3-2022

Zur politischen Dimension der Inklusionsforschung

Ob in Artikeln oder auf Konferenzen – regelmäßig und mit einer gewissen Selbstverständlichkeit werden im Kontext der Inklusionsforschung Forderungen oder Mahnungen einer (Re-)Politisierung derselben vorgetragen. Doch was implizieren diese Forderungen? Von wo aus erklärt sich das hiermit verbundene politisches Selbstverständnis als Wissenschaftler:in? Welche Möglichkeiten, Herausforderungen oder auch Widersprüche gehen mit entsprechenden Positionierungen einher? Zu selten werden diese Fragen im inklusionspädagogischen Diskurs wissenschaftlich bearbeitet. Wir freuen uns deshalb sehr darüber, dass im Rahmen dieses Themenhefts die politische Dimension der Inklusionsforschung in insgesamt sieben Beiträgen verhandelt werden kann. Wir bedanken uns insbesondere bei den Autor:innen der Beiträge, die sich auf einen mehrstufigen diskursiven – und damit aufwendigen – Reviewprozess eingelassen haben (s. u.), sowie bei der Redaktion der Zeitschrift für Inklusion-online, die der von uns angestrebten Debatte hier einen Raum geben. Außerdem danken wir Prof.in Dr.in Kirsten Puhr, sowie Dagmar Günther für ihre außerordentliche Unterstützung des Projekts. Im Rahmen der Erstellung des Special Issues fand eine öffentliche Podiumsdiskussion zum Thema statt. Wir bedanken uns bei den drei Redner:innen Dr.in Mai-Anh Boger, Prof. Dr. Oliver Flügel-Martinsen und Prof.in Dr.in Sabine Krause sowie beim Moderator HS-Prof. Dr. Tobias Buchner. Außerdem möchten wir dem Forschungsausschuss der Philosophischen Fakultät III der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg für die Bereitstellung von Hilfskraftmitteln für die Durchführung der Veranstaltung danken.

Darstellung des Reviewverfahrens:

Dem Gegenstand der Ausgabe angemessen, strebten wir von Beginn an ein diskursiv ausgerichtetes Reviewverfahren an, das insbesondere auf der gemeinsamen Diskussion aller beteiligten Autor:innen basieren sollte. Da dies von dem für die Zeitschrift üblichen Reviewverfahren abweicht, stellen wir das Vorgehen im Folgenden kurz dar. Zunächst geplant war ein Verfahren aus vier Bausteinen: einem Auftaktworkshop, einer öffentlichen Podiumsveranstaltung zum Thema, einem diskursiven Review in Kleingruppen sowie einer Rückmeldung durch die Herausgeber:innen. Die Eckpunkte dieses Verfahrens wurden im Call for Papers veröffentlicht, sodass es allen (potenziellen) Autor:innen bereits bei Einreichung der Beiträge bekannt war. Zugleich wurde das Verfahren im Laufe des Prozesses an die Bedürfnisse aller Beteiligten angepasst.

Nach der Auswahl aus den eingereichten Beiträgen stand zu Beginn des gemeinsamen Bearbeitungsprozesses ein Auftaktworkshop. Dieser diente dem Kennenlernen der Autor:innen und deren Ideen für ihren Artikel, der Vorstellung des Review-Prozesses und der Bildung von drei Reviewgruppen. Hierbei ergab sich die thematische Dreiteilung von “Politik und Politisches als Gegenstände von Forschungen zu Inklusion”, “Verhältnisbestimmungen zwischen Politik und Pädagogischem” und “Anfragen an die Politizität von Inklusionsforschung”. Diese Schwerpunkte ermöglichten die Schärfung differenter Positionierungen in Bezug auf die aufgeworfene Frage nach der politischen Dimension der Inklusionsforschung, weshalb sie sich auch in der nun vorliegenden Ausgabe abbilden.

Die auf den Auftaktworkshop folgende Podiumsdiskussion “Forschungen zu Inklusion – Zwischen Wissenschaft Politik und Pädagogik – Anfragen an ein kompliziertes Verhältnis” stellt eine weitere zentrale Komponente des Reviewprozesses dar, insofern sie der Autor:innengruppe durch einen externen Input eine weitere inhaltliche Auseinandersetzung mit den Fragen der Ausgabe ermöglichte. Die Veranstaltung fand am 7. Juni 2021 statt. Dr.in Mai-Anh Boger, Prof. Dr. Oliver Flügel-Martinsen und Prof.in Dr.in Sabine Krause verhandelten hier theoretische Einsätze und Diskussionslinien sowohl für die Beitragenden des Special Issues wie auch für Wissenschaftler:innen und fachlich Interessierte. Im Anschluss daran war ein informeller Austausch und eine weitere (fachliche) Begegnung der Beitragenden möglich.

Nach diesen inhaltlichen Auftakten erstellten die Autor:innen ihre ersten Manuskripte, die gemeinsam in den gebildeten Reviewgruppen online diskutiert wurden. An diesen Treffen nahmen die Herausgeber:innen ebenfalls teil. Zusätzlich zu diesem diskursiven Gruppenreview entschieden sich die Autor:innen bereits beim Auftaktworkshop dazu, dass zu jedem Artikel noch ein ausführliches schriftliches Feedback durch eine zufällig zugelosten Autor:in des Special Issues erfolgen sollte. Diese beiden Rückmeldungen flossen daraufhin in die Überarbeitung der Artikel ein.

Im Zuge des abschließenden Reviews durch die Herausgeber:innen blieb es leider nicht aus, dass für einzelne Beiträge umfangreichere Überarbeitungen erbeten oder diese gar abgelehnt werden mussten. Hier wurde dann auch ein Rollenkonflikt in Hinblick auf die Herausgeber:innen deutlich, der sich durch den gesamten Prozess zog. War es ein zentrales Anliegen dieses Prozesses, einen kollegialen, diskursiven Austausch zur Frage der politischen Dimension der Inklusionsforschung bereits vor der Veröffentlichung anzuregen und mitzugestalten, blieb am Ende dennoch die Notwendigkeit der finalen Bewertung der Beiträge in Hinblick auf das Erscheinen in der Zeitschrift erhalten. Da die hiermit einhergehenden Rollen und Funktionen im Unterschied zu einem klassischen Reviewprozess nicht formal geregelt und voneinander getrennt sind, erfordert dies im Rückblick einen sensibleren und transparenteren Umgang mit den Rollen und Erwartungen, um Missverständnissen und Enttäuschungen entgegenzuwirken.

Insgesamt ermöglichte dieses Verfahren einen intensiven inhaltlichen Austausch zwischen den Autor:innen, den Herausgeber:innen und der wissenschaftlichen Community, der sich u. E. nicht nur in der Qualität der einzelnen Beiträge widerspiegelt, sondern auch einen wichtigen Beitrag zur Selbstverständigung innerhalb der Inklusionsforschung leisten konnte. Zugleich zeigten sich hier gerade aufgrund der engen Zusammenarbeit der Autor:innen sowie der Herausgeber:innen untereinander in besonderer Weise die mitunter problematischen Machtverhältnisse, mit denen es in der wissenschaftlichen Publikationspraxis umzugehen gilt. Dies macht nach unserer Auffassung Mut, weiter mit Formen der wissenschaftlichen Qualitätssicherung zu experimentieren.

Kurzbeschreibung der Beiträge:

Ausgehend von der Vielstimmigkeit erziehungswissenschaftlicher Forschungen zu Inklusion und vor dem Hintergrund wiederkehrender Forderungen einer (Re-)Politisierung der Diskussionen um Inklusion, öffnen Jens Geldner-Belli, Gertraud Kremsner und Mira Brummer im einleitenden Beitrag einen Raum, der differente Positionierungen im Forschungsfeld als erkenntnispolitische Einsätze lesbar macht. Unter Bezugnahme auf die Politikwissenschaft und die Politische Theorie werden hierbei unterschiedliche Begriffe von Politik und Politischem entfaltet, die sich auch in der Inklusionsforschung wiederfinden lassen. Vor dem Hintergrund dieses Überblicks über das Forschungsfeld plädieren die Autor:innen dafür, das Politische der Inklusionsforschung nicht abschließend zu bestimmen, sondern offen zu halten und sich verstärkt den Fragen zuzuwenden, die Forderungen einer (Re-)Politisierung evozieren.

Die darauffolgenden beiden Texte nehmen solche Fragen auf und diskutieren Politik und Politisches als Gegenstände von Inklusionsforschung.

Julia Wiebigke rückt in ihrem Artikel die öffentliche Diskussion um schulische Inklusion und die damit verbundenen gesellschaftlichen Wissensverhältnisse innerhalb der Massenmedien in den Fokus. Unter Rückgriff auf den Foucaultschen Konnex aus Wissen und Macht wird das Verhältnis von massenmedialer Berichterstattung und Wirklichkeitskonstruktionen charakterisiert. Damit verfolgt die Autorin einen wissenssoziologisch- und diskursanalytischen Ansatz, mit dem die Prozesse sozialer Konstruktion, Objektivation und Legitimation von Deutungs- und Handlungsstrukturen innerhalb des Diskurses rekonstruiert und die gesellschaftlichen Wirkungen dieses Prozesses analysiert werden können.

Siegfried Saerberg diskutiert in seinem Artikel ein Spannungsfeld, in dem Inklusion als Prozess betrachtet wird, der das Recht behinderter Menschen gegen die ausschließende gesellschaftliche Ordnung durchsetzen soll. Dabei stellt der Autor die Gefahr heraus, durch die Etablierung vorgeblich inklusiver Regeln und Maßnahmen neue Exklusionen zu produzieren. Der Frage nach einer politischen Dimension der Inklusion wird mit einem auto-ethnografischen Zugang begegnet, der seine theoretische Rahmung durch die sozialkonstruktivistische Perspektive und die Ergänzung der Politizität nach Jaques Rancière erfährt. Siegfried Saerberg kommt zu dem Schluss, dass die Inklusionsforschung ihrer ursprünglichen Politizität mehr Rechnung tragen sollte.

Die beiden nächsten Artikel greifen den Inklusionsbegriff und die hierum geführten Debatten auf, um nach einer möglichen Verhältnisbestimmung von Politik und Pädagogik zu fragen.

Dabei stellt Christian Timo Zenke in seinem Beitrag einen Konnex zwischen den schulbezogenen Konzepten aus der inklusiven Pädagogik und der demokratischen Bildung her, der sich auf die Grundidee beider Konzepte stützt, Schule als einen Teil der demokratisch verfassten Gesellschaft zu verstehen. Die daraus resultierenden Potenziale und Möglichkeiten für den Bereich der Inklusionsforschung und den Ansatz der “Freien Demokratischen Schule” diskutiert der Autor vor dem Hintergrund des auf John Dewey zurückgehenden Konzepts der Schule als “Gesellschaft im Kleinen“. Die Diskussion mündet in der Thematisierung einer “Marriage of Inclusive and Democratic Education” (Boban et.al., 2012), aus der Chancen einer stärkeren Verknüpfung von inklusiver und demokratischer Pädagogik herauskristallisiert werden.

Ausgehend von den Turbulenzen, die im erziehungswissenschaftlichen Feld rund um das Wort Inklusion entstanden sind, schlagen die Autoren Erich Otto Graf und Raphael Zahnd einen Ordnungsversuch vor. Dabei beziehen sie sich einerseits auf die Feldtheorie Ludwik Flecks und anderseits auf die Denkstiltheorie von Kurt Lewin. Vor dem Hintergrund der Feldtheorie wird diskutiert, warum Inklusion als politisches Konzept relativ ungefiltert im erziehungswissenschaftlichen Diskurs auftaucht, während mit Flecks Denkstilltheorie danach gefragt wird, in welchem Zusammenhang die (Ent-)Politisierung von Forschung mit Macht und Prestige der Wissenschaft steht. Unter Miteinbezug von beiden Theorien zeigen Erich Otto Graf und Raphael Zahnd zudem auf, inwiefern politische Bewegungen und wissenschaftliche Akteur:innen die Umsetzung von Inklusion auch erschweren können. Abschließend eröffnen die Autoren eine Möglichkeit, wie den Turbulenzen rund um Inklusion begegnet werden könnte.

Die drei Beiträge, welche die Ausgabe schließen, ringen um mögliche Positionierungen von Inklusionsforschung als politischer Forschung.

Unter der Annahme eines relationalen Verhältnisses von Inklusion und Exklusion widmet sich der Beitrag von Mandy Hauser, Saskia Schuppener & Hannah van Ledden den Bedingungen an Hochschulen, unter denen wissenschaftliche Erkenntnisse zum Themenfeld Inklusion hervorgebracht werden. Dabei stellen die Autorinnen die Exklusivität des tertiären Bildungssektors sowie die damit verbundenen Konsequenzen und Widersprüche heraus. Aus wissenschaftstheoretischer und -soziologischer Perspektive formulieren sie Ansprüche, die an die Politizität der Inklusionsforschung gestellt werden (müssen).

Mirko Moll stellt in seinem Beitrag erkenntnispolitische Fragen der Versammlung von Dingen, Sachen und Objekten, die für die Inklusionsforschung fruchtbar gemacht werden können. Dafür unterbreitet der Autor den Vorschlag, das Politische in der Inklusionsforschung in der Beziehung der Nähe anstatt der Distanz zu den Gegenständen zu suchen. Mit dem theoretischen Einsatz Bruno Latours wird eine relationale Vorstellung des Sozialen erarbeitet. Dabei steht die Frage, wer sich in Forschung auf welche Weise (warum) um was versammelt im Mittelpunkt. Die Auseinandersetzung damit mündet im vom Autor entwickelten Konzept von Forschung als Versammlung, das Dinge und Objekte als Sachen – Sachen von Belang und als Sachen der Sorge – versteht und analysiert.

Zuletzt skizziert Oliver Flügel-Martinsen in seinem Beitrag die Idee einer politischen Theorie, die Politik, Wissenschaft und Gesellschaft einer kritischen Befragung unterzieht und dabei besonderes Augenmerk auf Ausschließungsverhältnisse legt. Diese kritische Befragung leistet einen wichtigen Beitrag zur interdisziplinären Diskussion. Der Autor expliziert, wie sich entlang der in der jüngeren Politischen Theorie diskutierten Unterscheidung von Politik und Politischem eine demokratietheoretisch instruktive Wissenschafts- und Gesellschaftskritik formulieren lässt.

Wir wünschen viel Freude beim Lesen der heterogenen Einsätze zur Frage der politischen Dimension der Inklusionsforschung und hoffen, dass diese Ausgabe wichtige Impulse zu einer Debatte beitragen kann, die sich noch lange nicht erledigt hat und immer wieder aufs Neue zu führen ist.

Mira Brummer, Jens Geldner-Belli & Gertraud Kremsner

Veröffentlicht: 28.08.2022