3-2020

Liebe Leser*innen von Inklusion-Online,
hiermit dürfen wir Ihnen die 3. Ausgabe im Jahr 2020 präsentieren. Sie umfasst ein thematisch breites Spektrum von forschungsorientierten Beiträgen zu Aspekten inklusionsorientierter Entwicklungen in unterschiedlichen Lebensbereichen und lassen dabei u.a. auf die Bedeutung intersektionaler Blickerweiterungen schließen. In den Fokus genommen werden neben pädagogisch-didaktischen Problemzusammenhängen auch Fragen von bildungspolitischer Tragweite, Fragen der politischen Bildung und spezifischer, in steter Veränderung begriffener empirischer Rahmenbedingungen, wie etwa die Entwicklung im Bereich Fluchtmigration oder die Auswirkungen der Pandemie.

Corona hat über das Frühjahr und Sommer des Jahres 2020 in Schulen einen Niederschlag gefunden, der in vielfältiger Weise die Voraussetzungen, Bedingungen, aber auch fachlichen Debatten um Inklusion tangiert. Was sich durch Schulschließungen und erzwungene Umstellung auf digitalisierte Didaktik und Unterrichtsgestaltung an veränderten Grundbedingungen zeigt, entfaltet ambivalente Reaktionen und Zukunftserwartungen auf Seiten aller Beteiligten. Edvina Beši? und Andrea Holzinger thematisieren den coronabedingten durch Fernunterrichtspraxis gekennzeichneten Digitalisierungsschub in 2020 an österreichischen Schulen in der Steiermark. Grundlage der Untersuchung sind Befragungsergebnisse einer Online-Studie unter Lehrkräften mit digitaler Fernunterrichtserfahrung in „Inklusionsklassen der Volksschule“. Die nicht als repräsentativ einzustufenden Befunde weisen jedoch darauf hin, dass digitalisierter Fernunterricht positive wie negative Auswirkungen auf Inklusionsentwicklungen haben kann. Eine wesentliche Voraussetzung, um diesbezügliche Potenziale nutzen zu können, liegt in einer breit geteilten Inklusionsmotivation aller Akteure, insbesondere auch in Bezug auf eine konstruktive Zusammenarbeit zwischen Schule und Eltern.

Christina Bastges-Lienshöft, Barbara Maria Schmidt, Enjo Beckmann und Alfred Schabmann befassen sich mit einer Frage, die sich in Bildungskontexten, in denen nach wie vor bildungspolitisch ein schulisches Parallelsystem gepflegt und bisweilen auch ausgebaut wird, umso dringlicher stellt. Es geht um die Mechanismen, die dazu führen, dass Schüler*innen mit zugeschriebenem sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf immer noch aus allgemeinen Schulen in segegrierte Bildungsbereiche wechseln. Auf Basis von 38 leitfadengestützten Interviews mit Eltern von sog. „Drop-Outs“, Elternvertretungen und Förderschulleitungen sowie Lehrkräften werden die Gründe für den Schulwechsel in Förderschulen mit unterschiedlichen Förderschwerpunkten in NRW (Rheinland) analysiert. Die Ergebnisse verweisen auf die unzureichenden Ressourcen an allgemeinen Schulen, die einer gelingenden Beschulung entgegenstehen. Darüber hinaus lassen sich aber ebenso strukturelle Probleme sowie nach wie vor auch integrationsskeptische Einstellungen ausmachen, die den Boden dafür bereiten, in einem Systemwechsel die Lösung zu sehen. Die Autor*innen kommen zu der inklusionspolitisch aufschlussreichen Folgerung, dass Schulwechsel außer der Reihe nicht nur Systemwechsel bedeuten, sondern auch Ausdruck von Frustration sind und deutliche Ausgrenzungsrisiken nach sich ziehen.

Raphael Koßmann geht es um die Skizzierung einer empirischen Unterrichtsforschung für inklusionsorientierte Didaktik in ihrer praktischen Anwendung. Im Mittelpunkt des Forschungsinteresses muss verstärkt der Zusammenhang zwischen inklusionsorientiert fundierter Lehre und den intersubjektiven Austauschprozessen zwischen Lehrkräften und Schüler*innen stehen. Was passiert im Rahmen dieser Austauschprozesse praktisch und haltungsmäßig – und welche Auswirkungen auf die Persönlichkeitsentwicklung zieht inklusionsorientierter Unterricht durch didaktisches Handeln in dieser Hinsicht nach sich? Eine prominente Funktion erhalten dabei die wechselseitigen Adressierungen der Akteure in ihren möglicherweise sich im Unterricht auch prozesshaft verändernden Mustern. Unabhängig von einer sonderpädagogischen oder explizit inklusiven Interpretation spricht sich der Autor für eine verstärkte Hinwendung zur empirischen Untersuchung des Umgangs mit Leistungsdifferenzen in der Lehre aus, die im Sinne eines Forschungsprogramms auch zur reflexiven Evaluierung des fachlichen Handelns beitragen kann. 

Einen Blick auf politische Bildung im inklusionsorientierten Unterricht werfen Jennifer Bloise und Michael Schön. Dies wirft die Frage auf, in welchem Wechselverhältnis politische Bildung und inklusionsorientierter Unterricht stehen (können oder sollen). Dem wird am Beispiel des Sozialkundeunterrichts nachgegangen. Der Beitrag entwickelt beispielhafte methodisch-didaktische Gestaltungsmöglichkeiten, die inklusionsorientierten Unterricht in der und für die politische Bildung gelingen lassen kann. Besondere Bedeutung erhalten hier Konzepte Leichter Sprache, da die Vermittlung politischer Bildung traditionell sehr sprachzentriert erfolgt und damit in einem grundsätzlichen Spannungsverhältnis steht, insbesondere in Bezug auf Schüler*innen mit unterstellten oder diagnostizierten kognitiven Beeinträchtigungen. Letztlich erweist sich das Ziel, Inklusion und politische Bildung miteinander zu vereinen, als eine notwendige Bedingung für gelingende Erziehung zur Mündigkeit unter Berücksichtigung der Anwendung der UN-BRK im Sinne eines uneingeschränkten auch demokratisch verbürgten Rechts auf (auch politische) Teilhabe.

Selbstbestimmtes Wohnen als Konsequenz eines menschenrechtlich begründeten Rechts auf uneingeschränkte gesellschaftliche und soziale Teilhabe ist gerade für Menschen mit zugeschriebenen kognitiven Beeinträchtigungen auch über 10 Jahre nach Ratifizierung der UN-BRK noch alles andere als selbstverständlich. Eine zentrale Bedeutung beim Versuch, dies Bedingungen für selbstbestimmtes Wohnen zu verbessern, individuell angepasste Formen zu finden, die zu Selbstbestimmung ermutigen und Perspektiven aufzeigen, stellen Beratungen dar, die von Menschen mit und ohne Behinderung geleistet werden. Die Qualität der Beratung hängt dabei nicht nur von der objektiven Sachlage oder individueller Fachqualifizierung ab, sondern ist mitentscheidend bei der Frage nach den Bedingungen einer gelingenden inklusionsorientierten Praxis. Henrike Kopmann stellt eine Studie vor, in der sechs Peer-Berater*innen mit einer sogenannten geistigen Beeinträchtigung und drei als nicht behindert geltenden Berater*innen interviewt wurden. Dabei kommen nicht nur die spezifischen Herausforderungen im Zuge des Beratungsprozesses zur Sprache, sondern auch unterschiedliche subjektive Vorstellungen über die Beratungsrolle selbst. Deutlich werden die Vorteile, die Team- und Tandem-Beratungen dann spielen, wenn dabei biografisches und professionelles Erfahrungswissen in den Beratungsprozess reflexiv einfließen kann.

Annette Korntheuer untersucht am Beispiel der Entwicklung in München den Schnittpunkt Flucht (Migration) und Behinderung. Interessant ist dabei, dass hier eine in Ansätzen intersektionale Perspektive kommunale Anwendung gefunden hat. Ihr sind zum einen empirische Erkenntnisse, zum anderen auch spezifische Bedarfslagen und eine Beurteilungsgrundlage der vorhandenen Angebotslandschaft zu verdanken. Zugleich wird aufgedeckt, dass die parallelen und größtenteils voneinander unabhängigen Systeme von Behindertenhilfe und Migrationsarbeit eine wesentliche strukturelle Bedingung für multiple Exklusionsmechanismen und -prozesse darstellt. Diese können nur mit einer konsequent intersektional ausgerichteten Perspektive wirksam angegangen werden. Der Beitrag arbeitet heraus, was hier noch erforderlich wäre, um eine solche Ausrichtung der kommunalen Handlungspraxis umzusetzen.

Die folgende, dieses Jahr abschließende Ausgabe von Inklusion-Online wird die interdisziplinär und intersektional ausgerichtete Perspektive auf aktuelle Entwicklung inklusionsorientierter Forschung fortsetzen.
Eine anregende und interessante Lektüre wünschen
für das Redaktionsteam
Carmen Dorrance und Clemens Dannenbeck

 

Zukünftige Ausgaben:

Inklusion in beruflicher Bildung und Arbeitsmarkt
Abgabe für Beiträge: 4.10.2020 / Erscheinungstermin 2020 / 4

Inklusion Interdisziplinär
Abgabe für Beiträge: 15.01.2021 / Erscheinungstermin 2021 / 1

Inklusions- und Exklusionsprozesse im Kontext der Corona-Pandemie
Abgabe für Beiträge: 31.03.2021 / Erscheinungstermin 2021 / 2

 

Veröffentlicht: 27.10.2020