyer, Ole Hruschka und Alexandra Littmann an. Sie arbeiten in ihrem Beitrag „Herausforderungen und Potentiale inklusionsorientierter Theaterpraxis an Hochschulen“ heraus. In einem gemeinsamen Projekt setzen sich Teilnehmer*innen ohne Hochschulzugangsberechtigung mit Behinderungserfahrung, Studierende des Lehramts an Gymnasien und des Lehramts für Sonderpädagogik mit Fragen der Produktion von Differenz im Schauspiel auseinander. Neben der strukturell-politischen Ebene werden insbesondere dramaturgisch-ästhetische Fragen in Bezug auf Theaterarbeit mit (nicht) behinderten Akteur*innen mit der Gruppe bearbeitet. Die gemeinsame Auseinandersetzung mit verschiedenen Werken und Darsteller*innen wird im Laufe des Semesters zu einer eigenen künstlerischen Aufführung entwickelt. Die Erfahrungen der Beteiligten in dem Projekt führen die Autor*innen schließlich zu ersten Überlegungen für Handlungsempfehlungen zusammen, da sich die positive Entwicklung in der Gruppe nicht als „Selbstläufer“ darstellt, sondern wesentlich von der Rolle der Spielleitung geprägt zu sein scheint,  die den Probenprozess steuert und die gemeinsame Bearbeitung szenischer Darstellungsaufgaben und -ziele moderiert. Für inklusionsorientierte Hochschulprojekte im Feld kultureller Bildung geben sie damit wichtige Impulse.
  • Juliane Gerland widmet sich in ihrem Beitrag dem „Improvisieren als Gegenstand inklusionsorientierter Hochschullehre in Kontexten musikalischer Bildung“ und zugleich als produktive Reaktion auf das Erleben von Verschiedenheit in heterogenen Lerngruppen. Sie fragt, ob inklusionsorientierte musikalische Bildung automatisch auch als partizipativ gelten kann. Sie stellt ein  Hochschulprojekt mit aus der Ukraine geflüchteten Personen mit zugeschriebenen Lernschwierigkeiten und Studierenden der Sozialen Arbeit und der Pädagogik der Kindheit vor, in dem das gemeinsame musikalische Improvisieren im Zentrum steht. Die Verschiedenheit der Bildungserfahrungen, unterschiedliche kommunikative Kompetenzen und Herkunftssprachen, unterschiedliche Vorerfahrungen mit Musik prägen dabei die Zusammenarbeit. Eine gemeinsame kommunikative Ebene zu finden, die allen Teilnehmenden eine aktive Beteiligung ermöglicht, wird zur zentralen Herausforderung aber auch zu einem kreativen Möglichkeitsraum: Improvisation kann ein irrelevant setzen von Differenz in der Situation ermöglichen. Dennoch bleibt das Umgehen müssen mit Ungewissheit ein zentrales Fazit des Beitrags. Ohne verbale Kontextualisierung bleiben alle Annahmen über die gelungene Partizipation der Teilnehmenden aus der Ukraine vorläufig und tendenziell hegemonial. Gemeinsames Musizieren ist keine hinreichende inklusive Bildung, sondern muss ergänzt werden um Bildungsangebote, die Personen in ihrer sprachlichen Ausdrucksfähigkeit stärkt, damit Partizipation im umfassenden Sinn möglich wird.
  • Katrin Kreuznacht, Andreas Finken, Heike Österreich und Anna-Lena Vetter diskutieren in ihrem Beitrag die Zusammenarbeit in einer gemeinsamen Literatur-Interpretationsgruppe. Sie fragen sich „Wie interpretieren wir autobiographische Texte partizipativ? Wie reflektieren wir partizipative Forschung?“ Dazu gibt die Autor*innengruppe zunächst einen Einblick in die Methode des Close and Wide Reading, mit dem sich die Gruppe der gemeinsamen Analyse von vier autobiographischen Romanen von Personen mit Behinderungserfahrung im Rahmen eines partizipativen Forschungsprozesses gewidmet hat.  Mit Hilfe der von Mandy Hauser entwickelten Qualitätskriterien für inklusive Forschung reflektiert die Gruppe anschließend den gemeinsamen Arbeitsprozess. Es zeigen sich gemeinsame und differente Perspektiven der Forscher*innen mit und ohne Behinderungserfahrung, sowie Forscher*innen mit und ohne Studienabschluss auf die Zusammenarbeit, die sich letztlich als Bildungsprozess aller Beteiligten rekonstruieren lässt. Der Beitrag schließt mit zusammenführenden Überlegungen hinsichtlich forschungsreflexiver Prozesse in inklusiven Bildungskontexten.
  • Den Blick auf eine inklusionsorientierte Lehrer*innenbildung richten wiederum Teresa Sansour, Susanne Bauernschmitt und Linda Streubel. Dazu nehmen die Autorinnen „Rekonstruktive Analysen zu Teilhabeprozessen innerhalb eines inklusiven künstlerischen Projektseminars“ vor, indem sie die Reflexionsberichte von Studierenden vertieft analysieren und dabei sprachliche, inhaltliche und gestalterische Aspekte in den Blick nehmen. Studierende der Sonderpädagogik haben sich gemeinsam mit Menschen mit zugeschriebenen Lernschwierigkeiten in künstlerischen Auseinandersetzungsprozessen mit unterschiedlichen Materialien und Techniken das Themenfeld „neben der Spur“ künstlerisch erkundet. Im Zentrum des Beitrags steht nun der reflektierende Umgang der Studierenden mit den aufgeworfenen Irritationen, Spannungsfeldern und Momenten der Verunsicherung. Die Autor*innen machen diese Reflexionen zum Gegenstand professionstheoretischer Überlegungen, die in einer inklusionsorientierten Lehrer*innenbildung eine hohe Relevanz hat.
  • Sara Schwienbacher, Yonit Ben-Yehuda und Rona Müller berichten in ihrem Beitrag „Auf dem Weg zur inklusiven Hochschule“ gemeinsam mit Studierenden von dem Entwicklungsprozess der Hochschule für Künste im Sozialen in Ottersberg zu einer inklusiven Hochschule. Die Hochschule ermöglicht es Personen mit zugeschriebenen Lernschwierigkeiten, über den Nachweis einer „überragende künstlerische Befähigung“ auch ohne Hochschulzulassung ein reguläres Studium an der Hochschule zu absolvieren. Welche konzeptionellen und strukturellen Veränderungen damit verbunden sind und welche Bedarfe an Veränderung der Hochschullehre insgesamt mit dem Programm einher gehen, wird in dem Beitrag anschaulich beschrieben. Den Kern des Beitrags stellt das Konzept der Studienassistenz dar, die an der HKS entwickelt wurde, um Nachteile der Studierenden mit besonderer Befähigung auszugleichen, die sie aufgrund ihrer Bildungsbenachteiligung im wissenschaftlichen Teil des Studiums benachteiligen. In dem Beitrag kommen sowohl Studierende mit Assistenz wie auch ihre studierenden Assistent*innen in einem Erfahrungsaustausch zu Wort, der gemeinsame Erfahrungen, aber auch die Unterschiede in den Herausforderungen eines gemeinsamen Studiums sichtbar werden lässt.
  • Mit dem englischsprachigen Beitrag „Participation as mix(t)able. On being human being in contemporary times“ von Sangeeta Bagga-Gupta und Petra Weckström schließt sich der Reigen dieses Heftes und kommt quasi wieder zum Ausgangspunkt zurück, indem sich die Autor*innen die Frage stellen, was Voraussetzungen für die Teilhabe aller an Bildung, Kultur und Gesellschaft sind. Ausgehend von Material des Theaterprojekts DoT (Delaktighet och Teater; Participation and Theatre) und des Think Tanks DoIT (Delaktighet och Inkluderings tankesmedja; Participation and Inclusionary think tank) setzen sie sich dazu mit grundlegenden (theoretischen) Fragen des Menschseins in demokratisch-inklusiven Gesellschaften auseinander. Im Sinne eines Möglichkeitsdenkens beleuchten sie dabei Partizipation als ‚dynamisches Mensch sein‘. Bagga-Gupta und Weckström arbeiten kreativ und ‚outside the box‘, was sich als ein spannendes Wechselspiel von Gedanken, Erfahrungen und theoretischen Reflexionen liest. So sind auch wir als Leser*innen des Beitrags gefordert, uns an diesem Prozess des Möglichkeitsdenkens zu beteiligen.

 

Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre!

Prof. Dr. Imke Niediek, Katrin Kreuznacht, Arne Schindler

Veröffentlicht: 20.01.2024