2-2016

Editorial zum Heftthema Schulische Inklusion im deutschsprachigen Raum I

Sehr geehrte Leserinnen und Leser,

nachdem wir uns in der vorherigen Ausgabe 1/2016 von Inklusion-Online schwerpunktmäßig mit inklusionsorientierten Entwicklungen in internationalen Kontexten auseinandergesetzt haben, beginnen wir mit dieser Ausgabe eine kleine zweiteilige Reihe, die sich dem Stand der Diskussion und Entwicklung im bundesdeutschen und im deutschsprachigen Raum befasst. Den Anfang machen in dieser Ausgabe 2/2016 kritische Sachstandsberichte aus Baden-Württemberg, Bayern, Mecklenburg-Vorpommern, Sachen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Die übrigen Bundesländer werden in der kommenden Ausgabe einer eingehenden Betrachtung unterzogen. Darüber hinaus finden Sie in dieser Ausgabe Beiträge zur Situation in Österreich und Südtirol. Wie immer wird der Schwerpunkt durch die Rubrik frei eingereichter Beiträge vervollständigt.
Den Anfang macht Peter Hudelmaier-Mätzke mit einer kritischen Betrachtung der Entwicklungen, die das neue Schulgesetz zum Schuljahr 2015/16 sowie damit zusammenhängend Reformen in der Lehrer*innenausbildung in Baden-Württemberg ausgelöst haben. Die politischen Entscheidungen schlossen dabei an Erfahrungen in ausgewählten so genannten Schwerpunktregionen an. Neben einer differenzierten Beschreibung der bildungspolitisch veranlassten Veränderungen bietet der Beitrag eine erste erfahrungsbasierte Einschätzung der getätigten Reformen, gemessen an einem theoretisch reflektierten pädagogischen Inklusionsverständnis. Gewürdigt werden etwa der Wegfall der Grundschulempfehlungen, die Einführung der Gemeinschaftsschule, der Wegfall der Sonderschulpflicht und Ansätze zu einer zieldifferenzierten Förderung als Aufgabe aller Schulen. Dennoch ist zu konstatieren, dass in Baden-Württemberg alle vorhandenen Schularten nahezu unverändert beibehalten werden und so die Reformen bislang auf halbem Wege stecken bleiben.
Eine ähnliche Situation ist für Bayern zu konstatieren. Carmen Dorrance und Clemens Dannenbeck verweisen darauf, dass sämtliche bildungspolitische Strategien in Bayern erklärtermaßen darauf abzielen, den Anspruch einer inklusiven Beschulung durch den Ausbau der  Vielfalt schulischer Angebote quasi im bestehenden vielgliedrigen System aufzuheben. Bei diesem politstrategischen Kunstgriff werden zwar durchaus vereinzelte Integrationserfolge erzielt, ein Systemwandel aber wird gleichzeitig mit Verweis auf behauptete begrenzte öffentliche Akzeptanz und nachweisbare statistische Erfolge als letztlich nicht erforderlich erachtet. So lässt sich in Bayern der Effekt feststellen, dass mehr Integration durchaus vereinbar ist mit gleichzeitig zunehmenden Segregationstendenzen. Die Autor*innen nehmen eine kritische Bewertung vor, welche die in Bayern zu beobachtenden Entwicklungen nach Maßgabe eines menschenrechtlichen Verständnisses der UN-BRK hinsichtlich zu garantierender Diskriminierungsfreiheit und uneingeschränktem Teilhaberecht als nicht zielführend einschätzt.
Katja Koch und Tanja Jungmann setzen sich mit dem Stand der Diskussion in Mecklenburg-Vorpommern auseinander. Der Reformprozess der vergangenen vier Jahre in Mecklenburg-Vorpommern umfasst die frühkindliche Bildung, die Grundschule, weiterführende Schulen, berufliche Schulen und Hochschulen. Ebenso thematisiert der Beitrag die Frage nach inklusionsorientierten Fortbildungsmaßnahmen bei Lehrkräften sowie die wissenschaftliche Begleitung der eingeleiteten Veränderungen. Einer abschließenden kritischen Betrachtung wird das Strategiepapier der Landesregierung unterzogen, das die individuelle Förderung aller Kinder ins Zentrum der Überlegungen stellt. Gleichwohl weisen die Autor*innen auf zahlreiche Kompromisse hin, die realpolitisch eingegangen wurden, etwa im Förderbereich Lernen oder bei Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten. Insgesamt ist bildungspolitisch eine unmissverständliche strategische Ausrichtung im Sinne der vollumfänglichen Anwendung der UN-BRK in Mecklenburg-Vorpommern noch nicht zu erkennen.
Eine sehr skeptische Einschätzung liegt für Sachsen vor. Christian Eichfeld und Saskia Schuppener weisen in ihrem Beitrag einleitend darauf hin, dass die Monitoring-Stelle des Deutschen Instituts für Menschenrechte das Bundesland Sachsen bereits 2014 aufgefordert hatte, seine Verweigerungshaltung zu schulischer Inklusion aufzugeben. Stattdessen verfolgt das Bundesland eine Politik der Kontinuität, die inklusionsorientierte Innovationen auf ein unumgängliches Mindestmaß reduziert sehen möchte. Inzwischen machen die Autor*innen eine Diskrepanz zwischen bildungspolitischen Strategien und der Praxis aus, die mancherorts durch ein inklusionsorientiertes Engagement getrieben, mutig voranschreitet. Resümierend ist festzuhalten, dass auf diese Weise für Sachsen bislang bestenfalls von punktuellen Integrationserfolgen gesprochen werden kann, nicht aber von einer klaren politischen Zielstrebigkeit im Sinne einer konsequenten Anwendung der UN-BRK.  „Sachsen befindet sich noch weitgehend auf der Ebene der Einzelintegration, d.h. inklusive Entwicklungen mit systematischer Prävention und hinreichender sonderpädagogischer Förderung als subsidiärer Bestandteil aller Schulen sind nach wie vor nicht zu erkennen“.
Noch mitten im Reformprozess sieht David Jahr auch den Stand der schulischen Inklusion in Sachsen-Anhalt. Der Beitrag greift den Stand gemeinsamer Unterrichtspraxis am Beispiel der Heterogenitätsdimension Behinderung auf. Auf Basis der vorhandenen Datenlage werden ausgewählte Exklusionsbeobachtungen gemacht, die als Effekte eines fortbestehenden segregierenden Schulsystems nach wie vor zum schulischen Alltag in Sachsen-Anhalt gehören. Bislang sind drei Phasen schulpolitischer Reformen seit 2001 festzustellen, die 2013 in eine Schulgesetzänderung mündeten, in der der allgemeine Bildungs- und Erziehungsauftrag um inklusive Bildungsangebote erweitert wurde. Dennoch ist das bislang Erreichte, gerade angesichts einer hinsichtlich Segregationseffekten besonders ungünstigen Ausgangssituation, als noch wenig fortgeschritten zu bewerten. Auch David Jahr macht auf die besonderen politischen Rahmenbedingungen und realpolitischen Sachzwänge aufmerksam, vor deren Hintergrund die bildungspolitischen Entscheidungen zu interpretieren sind.
Der Länderbericht von Rainer Benkmann wirft einen Blick auf die Situation in Thüringen. Hier wird festgehalten, dass Thüringen durchaus bereits vor Inkrafttreten der UN-BRK Schritte in Richtung mehr Integration im Schulwesen gegangen ist. Inwieweit sich dieser ‚Vorsprung’ als günstig für eine schnellere und konsequentere Entwicklung hin zu einem inklusionsorientierten Schulsystem erwies, wird in dem Beitrag überprüft. Auch für Thüringen gilt es, die veränderten politischen Kräfteverhältnisse zu berücksichtigen, will man den Stand der Diskussion und die Qualität der im Sinne der UN-BRK erfolgten bildungspolitischen Entscheidungen würdigen. Der Beitrag schließt mit Anmerkungen zur öffentlichen Kritik und dem Stand der öffentlichen Diskussion um Inklusion in Thüringen. Deutlich wird hier, dass das unterstellte oder tatsächliche (begrenzte) Maß öffentlicher Unterstützung für ein inklusives Schulsystem berücksichtigt werden muss, um bildungspolitischen Maßnahmen die erforderliche Akzeptanz und Durchsetzungskraft zu verleihen.
Einen Vergleichsmaßstab zum Stand der Diskussion und der Entwicklung in den Bundesländern der Bundesrepublik Deutschland liefert der Beitrag zur aktuellen Lage in Südtirol. Edith Brugger-Paggi rekonstruiert zunächst die Genese der schulischen Integrationspolitik in Italien, seit im Jahre 1977 die Integration aller Kinder mit einer Beeinträchtigung in die Regelklassen und –schulen flächendeckend gesetzlich verankert worden war. Trotz einer kontinuierlichen Weiterentwicklung in Richtung schulischer Inklusion lassen sich auch in Südtirol Widersprüche feststellen, die bis zum heutigen Tag spürbar sind. Diese beziehen sich weniger auf die gesetzlichen Rahmenbedingungen als solche, als vielmehr auf die gelebte Praxis und deren Wahrnehmung und Bewertung seitens der Öffentlichkeit. „Von Inklusion im eigentlichen Sinn können wir erst dann sprechen, wenn die Vielfalt nicht als Belastung, sondern als Bereicherung erlebt wird, wenn sie von allen als die Normalität empfunden wird, wenn die dafür notwendigen finanziellen und personellen Ressourcen als systemimmanente Grundausstattung gesehen werden und nicht als Mehrausgabe, an der man immer wieder feilen und Abstriche machen kann. Und dies macht sich insbesondere in Krisenzeiten bemerkbar.“.
Anders in Österreich. Ewald Feyerer prüft das bildungspolitisch artikulierte Bekenntnis, das „Inklusion der Weg der Zukunft“ sei. Allerdings muss er Österreich eine Politik der kleinen Schritte attestieren, die bislang nur punktuelle und begrenzte Fortschritte erahnen lassen, in Abhängigkeit von bestehenden gesetzlichen Rahmenbedingungen und länderspezifisch in unterschiedlichem Maße zur Verfügung stehenden Ressourcen. Österreich verfolgt die Strategie konzeptionell ausgewiesener ‚inklusiver Modellregionen’ auf Basis einer reformierten Lehrer*innenausbildung. Vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Entwicklungen und der bislang erfolgten realpolitischen Entscheidungen ist dabei kaum davon auszugehen, dass im Jahre 2020, das der geltende nationale Aktionsplan als Zielmarkierung nennt, in Österreich eine flächendeckende Verankerung von Inklusion im Schulsystem erreicht ist.
Caroline Schmitt legt einen frei eingereichten Beitrag vor, der professionstheoretische Überlegungen zu einem kritisch-reflexiven Inklusionsverständnis formuliert. Dabei bringt die Autorin Inklusion, Interkulturalität und Diversity in einen diskursiven Zusammenhang, mit dem Ziel, konzeptionellen Unschärfen des Inklusionsbegriffs entgegenzuwirken. Die Autorin nimmt dabei die individuelle Lebenslage der Adressat*innen auf der Basis einer intersektionalen Sichtweise von Heterogenität in den Blick. Ein inklusionsorientierter professioneller Habitus bedarf eines Verständnisses von Inklusion, das seine Adressat*innen nicht auf eine Heterogenitätsdimension verkürzt, sondern sich kritisch-reflexiv mit der eigenen Rolle bei wahrnehmungsbedingten Zuschreibungsprozessen auseinandersetzt.

Als weitere Themenschwerpunkte der folgenden Ausgaben sind geplant:

Schulische Inklusion im deutschsprachigen Raum II
Inklusion und Sport
Inklusion und Theorieentwicklung (Arbeitstitel)

Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre.

Carmen Dorrance und Clemens Dannenbeck

für die Redaktion von Inklusion-Online

Veröffentlicht: 04.09.2016